Vorbemerkung: "Madame" und "Sir" sind die Anreden für Leute von niederem Adel (Miss/Mister: Bürgerliche, Madame/Sir: niederer Adel, Lady/Lord: Hochadel)
(Für die, die das interessiert: https://derelbischepatient.de/2019/12/19/die-geschichte-der-zauberinnen/ und https://derelbischepatient.de/2019/12/09/woher-stammen-meine-elbischen-namen/)
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»Junge, du bist so dünn geworden«, sagte seine Mutter. »Bist du krank?«
»Es geht mir gut, es geht mir ausgezeichnet«, log Kaèl und stocherte in seinem Essen herum.
»Bist du nervös wegen der Prüfung morgen?«
Kaèl sackte noch tiefer in sich zusammen.
»Es ist schade, dass wir morgen nicht dabei sein können«, sagte sein Vater. »Aber der Termin bei den Taìfus lässt sich nicht verschieben.«
Kaèl unterdrückte ein Stöhnen. Elìrios hatte vielleicht Ideen! Das wäre ja noch peinlicher, wenn der jüngste Anwärter auf den Titel seine Eltern mitbringt!
Akàri musterte ihn, ihr Weinglas in der Hand. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, du hast so hart dafür gearbeitet.«
›Hart gearbeitet‹ – fast hätte er gelacht. Was hatte er die letzten Wochen, ach was, Monate, getan, außer zu schmachten, Liebesromane zu lesen und sich nachts schlaflos im Bett herumzuwälzen?
Ach nein, dachte er ironisch, ich war ja auch produktiv und habe Geschenke gebastelt, die niemand haben wollte!
»Ich bin nicht sicher, ob es reicht«, flüsterte er und starrte auf seinen Teller.
»Miss Surìna, machen Sie uns zwei Trinkschokoladen.« Sie stellte ihr Glas ab, stand auf und winkte Kaèl zu sich. »Komm mit, auf die Terrasse.«
Kaèl protestierte schwach, aber Akàri schob ihn hinaus und deutete auf einen der Schaukelstühle. Seufzend nahm er Platz. Ein Diener reichte ihm eine Wolldecke, die er eng um sich schlang. Für Fukuòka war es ein kühler Winterabend, und gegen die Kälte hielten die Wärmezauber nicht lange stand. Dennoch war es schön hier draußen. Das Hotàru’sche Schloss lag auf dem einzigen Hügel weit und breit, und bei guter Witterung, so wie heute, konnte man sogar das Meer am Horizont sehen.
Kaèl hatte das Meer immer geliebt. Alle seine Bücher hatte er in seinem Strandhaus vollendet, mit Blick auf die Wogen, die an die Felsküste brandeten. Die Weite und Widerspenstigkeit inspirierten ihn, aber heute machte ihn die Erinnerung an diese Zeiten melancholisch.
Ob ich jemals wieder die Energie aufbringe, ein Buch zu schreiben?
Die Dienerin kehrte mit den heißen Schokoladen zurück und stellte sie mit einer kleinen Verbeugung auf das Tischchen zwischen ihnen. Akàri griff nach ihrer Tasse und pustete den Dampf fort. Sie lehnte sich zu ihm. »Was ist los, Kaèl’thas? So kenne ich meinen Jungen nicht.«
Nein, dachte er, du kennst mich nicht und das ist auch besser so. Wenn du wüsstest, was ich alles mit dem Hexenjäger angestellt habe, dann wärst du froh, wenn ich nicht dein Sohn wäre.
Kurz verschwamm Akàris Bild vor Kaèls Augen, aber dann hatte er sich wieder gefangen. Er räusperte sich. »Es ist nur die Nervosität, Mutter.« Seine Finger krampften um den Henkel seiner Tasse. Sie war angenehm schlicht, weißes Porzellan, bemalt mit filigranen Mohnblumen.
»Ich bin davon überzeugt, dass du es schaffst.« Akàri lächelte. »Als Kleinkind war dein erstes Wort ›warum?‹. Du hast immer alles in Frage gestellt, sogar an deinen Zweifeln gezweifelt. Damit hast du es uns nicht leicht gemacht, aber wir waren auch gezwungen, über vieles neu nachzudenken. Wer, wenn nicht du, sollte Erzmagi werden?«
Er schluckte und zwang sich zu einem Lächeln. »Wahrscheinlich hast du recht.«
Akàri seufzte leise. »Es ist schön, dass ich durch dich die Dinge erlebe, für die ich keine Zeit hatte.«
Auf einmal tat seine Mutter ihm leid. Akàri und er hatten ihre politische Diskrepanzen, aber dennoch hätte er ihr etwas Besseres gegönnt. Sie hatte ihre Liebe aufgeben müssen und war viel zu früh verheiratet worden, in einem Alter, in dem andere Adelige gerade ihre ersten Erfahrungen an der Akademie sammelten. Kaèl konnte sich nicht vorstellen, was sie dadurch alles verpasst hatte. Und trotzdem – oder gerade deshalb? – hatte sie ihn immer fair behandelt. Jahrelang hatte sie Kaèl gegenüber seiner Großmutter und Elìrios verteidigt, die ihn längst unter der Haube wissen wollten, bis auch ihr die Geduld ausgegangen war, was – wie er zugeben musste – reichlich spät war. Sie hatte sich dafür eingesetzt, dass er sich seinen Traum erfüllen und Erzmagi werden konnte.
Und nun versagte er so phänomenal darin. Morgen würde er aller Wahrscheinlichkeit nach durch die Prüfung fallen. Er würde sein Gesicht verlieren und alle, vor allem aber Akàri, enttäuschen, und das nur, weil er es nicht geschafft hatte, seine Gedanken vom Hexenjäger abzulenken.
Kaèl wünschte, er wäre wenigstens in der Lage, ihr jetzt etwas Nettes zu sagen. Er wusste, seine Mutter dürstete insgeheim danach. Aber er konnte es nicht. Stattdessen nahm er nur einen weiteren Schluck von seiner Schokolade mit Chili, die sich angenehm warm in seinem Mund ausbreitete.
Akàri deutete auf das Meer, in das der blutrote Feuerball gerade versank. »Schau dir dieses Licht an. Wie rot der Himmel ist!«
»Ja«, sagte Kaèl.
Kaèl erinnerte sich. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er am liebsten jeden seiner Abende am Strand verbracht hatte, um die Sonne untergehen zu sehen. Eine ganze Nacht – wie alt war er da gewesen? Fünf? – war er sogar wach geblieben, um Sternschnuppen zu zählen. Es war aufregend gewesen, und er hatte sich zum ersten Mal richtig erwachsen gefühlt. Kurz darauf hatte Akàri ihm den Familienzauber gezeigt, mit dem er magische Glühwürmchen erzeugen konnte. ›Das ist besser als Sternschnuppen‹, hatte sie gesagt. Es war Kaèls erster richtiger Zauber gewesen, er hatte wochenlang die Handbewegung üben müssen, bis er auch nur den Hauch eines Funkens erzeugt hatte. Das Gefühl, als die Magie zum ersten Mal durch seine Finger geströmt war, hatte ihn berauscht. Seitdem hatte er sich nichts Verlockenderes vorstellen können, als Magi zu werden, sein Leben dieser Schönheit, diesem Gefühl zu widmen. Den Dingen auf den Grund zu gehen, zu begreifen, was die Welt zusammenhielt.
Er seufzte tief. Wie lebendig er sich damals gefühlt hatte!
Aber während der letzten Jahre waren seine Listen lang, die Pläne straff gewesen. Er hatte ein Buch nach dem anderen veröffentlicht, veröffentlichen müssen, um sich einen Namen als Magi zu machen und vom Rat der Elf wahrgenommen zu werden. Dabei stellte er schnell fest, dass die Magiewissenschaft nur noch an ihren Rändern brannte: Im Gegensatz zu seinen kindlichen Erwartungen ging es weniger darum, neue Zauber zu entwickeln, die alles Vorherige umstürzten; seine alltägliche Arbeit bestand daraus, Kleinigkeiten an bereits existierenden Zaubern durch stetige Reflexion zu verbessern.
So hatte Kaèl aufgehört zu experimentieren, und sich dem strikten Curriculum unterworfen, das angeblich zum akademischen Erfolg führte. Dabei hatte er niemanden dulden können, der seine Routine auseinander brachte. Lina hatte es versucht, und sie war gescheitert: Kaèls Emotionen und Gefühle für sie waren hinter Glas geblieben.
Und dann, als Kaèl seinen Triumph fast schon mit den Händen hatte greifen können, war Bendix in sein Leben getreten. Er hatte Kaèl herausgefordert, ihn übertrumpft und ausgelacht, und dann wieder mit ihm gelacht. Für eine kurze Zeit hatte er Kaèl gezwungen, ein anderer Magi zu sein, einer, der sich nicht auf Altbewährtes verließ, sondern neue Pfade betrat.
Wahrscheinlich fehlt er mir deshalb so, dachte Kaèl. Weil ich einen kurzen Augenblick wieder den Mut hatte, die Dinge anders zu machen.
Komisch, ich wusste vorher nicht, dass ich die Dinge anders wollte.
Kaèl versuchte, gegen den Knoten in seiner Brust anzuatmen. Er trank noch einen Schluck Schokolade und die tröstende Schärfe holte ihn zurück ins Hier und Jetzt.
Mittlerweile war die Sonne vollständig im Meer versunken und der Himmel war in dieses abendrote, sanfte Licht getaucht, das er so liebte.
Akàri blickte zu Kaèl. »Weißt du, Kaèl’thas, alles was du willst, liegt auf der anderen Seite der Angst. Du musst dich nur trauen, deinen Weg zu gehen.«
Diesmal erwiderte Kaèl das Lächeln. »Da hast du recht.«
Seine Prüfungsvorbereitung war nicht mehr, als ein schlechter Witz, und das hatte er sich selbst zuzuschreiben. Wahrscheinlich würde er durchfallen, aber es war nicht alles verloren.
Vielleicht war das seine Chance, endlich der zu sein, der er sein wollte.
oOOo
Früh am nächsten Morgen brach Kaèl mit Mister Taryòn auf. Ihr Ziel, die Lyrmond-Akademie lag in einer trostlosen Moorlandschaft mitten im Nirgendwo Avalons, acht lange Stunden Kutschfahrt vom Hotaru’schen Schloss entfernt. Zu allem Überfluss setzte ab der Hälfte der Strecke ein heftiger Regenguss ein, was seine Stimmung nicht gerade hob. Kaèl starrte mit vor Aufregung krampfenden Magen aus dem Fenster und versuchte, alle Magietheorien, mit denen er sich in den vergangenen zehn Jahren beschäftigt hatte, aus seinem Unterbewusstsein hervorzusuchen.
Es wird ein Reinfall, ein großer Reinfall, sang es in ihm.
Ihm war speiübel, als sie endlich am schwarzen Tor von Finistères bedeutsamster Stätte des Wissens anlangten. Sie überquerten die Brücke und rollten auf den großen Platz vor dem Zentralgebäude ein.
Kaèl war in den letzten Jahren einige Male hier gewesen, er hatte ein mehrwöchiges Praktikum der Astronomie absolviert und immer wieder Vorträge bedeutsamer Magi besucht, oder selbst welche gehalten. Der Anblick war nichts Neues für ihn, aber heute ließ es ihn schlucken vor Ehrfurcht.
»Dieses Monstrum ist der letzte Ort, an dem ich eine Prüfung haben wollte.« Mister Taryòn zeigte auf das Zentralgebäude. »Es sieht schlimmer aus, als eine Drachenhöhle!«
»Ach was«, erwiderte Kaèl mit einem aufgesetzten Lachen, aber insgeheim pflichtete er Mister Taryòn bei.
Das besagte Gebäude, in dem auch der Rat der Elf tagte, war vor zweihundert Jahren von den Menschen errichtet worden, und wurde als höchster Verwaltungsort ihrer blutrünstigen Religion genutzt. Dieser sogenannten ›Bruderschaft der Liebe‹ waren Zehntausende von Magi zum Opfer gefallen, daher war es besonders befriedigend gewesen, ihr Heiligtum nach dem Krieg als Stätte der Magie umzufunktionieren.
Es war von einer verwirrenden Schönheit, bestand es doch hauptsächlich aus unzähligen Türmen aus schwarzem Granit, die von zackigen Dächern oder Kuppeln gekrönt wurden. Die Wände waren so glatt poliert, dass sie glänzten, und sie strahlten eine fast schon bedrohliche Kühle aus. Viele kleine Türme waren zusammengewürfelt mit einigen schwindelerregend hohen, ohne offensichtliches System. ›Die Akademie hat Türmeritis‹, spotteten die Studierenden hinter vorgehaltener Hand.
An das Hauptgebäude schlossen sich strahlenförmig mehrere Bibliotheken, Auditorien, eine Sternwarte sowie eine Villa mit hunderten von Gästezimmern an, alle aus demselben, tiefschwarzen, polierten Gestein. Die Arkadengänge zwischen den Gebäuden wurden von blauen magischen Lampen erhellt, die je nach Witterungsverhältnissen und Tageszeit mal heller, mal dunkler leuchteten.
Zwei Bedienstete in rauchblauen Kutten halfen ihnen aus der Kutsche, schützten ihn und Mister Taryòn mit ihren Zaubern vor dem Nieselregen und führten sie hinein in das Konglomerat aus Türmen.
Kaèls Prüfung war am späten Nachmittag, also blieb ihm noch eine gute Stunde, sich frisch zu machen und die traditionelle Kleidung eines Novizen anzulegen. Ursprünglich hatte es einmal zehn Disziplinen der Magie gegeben, und jede davon wurde durch ihre eigene Farbe repräsentiert: Rot für Feuermagie, Grün für Heil- und Kräuterkunde, Schwarz für Flüche, Violett für Illusionsmagie und so weiter. ›Wandlungen‹, Kaèls Schwerpunkt, war weiß, und deshalb hatte er eine schlichte Robe aus weißem Chiffon gewählt.
In den letzten Jahrzehnten waren neue Zweige der Magie hinzugekommen und alte in Vergessenheit geraten, und die meisten Forschenden arbeiteten an den Schnittstellen mehrerer Disziplinen. Auch die Kompetenzen der Mitglieder des Rates der Elf überlagerten sich – von einer Erzmagi wurden Kenntnisse aller Disziplinen erwartet und nicht nur Fachwissen aus dem jeweiligen Schwerpunkt.
Kaèl hatte keinerlei Information über den Ablauf seiner Prüfung erhalten, und er konnte nur vermuten, dass er zu allen Magierichtungen befragt werden würde. Deshalb hatte er sich über die letzten Jahre in die Standardwerke aus allen Disziplinen eingelesen und beherrschte deren gängigsten Zauber.
Während Mister Taryòn ihm einen hellgrauen Gürtel umlegte, und seine Robe richtete, überlegte sich Kaèl Antworten auf potentielle Fragen, vollführte probehalber ein paar Handbewegungen der Zauber, aber sein Kopf war wie leergefegt.
Er verfluchte sich für seine Untätigkeit der letzten Monate. Wenn es wenigstens etwas gebracht, und er Bendix’ Herz erweicht hätte! Aber jetzt stand er mit leeren Händen da. Er hatte auf ganzer Linie versagt.
Es klopfte an der Tür, und ein Diener trat ein. »Mylord, der Rat erwartet Sie.«
Kaèl nickte Mister Taryòn zum Abschied zu und folgte dem Diener durch mehrere verwinkelte Gänge, bis zum größten Turm des Gebäudes. Dort stiegen sie zwei Stockwerke hinauf, und ihre Schritte hallten auf dem steinernen Boden des marmorverkleideten Treppenhauses.
Am Konferenzsaal angekommen, straffte er die Schultern und trat, mit zittrigen Knien, in den runden Raum. Dort saßen die Erzmagi um einem hufeisenförmigen Tisch, der sich zu einem Stehpult mit Tafel öffnete und sprachen leise miteinander. Dem Anlass entsprechend hatten sie die offizielle Kleidung ihrer jeweiligen Disziplin gewählt, daher leuchteten Kaèl alle Farben des Regenbogens entgegen.
Als er vortrat, verstummte das Gemurmel und alle Augen richteten sich auf ihn.
Es wird schon werden, sagte er sich. Ich bin mittlerweile so gut im Stolpern, dass es aussieht, als würde ich durchs Leben tanzen.
Madame Neomùra erhob sich und trat auf ihn zu. Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Lord Kaèl’thas Hotàru.«
»Madame Neomùra«, sagte er und schüttelte ihre Hand.
Passend zu ihrem Schwerpunkt, der Translokationsmagie, hatte sie eine silberne Robe gewählt, und ihr sonst enggelocktes, schwarzes Haar trug sie in vielen strengen Zöpfen zurückgeflochten. Mit einer Geste wies sie Kaèl an, sich neben das Pult zu stellen.
Er nickte in die Runde. »Eminenzen.«
»Wir sind heute hier versammelt, da Sie Talent zeigen. Ihre sechs Bücher haben das magische Wissen während der letzten Jahre vorangebracht und unsere Sichtweise auf die Transformationsmagie verändert.«
»Zuviel der Ehre«, sagte er.
»Auch Ihre Forschungsarbeit mit dem Titel: ›Das Andere ist das Selbst – Transitionen auf Mikrostrukturebene‹, die Sie vor einem halben Jahr im magischen Rat eingereicht haben, haben wir geprüft. Das Komitee hat sie einstimmig für würdig befunden.«
Kaèl atmete auf. Er hatte zwar nichts anderes erwartet, aber dennoch war es gut, dies bestätigt zu wissen.
Die Erzmagi stellten ihm reihum Fragen über die von ihm verfassten Werke, die er ohne zu Zögern beantwortete. Es war ein sanfter Einstieg, egal wie nervös er war, er würde niemals das vergessen, was er selbst recherchiert und in mühseligen Stunden zusammengeschrieben hatte. Auch schienen die meisten ihm gewogen zu sein, sie formulierten ihre Fragen höflich und mit Bedacht. Nur Madame Witfield, die Telepathin griff ihn mehrmals an und hakte bei unpräzisen Antworten gnadenlos nach. Sie war ihm auf Anhieb unsympathisch.
Allmählich drifteten die Fragen zu allgemeineren Themen der Magiewissenschaften. Aber auch das war kein Problem für ihn. Dennoch war er in Habachtstellung. Alle Muskeln angespannt lauerte er die gesamte Zeit auf den einen Moment, der demaskieren würde, wie ungenügend seine Vorbereitung war.
Madame Witfield hob die Hand. »Reproduzieren Sie bitte einen transformationsmagischen Zauber, der Ihnen in letzter Zeit bei Ihrer Arbeit nützlich war.«
An sich war die Forderung harmlos, aber ihr Grinsen wirkte, als sei ein Angriff darin versteckt. Strenggenommen hatte Kaèl ›in der letzten Zeit‹ nicht wissenschaftlich gearbeitet, geschweige denn sich systematisch mit Magie beschäftigt. Viel zu sehr war er damit abgelenkt gewesen, einem gewissen Hexenjäger hinterherzustellen.
Er erstarrte. Zielte sie darauf ab?
Unter ihrem Blick fühlte er sich nackt. Sie war Telepathin, und Kaèl vermutete, dass sie genau wusste, wie es um ihn bestellt war, sicherlich konnte sie mühelos seine Angst und Bedenken erfühlen, vielleicht wusste sie bereits alles über Bendix und ihn.
Er ignorierte den Schweiß, der ihm am ganzen Körper ausbrach und setzte eine ungerührte Miene auf. Lächelnd antwortete er mit der Floskel, die alle Forschenden wählen, die völlig den Faden verloren haben: »Eine spannende Frage.«
Was soll ich tun, was soll ich tun?, sang es in seinem Kopf.
»Ich ...« Er verstummte und blickte wie hypnotisiert in die Runde der Erzmagi. Zehn gespannte Gesichter und das hämisch grinsende von Madame Witfield.
Am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt. Wofür hatte er fünf Jahre lang Zauber aller Fachrichtungen geübt, um jetzt hier so zu versagen? Ihm fiel nichts ein, wahrscheinlich hätte er im Moment nicht einmal einen Lichtzauber wirken können. Warum, verdammt, hatte er in den letzten Monaten nicht mehr geübt?
Er schaute auf seine Hände. Sie zitterten. »Mir fällt gerade nichts ein«, gab er zu und fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Sein hochrotes Gesicht, im Kontrast zu dieser schneeweißen Robe, das musste albern aussehen. Kaèl hatte nie bei einer Prüfung auch nur eine Frage nicht beantworten können und am liebsten wäre er aus dem Raum gerannt.
Madame Neomùra räusperte sich. »Lord Hotàru«, sie lächelte ihm bemüht freundlich zu, »zufälligerweise war ich auf dem Wintersonnenwendeball Ihrer Familie geladen.«
Oh nein, dachte Kaèl. Auch das noch.
Er wollte sich lieber nicht ausmalen, was sie dort von ihm mitbekommen hatte, alle seine Erinnerungen an den Abend waren äußerst unschön.
»Sie hatten dort einen Zauber gewirkt, den ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen habe. Wollen Sie uns den nicht präsentieren?«
Was meint sie nur?
Da fiel ihm ein, wie Nyòko ihn bei besagtem Balle zornentbrannt von der Tanzfläche gezerrt hatte. »Besonders diese Leuchtkugeln!«, hatte sie geflucht. »Die Leute reden von nichts anderem!«
Die Sphären! Er musste lächeln. »Sie meinen Taraks Knotenmagie?«
Neomùra nickte, und er erzeugte seine drei Sphären. Sie waren diesmal aschgrau, passend zu seiner verängstigten Stimmung. »Diese Kugeln lassen sich mit beliebigen Zaubern aufladen, und zerplatzen auf Abruf, dabei lassen sie instantan den jeweiligen Zauber wieder frei.«
»Strenggenommen ist das keine Transformationsmagie«, sagte Madame Witfield. »Also beantwortet das meine Frage nicht.« Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Sie haben recht«, bestätigte er. »Aber die Sphären sind ein Werkzeug, das sich für beinahe alle Disziplinen verwenden lässt. Sie ermöglichen es, Zauber rasch und kontrolliert hintereinander auszuführen, dies ist gerade bei mehrschrittigen Transformationen, bei denen jeder Zauber zu einem spezifischen Zeitpunkt gewirkt werden muss, eine Hilfe. Überdies kann so lange im Vorhinein Energie alloziert werden, die manchen Magi im kritischen Moment fehlen könnte. Dadurch werden komplexe Wandlungen auch für durchschnittliche Magi möglich.«
Madame Witfield lachte. »Diese Knotenmagie ist allerdings kein Zauber für eine durchschnittliche Magi!«
»Das stimmt«, sagte er nach einigem Zögern. »Ich revidiere meinen letzten Satz.«
Alle diskutierten aufgeregt durcheinander, nur Madame Witfield runzelte die Stirn und schien den anderen Kontra zu geben, aber Kaèl hatte nichts anderes von ihr erwartet.
Mal sehen, was sie dazu sagt, dachte er und hob die Hand. »Ein weiterer Zauber hat sich mir in der letzten Zeit als nützlich erwiesen. Dieser transformiert die Eigenschaften der Lichtbrechung eines Körpers«, er warf Madame Witfield einen triumphierenden Blick zu, den sie grimmig erwiderte, »und zählt deshalb sogar im engsten Sinne zur Transformationsmagie.«
Kaèl trat hinter dem Pult hervor. »Aber sehen Sie besser selbst. Oder anders gesagt: Sehen Sie nicht.«
Er wirkte den Unsichtbarkeitszauber, und für eine Weile war alles still.
»Ist es der Zauber?«, fragte Lady Galahad schließlich. »Der von Muriel selbst entwickelt wurde?«
Kaèl nickte, dann fiel ihm ein, dass er ja nicht gesehen wurde. »In der Tat«, sagte er deshalb. »Entwickelt von Muriel, verfeinert von Fèalyra Ryunòr.«
Madame Neomùra schlug die Hände zusammen. »Ich kenne in ganz Finistère nur zwei Personen, die diesen Zauber beherrschen und die weigern sich, ihr Wissen zu teilen. Vielleicht könnten Sie das zukünftig ändern.«
»Was das allein für das Militär bedeuten würde«, sagte Lady Galahad. »Zauber zu wirken, ohne selbst angreifbar zu sein. Solche Leute bräuchten wir an unseren Grenzen!«
»Hier muss ich leider einschränken«, sagte Kaèl. »Man verliert seine Unsichtbarkeit, sobald man einen anderen Zauber wirkt. Bislang konnte ich mir dieses Phänomen nicht erklären, aber ich tippe auf magische Interferenz. Dementsprechend ist es eher ein Zauber, um andere zu überraschen oder um zu fliehen, aber er ist nicht geeignet für einen magischen Schlagabtausch.«
Er löste die Unsichtbarkeit wieder. »Überdies gibt es Personen, die die durch den Zauber abgestrahlte starkmagische Energie wahrnehmen können.«
»Das ist interessant, das wurde in den Schriften bislang nicht erwähnt«, sagte Lady Galahad.
»Die Person, die das vollbracht hat, war auch eine ganz ... besondere.« Kaèl biss sich auf die Zunge, um nicht hier, mitten in seiner Prüfung, von Bendix zu schwärmen.
»Vielen Dank für Ihre Ausführungen!« Madame Neomùra kritzelte etwas in ihr Notizbuch. »Lord Hotàru, was mich am meisten interessiert: Wenn wir Sie in unsere Reihen aufnehmen würden, was würden Sie anstreben?«
Kaèls Puls beschleunigte sich. Eine Antwort, die ihm sicherlich Sympathiepunkte einbringen würde, wäre, dass er sich bei Hofe um mehr finanzielle Mittel für das Bildungswesen einsetzen wollte, oder etwas von ›Perfektionierung der Künste‹ zu erzählen. Bis vor ein paar Wochen hatte er selbst geglaubt, dass dies sein höchster Wunsch war.
Aber seine Meinung hatte sich geändert, und er hatte sich vorgenommen, ehrlich zu sein. Er holte tief Luft. »Ich würde mich dafür einsetzen, dass Magie verantwortungsvoll gelehrt wird. Jede Akademie sollte neben praktischen und theoretischen Kursen auch Ethikkurse anbieten, die für alle Studierenden verpflichtend sind. Unsere Magie ist wie ein Messer, wir können damit die schönsten Kunstwerke schnitzen, oder es anderen in die Brust rammen.« Er zögerte kurz, dann fügte er hinzu: »Und allzu oft sind diese ›anderen‹ Menschen, die sich gegen unsere Magie nicht wehren können. Ich will, dass alle, die Magie als Waffe nutzen, sich zumindest darüber im Klaren sind, was sie tun.«
»Das sind interessante Worte für einen Hotàru«, sagte Madame Witfield, und Kaèl fragte sich, ob Häme in ihrer Stimme mitschwang.
Die anderen Erzmagi begannen, untereinander zu tuscheln, dabei wurde wild gestikuliert. Leider – oder zum Glück – verstand Kaèl nur Bruchstücke, einzig das Wort ›Mensch‹ konnte er deutlich heraushören.
Madame Neomùra erhob sich. »Vielen Dank, Lord Hotàru. Das wäre alles, was wir von Ihnen wissen wollten.«
»Das war alles?«, fragte er verblüfft.
»Was hatten Sie erwartet?«
Er rang die Hände. »Ich dachte, dass ich Zauber aller Disziplinen vorführen muss.«
»Aber Sie sind doch kein Zirkuspferd!« Sie lachte glockenhell auf und der Rest des Raumes stimmte mit ein.
»Wir lassen unsere Anwärter*innen über unsere Auswahlkriterien und das Prüfungsverfahren bewusst im Dunklen«, erklärte sie, »damit wir möglichst unverfälschte Einblicke bekommen. Hier geht es nicht um Ihre Zauberfertigkeiten, die haben sie an der Akademie bereits ausreichend zu Schau stellen können. Wir fragen uns einzig und allein, ob Sie zu uns passen und den Titel mit Würde tragen!« Mit einer Geste gebot sie ihm, den Raum zu verlassen.
»Wie verblüfft er aussieht!«, war das Letzte, was er hörte, bevor sich die Tür hinter ihm schloss.
Kaèl fühlte sich, als habe ihm jemand eine Ohrfeige verpasst. Warum hatte er dann fünf Jahre gepaukt, als gäbe es kein Morgen mehr? Bis ins Innerste angespannt, lief er in Achten durch das kleine Vorzimmer. Immer wieder wischte er seine schweißnassen Hände an der Robe ab.
Hatte er sie von sich überzeugen können? Oder hatten sie ihn nur hinausgeschickt, weil seine letzte Antwort zu kontrovers war?
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich die Tür wieder. »Lord Hotàru, treten Sie ein«, rief Madame Neomùra.
Kaèl nahm Haltung an, und schritt vor die Riege der Erzmagi. Das beklommene Gefühl in seiner Brust verstärkte sich, als er in ihre teils wohlwollenden, teils zornig wirkenden Gesichter blickte. Er reckte ihnen das Kinn entgegen.
Madame Neomùra schaute auf ihr Notizbuch. »Wir hatten einige Novizinnen, die während der Prüfung ihre virtuosen Fähigkeiten beweisen konnten. Dennoch haben wir sie nicht in den Rat aufgenommen, denn sie waren starr in ihren Denkweisen.« Sie hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich. »Was wir an Ihnen schätzen, Lord Hotàru, ist, dass Sie mit sich reden lassen. Sie führen Ihre Zauber nicht auf, wie kleine Tricks, sie diskutieren ehrlich die Vor- und Nachteile. Das ist außergewöhnlich für einen Magi Ihres Alters.«
»Vielen Dank.« Er neigte sein Haupt.
Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. »Ihre Aussage über die Ethikvorlesung war für einige von uns ... gewöhnungsbedürftig, aber sicherlich werden Sie mit Ihren unkonventionellen Ansichten frischen Wind hineinbringen. Wir freuen uns, Sie in unseren Reihen begrüßen zu dürfen.«
Eine Woge der Erleichterung schwappte über Kaèl. Sie hatten ihn wirklich aufgenommen!
Madame Neomùra erhob sich. Gemessen schritt sie zu ihm und legte ihm die schwere kupferne Kette mit einem Amulett aus Bergkristall um den Hals, über die er seit so vielen Jahren fantasiert hatte.
Als die Ersten zu Klatschen begannen, glühten seine Wangen vor Stolz, und er musste die Tränen fortblinzeln, die in seinen Augen brannten.
Der weitere Abend verlief wie im Traum. Kaèl folgte den anderen in den gemütlichen Speisesaal, und als die Speisen aufgetragen wurden, fiel der letzte Rest Anspannung von ihm ab. Er diskutierte und scherzte, nippte an seinem Weinglas und genoss zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein Essen, Schmorbraten mit Bohnen und frittierten Klößchen.
Und doch, inmitten all dieses Trubels, fühlte er sich ein wenig allein. Es nagte an ihm, dass er Bendix nie würde davon erzählen können. Aber das Kapitel ›Bendix‹ war abgeschlossen. Wahrscheinlich hätte es einen Hexenjäger wie ihn sowieso nicht interessiert, ob Kaèl nun einer der zwölf geschätztesten Magi des Landes war, oder nicht.
Nach dem Essen, als die meisten bereits gegangen waren, setzte sich Madame Witfield zu ihm. Sie prostete ihm zu. »Ich muss zugeben, ich habe Sie falsch eingeschätzt, Lord Hotàru. Ich war davon überzeugt, dass Sie die Erzmagiwürde nur zur Erhöhung Ihrer eigenen Grandiosität anstrebten. Daher kamen meine recht scharfen Fragen heute. Aber Ihr Plädoyer für die Ethikvorlesungen hat meine Meinung geändert.« Sie beugte sich zu ihm und senkte die Stimme. »Sie müssen zukünftig vorsichtig mit diesen Aussagen sein. Es hat eine Kontroverse in unseren Reihen ausgelöst, und die Entscheidung, Sie aufzunehmen war mehr als knapp. Sie hätten sich damit ihre Zukunft verbauen können.«
»Ich weiß«, sagte er und räusperte sich. Sein Hals kratzte, vom vielen Sprechen. »Aber das ist nun einmal, was ich denke.«
Sie lächelte. »Aus genau diesem Grund habe ich für Sie gestimmt.«
Als er sich endlich in seine Gemächer zurückzog, war er völlig erledigt. Auf seinem Schreibtisch fand er Blumen und eine Karte seiner Eltern mit ihren Glückwünschen. Auch Nyòko und Ludòiku hatten geschrieben, und selbst Lina hatte sich dazu herabgelassen, ein paar Zeilen hinzukritzeln. Vermutlich hatte Mister Taryòn die frohe Kunde verbreitet, und Kaèl war dankbar, dass er es nicht mehr selbst erledigen musste.
Erschöpft ließ er sich ins Bett sinken. Er fröstelte und zog die Decken enger um sich, dann fiel er in einen tiefen Schlaf.
oOOo
Am nächsten Morgen erwachte er mit Gliederschmerzen und Schnupfen. Am liebsten wäre er im Bett liegengeblieben, aber die Luft war erfüllt vom Gegurre der unzähligen Brieftauben, die an der Akademie gehalten wurden. Es raubte ihm den letzten Nerv und vertrieb ihn aus dem Schlafzimmer.
Mister Taryòn besorgte ihm zum Frühstück einen Trank gegen die Erkältung, aber beim Schlucken tat Kaèls Kehle weh. Zu allem Überfluss setzten leichte Kopfschmerzen ein, aber er quälte sich in die Kutsche zurück nach Fukuòka, zum Schloss. Nach und nach wurde das Schwächegefühl immer schlimmer, und die Kopfschmerzen drangen in den Vordergrund. Kaèl versuchte zu schlafen, aber das Gerumpel der Kutsche verhinderte, dass er in seinen wohlverdienten Dämmerzustand sinken konnte. Als sie durch ein tiefes Schlagloch rasten, fuhr er in die Höhe und hielt sich stöhnend den Kopf.
Mister Taryòn klopfte gegen das Fenster zum Kutschbock. »Mister Scott, fahren Sie bitte langsamer, Mylord ist nicht wohl.«
Mister Scott – das ist also sein Name, dachte Kaèl abwesend – drosselte das Tempo.
Ironischerweise fuhren sie gerade durch den Silberwald und eigentlich hätte allein der Anblick der blattlosen Bäume ein immerwährender Quell der Wehmut sein müssen, aber Kaèls Kopf pochte so unangenehm, dass keinerlei Gefühle zu ihm durchdrangen. Zitternd schlang er die Decke fester um sich und nickte dankbar, als Mister Taryòn einen weiteren Wärmezauber wirkte. Er schloss die müden Augen und ließ sich wieder tief in die Polster sinken. Hoffentlich nahm diese Qual bald ein Ende! Wie weit konnte es noch sein, bis zum Schloss?
Wieder gab es einen Ruck, und Kaèl stöhnte empört auf.
»Halt!«, rief eine ihm allzu vertraute Stimme.
Mister Taryòn keuchte entsetzt.
Kaèls Atem stockte. Ungläubig riss er die Augen auf. Dort oben auf dem Kutschbock stand Bendix! Er rang mit dem Kutscher um die Zügel, entwand sie ihm, und brachte die Kutsche zum Stehen.
Der Kutscher erhob die Arme angriffsbereit und sagte mit zitternder Stimme: »Gehen Sie, sonst wende ich Magie an!«
»Jaja«, sagte Bendix ungerührt und beugte sich zum Fenster, das ihn vom Wageninneren trennte. Als er Kaèl hinter der Scheibe erkannte, lächelte er, und es traf Kaèl wie einen Blitzschlag.
Bendix drückte das Fenster auf. Er steckte seinen Kopf hindurch und blickte Kaèl direkt in die Augen. »Hast du einen Moment für mich?«