Die Dienerin schenkte ihnen Wein nach, und allmählich schwirrte Kaèls Kopf. Er saß mit seinen Eltern und Ehepaar Wood bereits seit drei Stunden an der Tafel, hatte sich durch sechs Gänge gequält und das nur mit fünf alkoholischen Getränken überstanden. Er hoffte, dass dieser unselige Abend bald enden würde, denn für einen Trophäenmann redete ihm Sir Wood entschieden zuviel.
Aber Madame Wood schien gerade das zu gefallen. Nach jedem seiner dümmlichen Kommentare erschallte ihr Lachen durch den gesamten Speisesaal und wurde von den Wappenschildern an der Wand reflektiert. Es schmerzte Kaèl nicht nur in den Ohren, es spottete auch seinem Intellekt. Aber immer, wenn es eine Gelegenheit gab, sich zurückzuziehen, begann einer der beiden eine neue Erzählung, der seine Eltern gebannt lauschten. Sie schienen einen Narren an den beiden gefressen zu haben.
So wie jetzt. Kaèl hatte sich gerade erhoben und wollte der Runde freundlich zum Abschied zunicken, da legte Madame Wood wieder los.
»Erzähle es ihnen, Schatz.« Sie legte ihre Hand auf die ihres Mannes. »Vielleicht können sie uns helfen.«
Sir Wood schien einen Moment zu zögern. Er tauschte einen angespannten Blick mit seiner Frau, dann nickte er leicht. »Es gibt da eine Geschichte, die ich nur ungern preisgebe«, begann er mit gedämpfter Stimme.
Was kommt jetzt?, dachte Kaèl entnervt. Der zwanzigste Schwenk aus seiner Jugend? Eine minutiöse Schilderung seiner erektilen Dysfunktion?
Sein Blick huschte sehnsüchtig zur Tür. Was immer es war, es interessierte ihn nicht.
»… Sie haben sicherlich alle von dem Hexenjäger gehört.«
Kaèl zuckte zusammen. Sofort setzte er sich wieder und ballte unter dem Tisch die Hände zu Fäusten.
»Ich befürchte, dass der Hexenjäger es auf mich abgesehen hat.«
»Wie kommen Sie darauf?«, rief Kaèl eine Spur zu laut. Seine Mutter warf ihm einen irritierten Blick zu.
»Weil er bereits neun meiner Kamerad*innen ermordet hat.«
Neun?, fragte sich Kaèl. Der Hexenjäger hat bislang vierzehn getötet. Neun von vierzehn, das könnte Zufall sein ... Aber es wäre ein merkwürdiger Zufall!
»Und seit einigen Wochen weiß ich, dass er Nachforschungen über mich anstellt.« Sir Wood schaute vielsagend in die Runde.
»Das ist ja furchtbar«, sagte Elìrios.
Sir Wood nickte bedeutsam. »Er tötet entgegen der landläufigen Meinung nicht wahllos, oder nur die Stärksten von uns. Er sucht Rache. An uns, den Soldat*innen der fünften Grenzkompanie.«
»Haben Sie das dem Geheimdienst der Ryunòrs mitgeteilt?«, fragte Akàri. »Sie sind für jegliche Informationen über diesen Mörder dankbar.«
»Das war meine erste Überlegung. Das Problem ist nur …« Sir Wood strich sich mit der Hand über das Kinn. »... dass ich dann Dinge offenlegen müsste, die so nicht an die Oberfläche dringen sollten, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ich verstehe«, erwiderte Akàri ohne eine Miene zu verziehen. »In vielen Punkten agiert unsere geliebte Herrscherin zu verständnisvoll, was Menschen angeht.«
»Genau.« Er lachte jovial. »Wenn man zuviel Zeit im Grenzgebiet verbracht hat, hat man so viel Leid gesehen, da tut man nur noch das, was man für richtig hält und nicht, was die Gesetze einem vorschreiben.«
»Und was haben Sie getan?«, fragte Kaèl.
Sir Wood lächelte zuckersüß. »Aber Kaèl’thas, du kannst ruhig ›du‹ zu mir sagen. Ich bin Ragnar.«
Kaèl unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. Das wäre es noch, wenn er diesen aufgeblasenen Schoßhund duzen würde!
»Was haben Sie getan?«, wiederholte er drohend leise.
Sir Wood seufzte exaltiert. »Dafür muss ich etwas ausholen. Wie ich bereits sagte, war ich Mitglied der fünften Grenzkompanie, der Elitetruppe der Armee. Unsere Missionen waren gefährlich und erforderten eine hohe Menge an Koordination. Angeführt wurden wir von keiner geringeren als Madame Throsho, die ich über alle Maßen für ihre militärischen Strategien bewunderte.«
»Wer tat das nicht«, sagte Akàri.
»Vor ein paar Jahren wurden wir damit beauftragt, die grenznahen Dörfer Whisperwoods zu beschützen, ein aufreibendes Unterfangen. Immer wieder drangen Menschen in die Dörfer, um zu plündern, und dabei ermordeten sie alle, die ihnen in die Quere kamen. In einer Nacht hatte eine Horde Menschen gleich mehrere Dörfer attackiert und die Häuser niedergebrannt. Sieben Magi kamen in den Flammen ums Leben, weitere drei wurden im Schlaf niedergestochen. Wir haben sie verfolgt, um sie für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen, aber ihre Spur verlor sich in den Bergen Dinstermors. Fast wären wir heimgekehrt, aber da leuchteten uns die violetten Lichter eines Bergklosters entgegen. Der Verdacht lag nahe, dass sie sich dort versteckten, also sind wir hinein und haben aufgeräumt.«
»Was meinen Sie damit, ›aufgeräumt‹?«, fragte Kaèl scharf.
»Kaèl’thas!«, zischte Elìrios. »Was sollen die ganzen Fragen? Lass’ unseren Gast einmal zu Atem kommen.«
»Das ist in Ordnung«, sagte Sir Wood und nahm einen Schluck Wein. Er zwinkerte Akàri zu. »Sie wissen ja, wie das ist, in der Armee. Zu wenig Schlaf, zu viele Zaubertränke, um die Nacht durchmarschieren zu können … und viel Zeit, die man aufeinander hockt … da liegen die Nerven schnell blank, und man braucht ein Ventil, um Druck abzulassen. In dem Fall war das eben das Kloster. Die Mönche wollten uns zuerst nicht einlassen, haben sich geweigert, uns bei unseren Recherchen behilflich zu sein. Sie schwiegen, wenn wir sie nach den Flüchtenden gefragt haben. Da führte eins zum andern, und wir haben unsere Mittel eingesetzt, um diesen arroganten Mönchen Manieren beizubringen.« Sein Haifischlächeln war jetzt messerscharf. »Glauben Sie mir, am Ende haben sie geredet … alle.«
Kaèl drehte sich der Magen um. Er schaute zu seinen Eltern, aber die schienen seinen Ekel nicht zu teilen. Störten sie sich nicht daran, mit diesem dauergrinsenden Folterknecht an einer Tafel zu sitzen? Auf einmal fühlte er sich ihnen ferner, als jemals zuvor.
»Ist Ihnen bewusst, dass Menschen genauso Schmerzen empfinden, wie wir?«, fragte er, und mühte sich, seine Stimme so gelassen wie möglich klingen zu lassen.
»Durchaus.« Sir Wood lachte. »Spätestens seit diesem Tag im Kloster. Was haben diese Mönchen geschrien, wenn wir unsere Zauber gewirkt haben. Und ich dachte immer, regelmäßige Mediation würde einen gelassener machen.«
Meditation?
Das kam Kaèl unheimlich bekannt vor. Hat der Hexenjäger nicht auch von einem Kloster erzählt? Wurde er von diesen Leuten etwa ... gefoltert?
Die Vorstellung bereitete ihm fast physische Schmerzen. Am liebsten wäre er diesem Widerling an die Gurgel gesprungen und hätte so lange zugedrückt, bis ihm das widerwärtige Lachen vergangen wäre.
Er krallte die Hände um die Tischdecke und zwang sich, ein paar Mal tief durchzuatmen, um den Sturm, der in ihm tobte, unter Kontrolle zu bringen. Den Blick richtete er fest auf das Blumengedeck vor sich. Weiße Orchideen aus Übersee.
Sir Wood räusperte sich. »Leider fanden wir dort keine der Abtrünnigen. Uns fiel erst später auf, dass wir in ein Turstakuri Kloster geraten waren. Diese Mönche galten als unsere Verbündeten, und wir hätten das Kloster wahrscheinlich nicht betreten dürfen. Aber da war das Meiste bereits geschehen. Uns blieb nichts anderes übrig, als unseren Fehler zu vertuschen.«
»Sie haben sie umgebracht?«, rief Kaèl.
»Kaèl’thas, jetzt reicht es aber!«, schalt sein Vater. »Er hat gesagt, dass es ein Fehler war! Und zum Drachen nochmal, es waren doch nur Menschen!«
Seelenruhig wandte Sir Wood sich an Elìrios. »Ich nehme an, Kaèl’thas hat nie seinen Dienst in den Grenzgebieten geleistet?«
Elìrios wollte antworten, aber Kaèl konnte durchaus für sich selbst sprechen. »Ich bin kein Anhänger sinnloser Gewalt«, fiel er seinem Vater ins Wort. Er fixierte Sir Wood und legte all seine Verachtung in den Blick.
»Er hat sich auf die Erzmagiwürde vorbereitet«, wiegelte Elìrios ab.
»Ja, das sehe ich.« Sir Wood musterte Kaèl ausgiebig. »Er scheint keine Idee zu haben, wie es ist, um sein Leben kämpfen zu müssen.«
Wenn du wüsstest!, dachte Kaèl.
Akàri nickte bedeutsam. »Aber auch Feingeister wie unseren Kaèl’thas muss es geben.« Sie lächelte Kaèl versöhnlich zu, dann wandte sie sich wieder an Sir Wood: »Wie genau hängt Ihre Geschichte mit dem Hexenjäger zusammen?«
»Ich denke, er war einer der Mönche.« Sir Wood zuckte mit den Schultern. »Es war ein langer Tag, da ist es gut möglich, dass einer von denen fortgekommen ist. Bedauerlicherweise scheint er sich genau gemerkt zu haben, wer wir waren, denn seitdem wurden immer mehr von meinen Kameraden getötet. Zuerst hielt ich es für einen Zufall, aber als ich sein Phantombild sah, mit diesen Tätowierungen im Gesicht, da habe ich eins und eins zusammengezählt.«
»Ach, zählen können Sie auch«, murmelte Kaèl sarkastisch, »diese Gabe ist sicher selten bei einem Soldaten!«, aber die anderen ignorierten ihn.
»Wie viele von Ihnen leben noch?«, fragte Elìrios.
»Wir waren zweiundzwanzig, jetzt sind wir nur noch dreizehn.«
Kaèls Eltern tauschten einen Blick. »Sie müssen diese Information dem Geheimdienst melden!«, befahl Akàri. »Und Sie beide sollten sich im Verborgenen halten, bis dieser Mörder gefasst wurde.«
»Das Problem ist, dass wir eine längere Fahrt vor uns haben«, wandte Madame Wood ein. »Wir müssen übermorgen zur Hochzeit von Ragnars Schwester nach Nuòvi weiterreisen. Ragnar befürchtet, dass der Hexenjäger genau dies erfahren hat und uns auf dem Weg auflauern wird.«
»Hmm«, machte Akàri gedankenverloren. »Das ändert natürlich einiges.« Sie rieb sich die Augen. »Es ist spät, wir sollten uns für heute zurückziehen und diese Angelegenheit morgen mit Madame Treverer besprechen. Machen Sie sich keine Sorgen, sie ist innovativ und wird einen schlagkräftigen Plan entwickeln. Es wäre doch gelacht, wenn es kein Mittel gegen diesen Mönch gäbe!«
oOOo
Kaèl wusste im Nachhinein nicht, wie er den Abend überstanden hatte, ohne Sir Wood seine stärksten Flüche auf den Hals zu hexen. Aber er hatte gefühlt, dass es das Beste war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, schließlich musste er weiterhin über ihre und Myriams Pläne informiert bleiben.
Kaèl mochte seine Differenzen mit dem Hexenjäger haben, aber er wollte ...
Ja, was wollte er eigentlich? Den Hexenjäger beschützen?
Das klang absurd. Nicht nur, dass der Kerl sich selbst beschützen konnte, er hatte Kaèl bis aufs Mark beleidigt, und verdiente auch sicherlich eine Strafe für seine Taten.
Aber nicht so, dachte Kaèl, nicht durch dieses schleimige Ekelpaket von Sir Wood!
Die Nacht konnte er nicht einschlafen. Er wälzte sich fiebrig hin- und her und ärgerte sich, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war, nachzuforschen was es mit der Vergangenheit des Hexenjägers auf sich hatte. Dabei hatte der Kerl mindestens einmal ein Kloster erwähnt! Wie hatte ihm das entgehen können?
Dafür verschlief er am nächsten Tag. Es war bereits Mittag, als er sich mit einem gewaltigen Kater die Treppen zum Speisesaal herunter schleppte.
»Wo sind meine Eltern?«, fragte er die Dienerin, die ihm eiligst ein Gedeck auflegte.
»Mylady und Mylord und ihre erlauchten Gäste haben eine Besprechung bei Madame Treverer. Sie lassen ausrichten, dass um vier der Tee serviert wird.«
Verdammt! Er war zu spät gekommen!
Missmutig stürzte er Miss Hazels bitteren Trank gegen den Kater herunter, den seine Mutter ihm netterweise auf seinen Platz hatte stellen lassen, und würgte dann an einem trockenen Brötchen mit Räucherlachs, das einzige, was er in so einem Zustand herunterbrachte. Es machte ihn nervös, dem Treffen mit Myriam nicht beiwohnen zu können, aber letztendlich würde er das Wichtigste auch beim Tee erfahren. Zumindest, sofern er sich zusammenriß und diesem Schleimer nicht an die Gurgel ging.
Um sich die Zeit bis dahin zu vertreiben, durchforstete er seine Bibliotheken nach Texten über Menschenreligionen. Es dauerte eine Weile, bis sie ihm in die Hände fiel: die Zeichnung eines Turstakuri-Mönchs. In der Abbildung saß er mit geschlossenen Augen im Schneidersitz auf einem Kissen und meditierte. Er trug ein giftgrünes Gewand und auf seinem rasierten Schädel und dem Nasenrücken fanden sich die unverkennbaren violetten Tätowierungen. Der Mann war nicht der Hexenjäger, aber die Ähnlichkeit war so frappierend, dass es Kaèl einen Stich ins Herz versetzte. Wie betäubt starrte er auf das Bild. Jetzt erst wurde ihm bewusst, wie sehr er den Hexenjäger vermisst hatte.
Nur widerwillig löste er seine Augen davon und las die Beschreibungen. Diese Religionsform war beinahe ausgestorben, und die wenigen Klöster, die noch existierten, fanden sich in unwirtlichen Gegenden, abgeschottet vom Rest der Welt. Anscheinend glaubten die Mönche, durch stetige Meditation und Zügelung ihrer körperlichen und seelischen Begierden die irdischen Bindungen aufzulösen und so in eine Art Jenseits zu gelangen – so ganz verstand Kaèl die Ausführungen dazu aber nicht. Sie schienen an keine besondere Gottheit zu glauben und hatten kein Interesse daran, andere zu missionieren. Und genau wie Sir Wood angedeutet hatte, hatten sie sich zu Zeiten der Inquisition sogar auf die Seite der Magi geschlagen und einige von ihnen bei sich versteckt, um sie vor Tod und Folter zu bewahren.
»Und das ist ihr Dank«, knurrte Kaèl. »Dass dieser widerliche Gockel mit seinen Kumpanen einmarschiert und …«
Weiter wollte er nicht denken. Der Hexenjäger hatte bereits genug dazu gesagt:
›Er kann dankbar sein, dass ich ihn nicht noch gefoltert habe, wie er seine Opfer!‹, das waren seine Worte gewesen.
Kaèl konnte das, was der Hexenjäger getan hatte und immer noch tat, nicht gutheißen. Aber mittlerweile konnte er zumindest seinen Hass nachvollziehen.
Und trotzdem irrt er sich, wenn er von diesem Gockel auf den Rest der magischen Welt schließt!
Die magische Welt war weder gut noch böse, sie war lediglich ... komplex, genau wie die Menschenwelt auch. Aber der Hexenjäger war zu verblendet, um das zu verstehen.
Nachmittags betrat Kaèl mit einem festgemeißelten Lächeln den Teesalon. Er nickte freundlich in die Runde, die aus seinen Eltern, Ehepaar Wood und Myriam bestand, und nahm neben Akàri auf dem Sofa Platz.
»Es geht mir viel besser«, raunte er ihr zu. »Vielen Dank für den Trank!«
Sie nickte wohlwollend. »Du standest gestern neben dir, dachte ich mir.«
Die Reime waren so schlecht, sie hätten in eine Hochzeitsrede gepasst, aber wenigstens wirkte Akàri amüsiert.
Er wandte sich dem Ehepaar Wood zu. »Auch bei Ihnen muss ich mich entschuldigen«, sagte er und neigte den Kopf. »Mir ist gestern Abend der Wein zu Kopfe gestiegen.«
»Aber das ist kein Thema«, sagte Madame Wood großzügig, »oder wie siehst du das, Ragnar?«
»Schwamm drüber, Kael’thas«, dröhnte der.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie viel mir das bedeutet!«, erwiderte Kaèl und schaffte es nur mit letzter Selbstbeherrschung, seine Stimme nicht vor Ironie triefen zu lassen.
Er nahm ein Pistazienmacaron und konzentrierte sich auf die Süße in seinem Mund, um nicht in Sir Woods verhasste Visage blicken zu müssen.
»Haben Sie eine Lösung für Ihr Problem gefunden?«, fragte er Madame Wood, nachdem er den Bissen hinuntergeschluckt hatte.
»Oh ja, Madame Treverer«, sie nickte anerkennend in Myriams Richtung, »hat uns die Augen geöffnet. Sie geht davon aus, dass der Hexenjäger weiß, dass wir hier sind und auch, wohin wir reisen wollen. Es gibt zwei Fahrstraßen nach Nuòvi, und wir hatten uns schon damit abgefunden, die längere Route zu nehmen. Diese führt durch bewohnte Regionen und wird von der Armee Ihrer Mutter bewacht. Allerdings würden wir so mindestens einen Tag länger unterwegs sein. Die schnelle Route geht jedoch mitten durch den Wald, und Madame Treverer vermutet, dass der Hexenjäger uns in der Einsamkeit dort auflauern könnte.«
»Das hört sich plausibel an«, murmelte Kaèl.
»Allerdings wollen wir genau diesen Fakt dazu nutzen, dem Hexenjäger zu schaden. Wir werden morgen Vormittag bewusst die gefährliche Route nehmen, um ihn zu provozieren, aber wir kommen nicht unvorbereitet. Ihre werte Frau Mutter stellt uns großzügigerweise drei ihrer besten Kämpfer*innen zur Verfügung, die unsere Fahrt eskortieren. Sollte der Hexenjäger einen Angriff wagen, wird er es sein, der diese Begegnung nicht überlebt.«
Das also war Myriams Plan? Kaèl musste schlucken, bei so viel Unachtsamkeit. Dem Hexenjäger war durch klassische Angriffszauber kaum beizukommen, aber genau darauf hatten sich Myriams Graue spezialisiert. Musketiere oder eine Gruppe Menschen, die wie der Hexenjäger den bewaffneten Nahkampf vorzogen, hätten ihm etwas anhaben können.
Aber Kaèl würde einen Teufel tun, sie darauf hinzuweisen, also nickte er nur brav und griff nach einem weiteren Macaron von dem üppig gefüllten Tablett, das eine Dienerin ihm darbot. Diesmal wählte er ein Himbeerfarbenes.
»Ich wette, dieser Mönch würde bereits mit einem unser Grauen nicht fertig«, sagte Akàri spöttisch.
Wenn du dich mal nicht täuschst, dachte er.
Er lehnte sich tiefer in die Kissen und ließ das fruchtige Gebäck auf der Zunge zergehen. Allmählich wich die Anspannung aus seinen Gliedern. Wie es aussah, hatte er sich ganz umsonst Sorgen um den Hexenjäger gemacht.
Wenn er das vorher gewusst hätte, dann hätte er sich seine Freundlichkeit gegenüber diesem Schleimbeutel von Wood auch schenken können!
oOOo
»Wo sind unsere Gäste?«, fragte Kaèl am nächsten Morgen, als er seinen Vater allein in der Galerie vorfand.
»Die lassen sich von Akàri den Lustgarten zeigen, und danach fahren sie weiter. Magst du kurz mitkommen und dich von ihnen verabschieden?«
»Natürlich«, erwiderte Kaèl. Hatte er eine Wahl?
Er ließ sich von Mister Taryòn in den Mantel helfen und folgte Elìrios nach draußen, zu den Kutschen. Dort herrschte bereits hektisches Treiben, die Bediensteten trugen Koffer und Schatullen heran und verstauten sie im Kofferraum der herrschaftlichen Kutsche. Die beiden Gäste saßen anscheinend schon im Wagen, denn Akàri stand am Rand und winkte huldvoll durchs Fenster. »Ah, da seid ihr ja«, sagte sie, als sie Kaèl und seinen Vater erblickte. »Das wurde auch Zeit!«
Elìrios gesellte sich zu ihr und beugte sich zum geöffneten Fenster. »Ich wünsche Ihnen eine gute Reise«, sagte er und drückte zuerst die eine, dann die andere Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. »Beehren Sie uns bald wieder!«
Auch Kaèl trat näher, beinahe widerwillig. Er hatte keine Lust, den beiden die Hand zu geben, besonders Sir Woods Nähe erzeugte fast schon physisches Unbehagen in ihm.
»Eine gute Fahrt«, wünschte er knapp und fügte gedanklich ein ›Möge der Hexenjäger euch holen!‹, hinzu. Sofort bereute er den Gedanken, sollte ihnen etwas geschehen, dann lag es auch daran, dass er an der entscheidenden Stelle geschwiegen hatte. Unschlüssig trat er von einem Fuß auf den andern. Wollte er wirklich mit so einer Schuld leben?
»Passen Sie auf sich auf«, fügte er beinahe bedauernd hinzu und streckte Sir Wood die Hand hin.
In dem Moment, als Sir Wood sich zu ihm drehte und seine Hand ergriff, blieb Kaèl das Herz stehen. Der Mann war nicht Sir Wood!
Verwirrt öffnete Kaèl den Mund, um etwas zu sagen, aber da erklang die Stimme seiner Mutter.
›Es hat alles seine Richtigkeit‹, dröhnte Akàri telepathisch durch seinen Geist. ›Lächele und verabschiede dich, als wäre alles normal. Ich erkläre es dir später.‹
Er warf ihr einen gequälten Blick zu, und sie zuckte kaum merklich mit den Schultern. Akàri wusste, dass er diese Art von Kommunikation hasste, es strengte ihn an, sie jedoch auch. Wenn sie dennoch zu so einem Mittel griff, musste es von höchster Bedeutung sein.
Verstohlen inspizierte er das Innere der Kutsche, und der Anblick ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Der Wagen war voller Leute, Kaèl zählte mindestens ein Dutzend, und alle waren bis an die Zähne bewaffnet. Mehrere Degen blitzten ihm entgegen, und einige der Leute hatten Musketen auf ihren Knien abgelegt.
»Und vielen Dank für Ihren reizenden Geschenke, Madame Wood!«, sagte Akàri zuckersüß und drückte der unbekannten Frau, die in Madame Woods Robe steckte, die Hand. »Bestellen Sie Ihrer werten Schwester unsere besten Wünsche!«
Es kostete Kaèl alle Kraft, der Aufforderung seiner Mutter nachzukommen und die Verabschiedung formvollendet hinter sich zu bringen.
»Kael’thas«, sagte Akàri, als die Kutsche endlich durch den Torbogen rollte. »Magst du noch eine Runde mit mir durch den Park flanieren? Ich wollte dir die neusten Fortschritte an unserem Lustgarten zeigen.«
»Natürlich, Mutter.« Er zwang sich zu einem Lächeln, und sie hakte sich bei ihm ein.
›Was war da los?‹, fragte er per Telepathie, als sie den Park erreicht hatten.
»Es ist wirklich schade, dass die beiden bereits fahren mussten«, sagte sie laut. Telepathisch fügte sie hinzu: ›Madame Treverers Unterlagen über den Hexenjäger wurden verändert, außerdem scheint dieser missratene Mönch mehr Informationen über uns zu besitzen, als er sollte. Sie vermutet, dass er einen Spitzel hier ins Schloss geschleust hat. Solange wir nicht wissen, wer es ist, können wir nicht frei sprechen.‹
»Ja, wirklich bedauerlich, sie waren so angenehme Gäste«, bestätigte Kaèl.
›Verstehe. Was ist mit den Woods?‹, fragte er im Geiste. ›Das waren nicht sie in der Kutsche!‹
»Hier ist er, der neue Lustgarten«, sagte sie leichthin und zog ihn zwischen die Hecken und Beete.
›Madame Wood und ihr kleiner Schoßhund sind bereits seit drei Stunden unterwegs, auf der langsamen Fahrstraße‹, lautete die telepathische Antwort.
Akàri nickte einem der Diener zu, die sie begleiteten. »Wärmezauber!«
Dieser verbeugte sich und tat wie geheißen. Sofort wurde es angenehm warm um sie herum.
›Die Kutsche, die du gesehen hast, ist unser Köder. Wir schicken sie durch den Wald, die schnelle Fahrstraße entlang. Von Außen wirkt sie wie leichte Beute, aber was in Wirklichkeit dort auf den Hexenjäger lauert, hast du ja gesehen. Myriams Informationen nach sollen Degenkämpfer*innen seine Schwachstelle sein.‹
›Dann hoffe ich, dass euer Plan aufgeht‹, log Kaèl und damit war das geheime Gespräch beendet.
Kaèl rang um Fassung. Er hatte Myriam unterschätzt. Er hatte sie alle unterschätzt.
Akàri musterte ihn aufmerksam, also gab er vor, sich für den noch im Aufbau befindenden Lustgarten zu interessieren und stellte ein paar halbherzige Fragen, zu den Statuen oder den Blumenbeeten, ohne den Antworten seiner Mutter zu lauschen. Dafür rauschte das Blut viel zu laut in seinen Ohren, und ein immer stärkeres Gefühl von Schwindel ergriff ihn.
Oh, wie hatte er so leichtgläubig sein können!
Als sie an einer der neuen Rosenhecken vorbeiliefen, runzelte Akàri die Stirn. »Das kann doch nicht wahr sein!« Sie verlangsamte ihre Schritte und inspizierte eine der Blüten aus der Nähe. »Die Rosen sollten rot sein, nicht rosa!«
»Wie unvorteilhaft«, sagte Kaèl.
»Das ist nichts, was sich nicht korrigieren lässt. Ich werde unverzüglich mit der Landschaftsplanerin sprechen!«
Kaèl entschied sich, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. »Nun gut, dann trennen sich hier unsere Wege – ich muss meine Kenntnisse der Invokationsmagie verfestigen, das wird den gesamten Tag in Anspruch nehmen.«
»Natürlich, mein Goldstück. Sehen wir uns zum Abendessen?«
»Eher nicht. Ich habe einiges nachzuholen, die letzte Woche bin ich kaum zum Lernen gekommen.« Mit einem entschuldigenden Lächeln nickte er Akàri zu und schritt Richtung Schloss.
oOOo
»Machen Sie auf!«, rief Kaèl und hämmerte gegen die weiße Holztür. Endlich hörte er etwas rascheln, dann näherten sich Schritte, und die Tür schwang auf. Sein Kutscher blinzelte verwirrt, als er Kaèl in Reithosen und Felljacke vor seiner Baracke erblickte.
»Mylord?«, fragte er zaghaft, »Womit kann ich Ih–«, aber Kaèl brachte ihn mit einer hektischen Geste zum Verstummen.
»Satteln Sie das schnellste Pferd! Sofort!«