»Verdammt, verdammt, verdammt.« Kaèl trommelte mit den Knöcheln auf seine Knie. Er streckte den Kopf durchs geöffnete Fenster zum Kutschbock. »Können Sie nicht schneller fahren?«
Mister Scott machte ein verzweifeltes Geräusch. Er ließ die Peitsche knallen.
Seufzend lehnte Kaèl sich wieder zurück in die Kissen, eine Hand auf seinen Bauch gepresst. Sein Magen rebellierte, nein, eigentlich war alles in ihm in Aufruhr. Seine Eltern waren Richtung Strandhaus gefahren. Und das bereits vor mehr als einer Stunde. Kaèl mochte sich nicht ausmalen, was gerade dort geschah.
Nach einer unerträglich langen Ewigkeit quietschten die Bremsen, und sie fuhren durchs weiße Tor. Noch bevor die Räder zum Stillstand kamen, sprang Kaèl aus der Kutsche. Er eilte am Wagen seiner Eltern vorbei, der – natürlich – schon in der Einfahrt stand.
Vor der massiven Holztür hielt er keuchend inne. Was jetzt? Sollte er anklopfen? Einfach hineinstürmen?
Kaèl nahm seinen Mut zusammen und klopfte. Als ihm niemand öffnete, drückte er die Klinke herunter. Vorsichtig trat er ein.
Der Vorraum war leer.
»Hallo?«, fragte er. Er hasste, wie dünn seine Stimme klang. Niemand antwortete, also wagte er sich weiter vor, langsam und angespannt, wie ein Fluchttier, das in ein fremdes Territorium vordrang.
Er trat in den Salon.
Eine Bewegung von Links, und sein Arm wurde hinter seinem Rücken verdreht, der andere fest umgriffen. Er wimmerte vor Schmerz.
»Oh«, sagte die Wache, die Augen weit aufgerissen. »Ich dachte, Sie wären …« Er wandte den Kopf. »Mylady, soll ich ihn loslassen?«
»Nein«, sagte seine Mutter scharf.
Kaèl spähte zur Seite, aber er bekam sie nicht ins Blickfeld. »Mutter«, keuchte er. »Was soll das?« Er fletschte die Zähne, versuchte, sich aus dem Griff zu winden, doch die Wache hielt seine Arme in einem eisernen Griff gefangen. »Lasst mich los!«
»Erst werden wir sehen, wer dein Ohrenstreicher ist.« Elìrios trat vor ihn, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Mundwinkel verzogen sich angeekelt nach unten.
Kaèl ignorierte den Blick. Er hatte mit Verachtung gerechnet und sich die gesamte Fahrt dagegen gestählt.
Was hatte sein Vater gesagt? ›Wir werden sehen‹? ›Werden‹?
Bedeutet das … dass sie Bendix noch nicht erwischt hatten?
Bendix war geschickt – vielleicht … hatte er sie rechtzeitig gesehen und war geflohen. Mit etwas Glück hatte er sogar seine Spuren hier verwischen können.
Kaèl beschloss, alles auf diese Karte zu setzen, und streckte trotzig das Kinn vor. »Hier ist kein Ohrenstreicher.«
Seine Mutter trat vor ihn. Kaèl hatte sie oft wütend erlebt, aber das, was ihr Gesicht jetzt ausdrückte, übertraf alles, was er von ihr kannte. »Jetzt lüg nicht. Die Kleidung im Schlafzimmer stammt nicht von dir. Hier haust ein Mensch.«
Unwillkürlich zog sich sein Magen zusammen. »Mutter«, hauchte er. »Er ist …«
Sie legte einen Finger auf die Lippen.
Die Wache reagierte und presste Kaèl die Hand vor den Mund.
Gespannt lauschten sie, wie sich jemand der Tür näherte und dabei ein fröhliches Liedchen pfiff. Von weitem rief er: »Kaèl, bist du da?«
Kaèl fluchte innerlich. Normalerweise war Bendix so vorsichtig. Wieso musste er ausgerechnet heute die zweite Kutsche übersehen?
»Die Heidelbeeren sind reif«, rief Bendix, »ich hab ganz viele gepflückt!«
Zum ersten Mal seit langer Zeit fiel Kaèl wieder auf, wie stark Bendix’ Dinstermorer Dialekt war. Zumeist vergaß Kaèl den Dialekt oder fand ihn sogar niedlich, aber jetzt klang es in seinen Ohren einfach nur nach Mensch.
Er linste zu seiner Mutter, die die Lippen fest aufeinanderpresste. Sie kochte vor Wut.
Es klapperte dumpf im Vorraum, und ein strahlender Bendix trat über die Schwelle. Er hielt ein Körbchen voll Heidelbeeren in der Hand, seine Lippen waren blau verschmiert. Zu allem Überfluss trug er den albernen Strohhut, über den Kaèl sich – zu Recht – seit Tagen lustig gemacht hatte. Aber wenigstens verdeckte das hässliche Ding seine Tätowierungen fast zur Gänze.
Elìrios warf Kaèl einen Blick zu, der so etwas wie ›So einer? Wirklich?‹ sagen sollte, aber Kaèl ertrug es stoisch. Wer von ihnen beiden führte denn bitte die dysfunktionale Beziehung?
Es war merkwürdig, die gesamte Kutschfahrt hatte er vor Angst kaum atmen können, aber jetzt, wo sowieso alles zu spät war, fühlte er sich merkwürdig ruhig. Es war einerlei, was er jetzt noch tat oder sagte, seine Eltern würden sowieso toben.
Das einzig Wichtige war, dass Bendix hier lebendig herauskam.
Bendix bemerkte sie und erstarrte. Das Körbchen fest gegen die Brust gepresst, schaute er von Kaèl zu seiner Mutter und dann wieder zu Kaèl. Seine Augen wurden schmal, als sein Blick auf die Wache hinter Kaèl fiel.
Kaèl warf ihm einen flehenden Blick zu. ›Lauf‹, dachte er, aber Bendix schien ihn nicht zu verstehen. Er machte eine unbeholfene Verbeugung. »Mylord. Wie von Ihnen befohlen, habe ich Heidelbeeren gesammelt.«
Kaèls Mutter lachte bitter. »Versucht er, so zu tun, als sei er hier angestellt?«, fragte sie Kaèl. »Wie überaus originell.« Sie machte eine ungeduldige Geste, und die Wache nahm die Hand von Kaèls Mund.
»Ich tue nicht …«, wollte Bendix protestieren, dann stöhnte er auf und griff sich an die Schulter. Mit großen Augen zog er einen Dorn daraus hervor. Ein Blutstropfen lief seinen nackten Arm herunter.
Fassungslos starrte Kaèl zu seiner Mutter, die immer noch das Blasrohr an den Mund gedrückt hielt. »Was hast du getan?«, schrie er. »Hast du ihn vergiftet?«
Sie setzte das Blasrohr ab. »Das ist ein Wahrheitsserum, eine Erfindung von Myriam. Damit wird er im Kerker williger erzählen, was genau zwischen euch passiert ist.« Sie verengte die Augen. »Von deinen Lügen habe ich genug.«
»Ich …« Kaèl biss sich auf die Innenseite seiner Wange. Was sollte er auch sagen? Es gab nichts zu beschönigen, er hatte gelogen und ihnen monatelang etwas vorgemacht.
Nervös schaute er zu Bendix. Dessen Gesichtsausdruck veränderte sich. Jegliche Anspannung wich daraus und machte einem breiten Lächeln Platz. Er stellte das Blaubeerkörbchen beiseite, und trat auf Akàri zu, mit ausgestreckter Hand. »Sie sind bestimmt Kaèls Mutter. Kaèl hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«
Akàri hob fassungslos die Brauen.
Das Ganze war so absurd, Kaèl hätte fast gelacht. »Aber Mutter«, neckte er. »Der Höflichkeit halber müsstest du jetzt sagen: ›Ich hoffe, nur Gutes.‹«
Akàris Augen sprühten Funken. Sofort bereute Kaèl seinen Witz.
Bendix zog seine Hand zurück. »Ich weiß, ich bin wahrscheinlich nicht gerade der ideale Schwiegersohn«, sagte er, verlegen lachend.
Was redete er da? Kaèl unterdrückte ein Stöhnen. Merkte Bendix nicht, dass er alles noch schlimmer machte? Das verdammte Serum!
Bendix breitete die Arme aus. »Aber ich liebe Kaèl und –«
Akàri lief rot an. »Wie kann ein Wurm wie du es wagen, von Liebe zu sprechen!« Sie schleuderte Bendix eine Schockwelle entgegen.
Jeden anderen hätte sie damit zerfetzt. Selbst Bendix riss es von den Füßen, aber er vollführte einen Salto in der Luft und landete auf dem Salontischchen, die Augen schreckgeweitet. »Das war unnötig«, sagte er langsam.
Akàri starrte ihn an, Bendix starrte zurück. Er hatte seinen Hut verloren, und die Tätowierungen leuchteten in der Nachmittagssonne.
»Akàri!«, rief Elìrios. »Er ist gefährlich!«
»Der Hexenjäger«, flüsterte sie. Kreidebleich trat sie erst einen Schritt zurück, dann noch einen. Sie hob die Hände. Ihre Finger zitterten, und Kaèl fühlte, wie sie ihre Magie konzentrierte. Ein Schauer lief seinen Rücken hinab. Seine Mutter rief alles ab, was sie an Magie aufbringen konnte. Sie war bereit zu töten.
Unter anderen Umständen hätte er Bendix gute Chancen ausgerechnet, aber seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte das Serum ihn mattgesetzt.
Kaèl holte tief Luft. Mit aller Kraft stampfte er der Wache auf den Fuß und riss sich los. Bevor die Wache reagieren konnte, sprang er vor Bendix. »Aufhören!«
»Kaèl’thas!«, schrie seine Mutter. »Komm da weg! Er ist ein Mörder!«
Kaèl schluckte, wich aber nicht zur Seite. Akàri und er tauschten einen langen Blick. In ihren Augen spiegelten sich unterschiedlichste Emotionen wider, Enttäuschung, Besorgnis und Liebe. »Ich … weiß«, flüsterte er schließlich.
Er packte Bendix an der Hand. »Komm!«, bellte er, schleuderte die Wachen mit einer Schockwelle beiseite und zog Bendix aus dem Salon.
Sie rannten.
oOOo
»Mir ist schwindelig«, murrte Bendix. »Lass uns eine Pause machen.«
»Das ist das Wahrheitsserum«, sagte Kaèl. »Es macht dich benommen, aber das wird in ein paar Stunden vorbeigehen. Bitte, komm weiter, sie sind immer noch hinter uns.«
Bendix schob die Unterlippe vor, wie ein bockiges Kind. »Ich brauche eine Pause!«
Kaèl seufzte resigniert. Auch er war erschöpft – sie waren seit fast zwei Stunden unterwegs, waren kreuz und quer durch das kleine Wäldchen gelaufen, um die Wachen abzuschütteln. Seine Füße schmerzten, und er hatte Durst, aber sie konnten jetzt nicht einfach stehen bleiben. Die Wachen durchkämmten immer noch den Wald, ab und an trug der Wind ihre Stimmen zu ihm.
In Kaèl stritten so viele Gefühle gleichzeitig. Einerseits war er sich sicher, einen Fehler gemacht zu haben. Er hatte seine Eltern vor den Kopf gestoßen und mit seinen schlechten Witzen alles nur noch schlimmer gemacht. Mit etwas Pech würden sie nie wieder mit ihm reden.
Andererseits war es das einzig Richtige gewesen, Bendix da rauszuholen. Ohne ihn hätte Bendix die Flucht nicht geschafft. Nicht in seiner derzeitigen Verfassung. Er brabbelte ununterbrochen vor sich hin. Schlimmer noch, durch das Wahrheitsserum schien er seine komplette Selbstkontrolle verloren zu haben. Er jammerte und wimmerte und blieb immer wieder stehen, um irgendetwas Banales zu kommentieren.
»Warum bist du dem verdammten Dorn nicht ausgewichen«, murmelte Kaèl, als Bendix zum dritten Mal anhielt, um ihm einen Schmetterling zu zeigen.
»Ich wollte nicht mit ihr kämpfen. Es ist immerhin deine Mutter! Sie … hat mich nervös gemacht, ich konnte mich nicht konzentrieren.«
An einem Bach blieb Bendix stehen. »Durst«, sagte er knapp und schöpfte mit den Handflächen Wasser in seinen Mund.
Kaèl seufzte. Er ging in die Knie und tat es ihm gleich.
»Komm weiter«, bat er, als sie ihren Durst gestillt hatten, aber Bendix schüttelte den Kopf. Er trat näher und strich über Kaèls Kopf. »Dein Haar ist so schön.«
»Das stimmt, aber wir sollten …«
»Ich könnte da ewig drüberstreichen. So schön. So hell und weich.«
»Bendix! Wir müssen hier weg!« Kaèl ruckte an seinem Arm.
Bendix murmelte etwas Unverständliches, aber zu Kaèls Erleichterung setzte er sich in Bewegung.
Nach wenigen Metern blieb er wieder stehen und drückte Kaèl einen Kuss auf den Mund. »Ich liebe Dich.« Er zog ihn enger. Seine Küsse wurden heiß und verzweifelt, mehr Zähne als Lippen, und Kaèl gab nach. Er sank in Bendix’ Arme, öffnete den Mund.
Bendix fuhr mit den Zähnen seinen Hals hinab, biss in die empfindliche Stelle zwischen Schulter und Nacken, und Kaèl erschauerte. Das Beißen wurde zum Saugen, so fest, dass Kaèl vor Schmerz aufschrie.
Er drückte Bendix von sich. »Was soll das? Willst du mich … markieren?«
»Mein Freund«, verkündete Bendix mit Grabesstimme. Zufrieden betrachtete er sein Werk.
Kaèl rieb sich die schmerzende Haut. »Äh, ja … aber …«
»Das sollen sie ruhig alle wissen. Dass ich dein Freund bin. Besonders deine Mutter.«
»Das weiß sie. Genau das ist ja das Problem.«
Bendix kicherte. »Aber weiß sie auch, was dein Freund gerade am liebsten mit dir machen würde?«
»Bendix … nicht jetzt.«
»Du willst also nicht, dass ich …« Bendix beugte sich vor und flüsterte Kaèl etwas ins Ohr.
Kaèl war sprachlos. Dieses Serum … Er hatte nicht einmal gewusst, dass Bendix solche Worte überhaupt kannte. Und, verdammt – es erregte ihn. Wenn sie nicht gerade in dieser unmöglichen Situation stecken würden, dann …
Kaèl atmete tief ein und drängte die Gedanken fort. »Wir müssen weiter!«
»Du bist verlegen«, sagte Bendix. »Weil ich das gesagt habe?«
»Ich bin nicht verlegen!«
»Deine Ohrenspitzen sind rot. Das sind sie immer, wenn du verlegen bist.«
»Ist das so?«, fragte Kaèl, während er Bendix auf einen versteckten Pfad drängte.
»Ja«, sagte Bendix im Brustton der Überzeugung. »Als ich dich noch nicht richtig kannte, konnte ich deinen Gesichtsausdruck nicht lesen. Ich hab mir erst sehr viel später einen Reim auf dich gemacht.«
»Wirklich?«, fragte Kaèl. Er fand sich immer viel zu offensichtlich.
»Ja, wirklich. Du hattest immer dieses uninteressierte, unbewegliche Adeligengesicht. Und ich wollte so gern, dass du mal lächelst, oder lachst, oder auch nur irgendwas machst. Die Eichhörnchen haben dich dann endlich aus der Reserve gelockt. Da hast du zum ersten Mal gelacht, das war schön.«
»Aber …« Kaèl runzelte die Stirn. »Das mit den Eichhörnchen war doch ganz am Anfang. Da waren wir noch Feinde. So früh wolltest du mich zum Lachen bringen?«
Bendix schaute beiseite. »Ich … wollte verstehen, was in dir –« Er sog scharf die Luft ein. »Oh nein – ich habe Nuri zurückgelassen. Wir müssen zurück und sie holen!«
»Nein!« Kaèl seufzte verzweifelt. Wann bekam Bendix endlich seine Impulskontrolle zurück?
»Aber du hast mir Nuri geschenkt!«, insistierte Bendix. »Sie ist das Einzige, was ich von dir habe. Ich brauche sie, als Erinnerung an dich, bevor du –«
»Bendix«, unterbrach ihn Kaèl. Er schüttelte ihn. »Wenn wir jetzt zurückgehen, dann würden sie dich umbringen. Verstehst du das? Meine Mutter würde dich höchstpersönlich töten, das wollte sie die ganze Zeit, ich konnte das spüren.«
»Deine Mutter ist eine verfluchte …« Bendix schlug sich die Hand vor den Mund. »Entschuldige«, murmelte er. »Ich … sollte so nicht reden, vor allem nicht über deine Mutter. Aber ich kann mich nicht kontrollieren.« Tränen standen in seinen Augen.
Kaèl zog ihm die Hand vom Mund und drückte sie sanft. »Ich weiß.«
»Sie hasst mich so«, flüsterte Bendix. »Dabei kennt sie mich gar nicht. Ich hab mir Mühe gegeben. Ich war nett!«
»Ja, das warst du.« Kaèl seufzte leise. »Du bist immer nett. Aber darauf kommt es nicht an, nicht bei meinen Eltern. Du bist der Hexenjäger und damit kein Umgang für mich.«
Er zog Bendix weiter, durch einen schmalen Tunnel inmitten der hohen Sträucher. Kaèl hatte diesen Weg vor ein paar Jahren entdeckt, er führte zu einem versteckten Strand, fernab aller neugierigen Blicke.
»Hier«, sagte er, als sie auf den feinen Sand traten. Er nickte mit dem Kopf zum Bach. »Dort gibt es Trinkwasser, und wir können in der Höhle dahinten Schutz suchen, da entdecken sie uns nicht. Und irgendwo muss doch auch das kleine Boot –« Er stieß einen triumphierenden Laut aus. »Wunderbar! Damit können wir fortrudern, sobald es wieder hell ist.«
»Hmm«, machte Bendix teilnahmslos.
»Bist du immer noch traurig wegen meiner Mutter?« Kaèl blickte Bendix ins Gesicht. Seine Unterlippe zitterte verdächtig, und seine Augen waren gerötet. »Das … was du gesagt hast«, begann Kaèl vorsichtig. »Das mit dem Schwiegersohn … das meintest du so, nicht wahr? Du wärst gern mein –«
»Ich weiß, dass das nicht geht«, unterbrach ihn Bendix. Er wischte sich die Augen. »Aber manchmal wünschte ich … das wir ein ganz normales Paar wären. Eines, das sich nicht verstecken muss.«
»Wir … sind aber kein normales Paar.«
Bendix schaute zu Boden. Langsam ließ er sich in den Sand sinken. »Ich weiß«, flüsterte er. »Du bist viel zu gut für mich. Aber ich wünschte …« Er hielt sich den Mund zu und schüttelte entschieden den Kopf. »Ich darf so nicht reden. Ich sollte nicht mal so denken. Wann hört das mit dem Serum endlich auf?«
Kaèl kniete sich neben ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. »Bald. In spätestens ein paar Stunden, hoffe ich.«
»Du darfst meine Worte nicht ernst nehmen, hörst du? Ich jammere nur rum, aber ich weiß eigentlich genau, dass du zu deinen Eltern gehen und dich entschuldigen musst. Du bist ihr einziges Kind, sie werden dir schon verzeihen.«
»Wer weiß«, sagte Kaèl.
»Doch, das werden sie. Du wirst ihnen sagen, dass ich dich getäuscht habe. Dass du nicht wusstest, wer ich bin. Am besten sagst du, dass wir uns erst seit ein paar Tagen kennen, dann werten sie das als unwichtigen Fehltritt.«
»Aber –«
Bendix unterbrach ihn mit einer hektischen Geste. »Du musst deine Haut retten. Du hast es doch selbst gesagt, es ist egal, was ich tue, für sie bleibe ich immer ein Mörder. Dann kannst du mir auch alle Schuld zuschieben.«
»Bendix«, sagte Kaèl leise. »Wenn ich zurückgehe, dann kann ich dich nie mehr sehen. Sie würden mich von da an überwachen.«
»Ich weiß.« Bendix schloss die Augen, schluckte hart. »Ich hasse das«, brach es aus ihm heraus. »Ich würde alles tun, um bei dir zu bleiben. Aber du würdest auf Dauer nicht zufrieden sein und das würde mich traurig machen. Ich … glaube nicht, dass einer wie du ohne deinen Titel …« Er hielt sich mit beiden Händen den Mund zu.
»Das denkst du von mir?«, fragte Kaèl. »Dass mir der Titel so wichtig ist?«
Die Hand vor dem Mund nickte Bendix.
Kaèl senkte den Kopf. Er malte ein paar Striche in den Sand, dabei versuchte er, sich ein Leben ohne Geld und Einfluss vorzustellen. Es ging nicht. »Vielleicht hast du recht«, sagte er schließlich.
»Ich hasse es recht zu haben«, nuschelte Bendix durch seine Finger.
Kaèl zuckte mit den Schultern. Er zwang sich, zu lächeln. »Kommt ja zum Glück selten vor.«
Bendix musterte ihn ungläubig, dann nahm er die Hände vom Mund und lachte. »Das werde ich vermissen«, prustete er. »Diese kleinen Frechheiten immer. Du hast eigentlich ständig verdient, dass dich jemand so richtig hart …« Wieder presste er die Hände vor den Mund, die Augen weit aufgerissen.
Kaèl lachte. »So richtig hart … was, Bendix? Meinst du das, was du in mein Ohr geflüstert hast? Das solltest du mir nächstes Mal zeigen, wenn ich wieder frech bin.« Ihm fiel ein, dass es kein ›nächstes mal‹ gab, und sein Lachen erstarb.
»Was hast du?«, fragte Bendix.
»Ich …« Kaèl senkte den Kopf. »Nichts.«
Daraufhin schwiegen sie eine Weile. »Und was ist mit dir?«, setzte Kaèl an. »Was tust du, wenn ich zu ihnen zurückgehe?«
Bendix lächelte schief. »Ich komme allein klar. Ich rudere mit dem Boot fort und baue mir eine neue Hütte in einem anderen Wald. Vielleicht im Ahornhain, da hatte ich zuerst mal überlegt, zu bleiben.«
»Bendix«, sagte Kaèl leise. »Das ist gefährlich.«
»Mag sein«, erwiderte Bendix. »Aber du brauchst deine Familie und du brauchst deinen Titel. In ein paar Jahren wirst du ein ganz wundervoller Lord sein, und ich …«, seine Stimme zitterte, »… würde es mir niemals verzeihen, wenn du alles wegen mir verlierst.« Er lächelte traurig. »Also geh schon.«
»Ich kann dich nicht in dem Zustand allein lassen. Nicht, solange das Serum noch wirkt.«
Bendix schüttelte den Kopf. »Du solltest deine Familie nicht so lange warten lassen. Dann werden sie nur noch wütender.«
Kaèl drückte Bendix’ Schulter. »Ich bleibe erstmal hier bei dir, Ende der Diskussion!«
»Wie du willst. Ich bin zu erschöpft, um darüber zu streiten«, sagte Bendix. Er schien auch zu erschöpft zu sein, um seine Mimik zu kontrollieren, denn er wirkte über alle Maßen erleichtert.
Kaèl lächelte. Er setzte sich und breitete die Arme aus. »Komm.«
Sie betteten sich auf den feinen Sand, Bendix in Kaèls Armen und Kaèl zog ihn fest an seine Brust, so fest, dass er Bendix' Herzschlag spürte. Er deckte sie mit seinem Überwurf zu.
»Schön«, sagte Bendix und schloss die Augen. Er griff nach Kaèls Hand vor seiner Brust und verschränkte ihre Finger. Als wollte er sicherstellen, dass Kaèl bei ihm blieb. Als würde Kaèl einfach gehen.
Innerhalb von Minuten war Bendix eingeschlafen. Das Serum hatte ihn ausgelaugt. Sein Gesicht entspannte sich, und er wirkte jung und verletzlich. Aber das würden seine Eltern niemals sehen. Für sie würde Bendix immer ein Mörder bleiben.
Kaèl wollte nicht darüber nachdenken, was in ein paar Stunden sein würde. Er wollte sich einzig und allein auf die Berührung und Bendix’ Duft konzentrieren. Seinen warmen, atmenden Körper in seinen Armen.
Seine Anspannung löste sich, und irgendwann fielen auch ihm die Augen zu. Ihre Flucht, seine Ängste hatten ihn bis auf die Knochen ermüdet. Er biss sich auf die Zunge. Sie hatten nur noch diese wenigen Momente miteinander, und die würde er nicht verschlafen. Er würde über Bendix wachen und jeden Atemzug mit ihm auskosten. Er war so schön. Kaèl würde ihn die gesamte Nacht anschauen.
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Als die Sonne wieder aufging, weckte er Bendix mit einem Kuss.
Bendix blinzelte zweimal. »Ist es schon Morgen?« Seine Stimme klang belegt.
Kaèl nickte. »Wie geht es dir? Das Serum?«
»Mir …« Bendix schloss zwei Atemzüge lang die Augen, als würde er in sich hineinhorchen. »… geht es gut, glaube ich.«
»Dann …«, Tränen brannten in Kaèls Augen, »sollte ich gehen.«
Bendix nickte, ohne ihn anzusehen. »Das solltest du.«
Er setzte sich auf, aber Kaèl verharrte in seiner Lage, unwillig die Hände von Bendix zu nehmen. »Ich kann nicht«, sagte er. »Ich kann das nicht.«
Bendix schwieg, und Kaèl wusste nicht, was er tun sollte, aber er hielt diese Spannung nicht aus, also schlang er seine Arme um Bendix’ Nacken und stieg in seinen Schoß. Er hielt ihn fest, so fest, wie er konnte, und vergrub sein Gesicht an Bendix’ Schulter, damit der seine Tränen nicht sah.
»Kaèl«, sagte Bendix rau. »Du … musst jetzt gehen. Wenn du jetzt nicht gehst, schaffe ich es nicht.«
Kaèl erstarrte. »Ja«, sagte er widerwillig. Er löste sich und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Kurz verharrte er vor Bendix, dann seufzte er leise und drückte sich hoch.
Bendix hatte recht. Er musste sich seiner Familie stellen.