»Das riecht köstlich«, sagte Kaèl heiter, als würde er nicht die unterkühlte Angespanntheit um ihn herum bemerken.
Warum auch? ›Unterkühlte Angespanntheit‹ war einer der Elementarzustände seiner Eltern, er benötigte ebenso wenig Anerkennung, Wertschätzung oder Ermutigung wie der tägliche Sonnenaufgang.
Die Bediensteten hatten sich alle Mühe gegeben, der Tafel mit Blumengebinden einen sommerlich-fröhlichen Anstrich zu geben, aber so steif wie seine Eltern dasaßen, betonte der bunte Hintergrund die schlechte Stimmung noch zusätzlich. Akàri und Elìrios würdigten einander keines Blickes. Nicht einmal ihr Essen hatten sie angerührt, dabei war Kaèl gut eine Viertelstunde zu spät im Speisesaal erschienen, weil Bendix ihn ›aufgehalten‹ hatte. Wahrscheinlich waren der Fisch und die Karottenspalten, die sorgfältig auf ihren Tellern drapiert waren, längst kalt geworden.
Kaèl setzte sich, legte sich die Serviette auf den Schoß und hielt dem Diener sein Glas hin. »Habt ihr auf mich gewartet? Wie nett!«
»Du bist spät«, herrschte Akàri ihn an.
»Ja«, sagte er leichthin. »Ich habe zu lange am Strand gelesen.«
Elìrios musterte ihn ungläubig, aber Kaèl zuckte nur mit den Schultern. Er fühlte sich wunderbar – wunderbar geküsst, wunderbar gefickt, sogar auf eine Weise wunderbar wund, weil Bendix wunderbar tief in ihm gewesen war, und er würde sich jetzt nicht die Stimmung verderben lassen. »Lasst es euch schmecken«, sagte er und griff nach dem Löffel.
»Wie lange willst du diese weißen Gewänder noch tragen?«, fragte sein Vater.
Kaèl ignorierte den Kommentar. Die Orangensuppe schmeckte erfrischend, genau das Richtige nach einem heißen Tag wie diesem.
»Du siehst aus«, fuhr Elìrios fort, »als würdest du auf eine Beerdigung fahren.«
Kaèl schaute auf. Elìrios’ Augen ruhten immer noch auf ihm, allmählich wurde das Ganze unangenehm. Seufzend legte er den Löffel beiseite. »So?«, sagte er und zog das Wort bewusst in die Länge. »Willst du mir damit irgendetwas mitteilen, Vater?«
»Ich frage mich nur, was deine Pläne sind. Du wirst nächste Woche zweiunddreißig, allmählich kommst du in ein schwieriges Alter, was den Heiratsmarkt angeht. Mutter sieht das ähnlich. Sie macht sich Sorgen um dich.«
»Großmutter?«, wiederholte Kaèl.
»Deshalb wird sie uns Übermorgen beehren«, sagte Akàri finster. »Sie will für ein paar Tage bleiben.«
Jetzt verstand er die schlechte Stimmung. Wann war ein Besuch der Großmutter jemals friedlich abgelaufen?
Er linste zu seiner Mutter. Akàri sah aus, als wollte sie einen Mord begehen, Kaèl wusste nur nicht, ob an ihm, weil er immer noch trauerte, oder an Elìrios, weil er Alùna nicht abgewimmelt hatte. Wahrscheinlich beides.
»Ich sehe«, murmelte er.
Schweigend aßen sie weiter. Kaèls gute Laune war vergangen. Er würde Bendix nicht wie geplant die nächsten Tage besuchen können. Und das, nachdem alle seine Freund*innen fort aus seinem Leben waren, und er nur noch Kaèl hatte.
Das fing ja gut an.
Zurück in seinen Gemächern schrieb er Bendix. Er schrieb ihm, dass er ihn nicht wie geplant besuchen konnte, weil seine Großmutter seine ständige Präsenz erforderte. Dass ihn vor ihren spitzen Kommentaren graute, und schlimmer noch, dass sie ihn bald unter der Haube sehen wollte.
Bendix’ Antwort kam knapp eine Stunde später:
Lieber Kaèl,
ich kann mir vorstellen, dass du enttäuscht bist. Ich bin auch traurig, dass wir uns die nächsten Tage nicht sehen können und besonders tut mir leid, dass du jetzt so anstrengende Tage vor dir hast. Das wird sicher nicht leicht mit deiner Omi (obwohl ich immer noch kaum glauben kann, dass es so böse Omis gibt – ist das eine typische Magi-Sache? Alle Omis, die ich aus Dinstermor kenne, waren nett!)
Versuch einfach, sie nicht zu sehr zu beachten. Man sollte Sachen, die man doof findet nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken.
Wieso konzentrieren wir uns nicht auf unser Wiedersehen? Ich habe im Schuppen ein paar Seile entdeckt und schon einige Ideen, was ich mit dir anstelle, sobald du wieder hier im Strandhaus bist …
Vielleicht denkst du einfach daran, wenn sie wieder mit dir schimpft, dann geht die Zeit schneller herum.
Ich liebe Dich. Immer.
Dein Bendix.
Lächelnd presste Kaèl den Brief an sein Herz.
oOOo
Kaèl gähnte herzhaft. Er war bereits seit Sonnenaufgang auf den Beinen, etwas, was er niemals freiwillig tun würde. Aber heute war nicht irgendein Tag, heute wanderten die Menschen der umliegenden Dörfer nach Aomòri aus.
Er war froh, auf die Kutsche verzichtet zu haben, die Fahrstraßen waren überfüllt von den Planwagen, die er organisiert hatte, um die Menschen und ihre Habseligkeiten zu transportieren.
Statt über die Hauptstraßen lotste er Mìra über kleinere Feld- und Waldwege bis zur Grenzstation. Es war merkwürdig, viele von den Feldern, an denen er vorbeiritt, würden im nächsten Jahr brachliegen. Was das für sein Land bedeutete, mochte er sich nicht ausmalen.
An der Grenze herrschte reges Treiben – Myriam hatte die Zahl der Wachen verdreifacht, aber es waren immer noch viel zu wenige für den nicht enden wollenden Strom aus passierenden Wagen, Eseln und Pferden. Es roch nach Pferdeäpfeln, und die Luft war erfüllt von einer Kakophonie aus weinenden Kindern, blökenden Eseln und streitenden Leuten.
Er zügelte Mìra und saß ab. Eine der Wachen nahm die Zügel mit einer tiefen Verbeugung entgegen. »Mylord, es ist eine Ehre, dass Sie …« Weiter kam er nicht. Kaèls Aufmerksamkeit war längst woanders.
»Wirst du endlich spuren, du Menschensau?«, zischte jemand hinter ihm.
Er drehte sich um. Eine der Wachen, eine große Frau in der silbrig-grünen Uniform Fukuòkas, hatte einen glatzköpfigen Mann am Kragen gepackt und schüttelte ihn grob.
War das nicht der Wirt aus Morlà?
Sie presste sie ihn gegen die Wand von einem der Wagen. Er wimmerte leise, hob die Hände über den Kopf, aber wehrte sich nicht.
Kaèl baute sich vor den beiden auf, die Hände in die Hüften gestützt. »Ich wäre an Ihrer Stelle freundlicher zu den Menschen«, sagte er scharf.
Die Wache wandte den Kopf. Ihr wutverzerrter Gesichtsausdruck wich einer entsetzten Miene. »Mylord …«, stammelte sie hochrot, »ich ahnte nicht, dass …«
»Wenn ich so etwas noch einmal sehe«, schnitt er ihr ins Wort, »sind Sie entlassen. Sagen Sie das auch Ihren Kolleg*innen!«
Er machte eine unmissverständliche Geste, und sie ließ den Wirt frei.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er den Wirt.
Der nickte verdattert. Er strich seine Kleidung glatt und machte eine ungelenke Verbeugung. »Es war nur ein Missverständnis.«
»Solche ›Missverständnisse‹ kenne ich«, grollte Kaèl. »Interessanterweise gehen sie immer auf Kosten derer, die sich nicht wehren können.« Mit einem Kopfnicken wies er auf die Hellebarde in der Hand der Wache. »Sie können nichts als kämpfen und andere verletzen, aber niemand hat Ihnen beigebracht, wie man anderen hilft. Aber das wird sich bald ändern«, fügte er grummelnd hinzu. »Es wird sich einiges ändern!«
Er warf der Wache einen bitterbösen Blick zu. »Ab jetzt werden Sie die Menschen in Frieden lassen. Zollen Sie ihnen Respekt – nur wegen ihrer harten Arbeit hatten Sie ihr täglich Brot auf dem Teller! Sie werden noch sehen, wie das wird, wenn sie fort sind!«
Die Frau zog den Kopf ein und trat ein paar Schritte zurück.
Der Wirt schien am Bein verletzt worden zu sein, also fasste Kaèl ihn kurzerhand am Arm und geleitete ihn in das Innere des Planwagens. Zu seiner Überraschung saß dort auch Margret auf einer Holzbank und strickte. »Margret«, rief er.
Sie blickte hoch. Als sie ihn erkannte, lächelte sie. »Carl!«
Kaèl trat näher. »Bendix hat mir etwas für die Kinder mitgegeben … Anna und wie sie alle heißen.« Er holte den Beutel aus seiner Tasche, entschrumpfte ihn und drückte ihn ihr in die Hand.
Der Wirt riss die Augen auf. »Er hat etwas von Bendix?«, raunte er Margret zu.
Kaèl senkte die Stimme. »Ja, Bendix. Einen halben Kopf kleiner als ich, violette Tätowierungen im Gesicht … muss ich genauer werden?«
»So einen kennen wir nicht!«, rief der Wirt, aber Margret schob ihn beiseite. »Peter, lass mich mal mit dem feinen Herrn reden!«
Sie tauschten einen langen Blick, bis der Wirt beiseite schaute und grummelnd zum hinteren Teil des Planwagens humpelte.
»Nicht erschrecken!« Kaèl wirkte einen Stillezauber über sich und Margret.
Sie blinzelte verwirrt, fing sich aber schnell wieder.
»Peter meint das nicht böse«, sagte sie. Sie runzelte die Stirn. »Was ist das für ein Hall?«
»Das kommt von meinem Stillezauber«, erklärte er, »dadurch kann uns niemand Unbefugtes zuhören … zu unserer und Bendix’ Sicherheit.«
»Ach so.« Margret warf ihm einen ehrfürchtigen Blick zu. »Ich vergesse immer, dass du zaubern kannst.«
Fast hätte Kaèl gelacht. Vergessen, dass er zaubern konnte? Er? Erzmagi, Mitglied des Rates der Zwölf?
Er musste hart damit kämpfen, nicht die Augen zu verdrehen.
Aber was weiß Margret schon von diesen Dingen …
»Weißt du«, fuhr sie fort, »Peter macht sich einfach nur Sorgen um Bendix.«
»Zurecht.«
Sie nickte. »Ja, es ist gut, dass er da acht gibt. Aber das machen wir alle hier.«
»Zurück zum Eigentlichen.« Kaèl wies mit einem Kopfnicken auf den Beutel auf ihrem Schoß. »Bendix hat in den letzten Tagen einiges für die Kinder gebastelt, damit sie ihr Training auch ohne ihn fortsetzen können.«
Margret griff in den Beutel und zog eines von den vielen Holzschwertern hinaus. »Oh, da werden sie sich aber freuen.« Langsam fuhr sie mit den Fingern die rundgeschliffene Klinge entlang.
»Es kommt noch besser.« Kaèl zog ein Buch aus seiner Brusttasche und reichte es ihr. »Hier hat er für sie Trainingsaufgaben notiert und Techniken beschrieben. Sie sollten mit etwas Fleiß ja bald selbst in der Lage sein, derartige Texte zu lesen.«
Bendix hatte in dem Buch auch viel gemalt; Meditationshaltungen, Kampfstellungen sowie Bildreihen von Handkantenschlägen und Fußtritten – alles Techniken, die er Kaèl in ihren Kämpfen nie hatte spüren lassen. Nicht einmal ganz zu Anfang, als selbst Kaèl sich noch nicht über seine Gefühle im Klaren gewesen war.
Im Rückblick konnte Kaèl nur müde darüber lächeln, dass er damals nicht bemerkt hatte, wie sehr Bendix ihn geschont hatte. Auch wenn Bendix es niemals zugeben würde, auf eine Art hatten sie sich schon damals einfach nur nah sein wollen.
oOOo
Zurück im Schlosshof sehnte er sich nach einem duftenden Bad und seinem Lesesessel. Nach dem dreistündigen Gewaltritt war er schweißüberströmt, und alle Knochen taten ihm weh.
Auch der Aufenthalt an der Grenzstation war anstrengend gewesen. Nachdem er die Attacke auf den Wirt hatte mitansehen müssen, traute er den Wachen nicht mehr und war länger geblieben, als geplant, so lange, bis der letzte Planwagen die Grenze passiert hatte.
Zum Glück würde es den Menschen in Aomòri besser ergehen, dort waren die Wachen den Umgang mit Menschen gewöhnt, und Yùna hatte höchstpersönlich Vorkehrungen für ihre Sicherheit getroffen.
»Mylord, da sind Sie ja endlich!«, tönte es ihm entgegen, als er in einem Nebeneingang verschwinden wollte.
Es war sein neuer Kammerdiener, dessen Name Kaèl sich immer noch weigerte, zu lernen.
»Ihre Gäste erwarten Sie bereits!«
Gäste …?
Er hatte niemanden geladen. Einzig Alùna hatte sich angekündigt aber das erst morgen.
»Ist meine Großmutter verfrüht eingetroffen?«, fragte Kaèl.
»Nein, Mylord, aber die beiden jungen Whitecrows sind hier. Sie sind extra für Sie angereist, und würden gern von Ihnen den Lustgarten gezeigt bekommen.«
Die Whitecrows? Nie im Leben hätte er Finley und seine nichtssagende Schwester eingeladen … es sei denn …
Gwenhwyfar Whitecrow war Junggesellin im heiratsfähigen Alter.
Was war, wenn seine Großmutter – oder gar seine Eltern im vorauseilenden Gehorsam – das Ganze arrangiert hatten?
»Nein, nein, nein«, presste er zwischen den Zähnen hervor.
»Da haben Sie recht, es ist ungünstig, dass Sie so spät und erhitzt angekommen sind. Aber keine Sorge, wir konnten die Gäste mit Tee ablenken. Ich helfe Ihnen rasch, sich frisch zu machen, und dann suchen wir Ihnen ein schönes buntes Gewand und –«
»Weiß«, korrigierte Kaèl. »Wann begreifen Sie das endlich? Ich bin in Trauer und trage das Jahr über Weiß.«
»Ihr werter Herr Vater meinte dazu–«
Kaèl schnaubte frustriert. Bei allem, was er in der letzten Zeit hatte organisieren müssen, hatte er kaum Gelegenheit gehabt Nyòkos Tod zu reflektieren – das Einzige, was ihm blieb, um ihr Respekt zu zollen war die allabendliche Kerze, die er für sie anzündete und seine weiße Kleidung. Das würde er nicht aufgeben.
Mister Taryòn hätte ihn verstanden. Aber der hatte Nyòko auch gekannt und geschätzt.
Sein Kammerdiener verbeugte sich. »Dann suche ich Ihnen ein weißes Gewand heraus, Mylord. Aber bitte, kommen Sie mit.«
Kaèl unterdrückte einen Seufzer. Am liebsten hätte er sowohl seine ›Gäste‹ als auch den Diener ignoriert, aber wie viel Widerstand wollte er seiner Familie entgegenbringen? Besonders jetzt, wo Bendix im Strandhaus lebte und vollständig von ihm abhängig war – konnte er es sich da erlauben, seine Familie gegen sich aufzubringen?
Er nickte dem Diener zu. »Machen wir uns ans Werk.«
So schlimm würde dieser Spaziergang durch den Lustgarten schon nicht werden …
oOOo
»Verzeiht mir«, sagte Kaèl, als er Finley und Gwenhwyfar zur Begrüßung die Hand reichte. »Ich war an unserer gemeinsamen Grenze und habe die Auswanderung der Menschen Fukuòkas überwacht. Ihr habt sicherlich davon gehört?«
»Gehört ist gut«, stöhnte Finley. »Wir mussten es heute am eigenen Leib erfahren. Alle Hauptstraßen waren verstopft von dem Pöbel, wir mussten einen Umweg nehmen. Und das bei der Hitze!«
»Und erst dieser Lärm und Gestank«, ergänzte Gwenhwyfar. »Es ist bewundernswert, dass du deine Pflichten so ernst nimmst, mir hat das ja von der Kutsche aus schon gereicht.«
Kaèl lächelte diplomatisch. »Meine Präsenz war vonnöten. Die Wachen sind gegen Menschen voreingenommen, und ich musste einige gewalttätige Übergriffe verhindern.«
»Wieso sind dir diese Menschen so wichtig?«, fragte Gwenhwyfar.
»Wieso lässt es so viele Magi kalt, dass sie misshandelt werden?«, konterte Kaèl.
Finley schnalzte mit der Zunge. »Ach, Kaèl. Du bist so ruhelos. Man sollte solche Kleinigkeiten nicht so ernst nehmen. Was mir bei alltäglichen Ärgernissen immer hilft, ist Achtsamkeit. Ich konzentriere mich auf das Schöne und sei es noch so klein.« Er breitete die Arme aus. »Ein schmackhaftes Glas Wein, eine laue Sommerbrise und man kommt wieder auf schönere Gedanken.«
»Das kenne ich zur Genüge«, knurrte Kaèl. »Ich habe mein Leben lang weggesehen und mich dabei schuldig gemacht.«
Gwenhwyfar lachte affektiert. »Lasst uns von angenehmeren Dingen sprechen. Dein Vater hat uns versichert, dass die Feigen in der Orangerie schon reif sind?«
Kaèl nickte. Feigen essen, das war eine gute Idee. Während sie mit Kauen beschäftigt waren, würden die beiden hoffentlich weniger reden.
Sie hakte sich bei ihm unter. Ihn störte die Berührung, aber er ließ es über sich ergehen. Fest schloss er die Finger um Bendix’ Brief in seiner Tasche. Dieses Mal hatte er es nicht übers Herz gebracht, ihn zu verbrennen, er hatte ihn aufbewahrt, um sich daran zu erinnern, wofür er das alles hier ertrug.
»Reist du gern?«, fragte sie.
»Ein wenig«, erwiderte er. »Wieso?«
»Meine Schwester ist eine Abenteuerin«, sagte Finley stolz. Sie hat bereits alle Weltmeere besegelt.«
»Oh?«, merkte Kaèl auf. Das war eine angenehme Überraschung. Vielleicht wäre eine Hochzeit mit ihr doch nicht so abwegig – mit etwas Glück würde er sie bei all ihrer Reiserei nur selten zu Gesicht bekommen. Viel Zeit für Bendix und ihn.
»Ich bin kürzlich auf einem unserer Handelsschiffe gesegelt. Diesmal ging es tief in den Urwald, ins Land der Araluniaplantagen.« Sie lachte leise. »Wir tauschen dort ein paar magische Tränke und Tinkturen gegen mehrere Tonnen Araluniabeeren– ein profitables Geschäft. Die Leute dort haben keinerlei Idee von Geld oder Wert. Sie haben ja nichts, leben isoliert, in einfachen Hütten.«
Kaèl beschlich das ungute Gefühl, dass das hier keine angenehme Unterhaltung werden würde. Auf einmal fühlte er sich unfassbar müde.
»Und sie sind immer so dankbar für unsere Waren«, redete Gwenhwyfar weiter. »Aber kein Wunder, Leute wie sie kennen ja auch keine richtige Magie.«
»Das stimmt so nicht«, widersprach Kaèl. »Sie praktizieren eine Art der Magie, die der Unsrigen in vielen Aspekten überlegen ist. Talismane zum Beispiel –«
»Talismane?«, unterbrach ihn Gwenhwyfar. »Diese albernen Anhänger, die sie dort alle mit sich herumtragen?«
Er seufzte. »Talismane sind eine hervorragende Methode, um Zauber über lange Zeit konstant zu wirken. Sie wirken aber auch andere Techniken, die beispielsweise unserer Knotenmagie ähneln. Damit können Zaubersprüche auf Gegenstände geschrieben und bei Bedarf explosionsartig entladen werden, dadurch –«
Haha«, lachte Gwenhwyfar. »Ich sehe, diese Wilden und ihre Zaubertricks haben es dir angetan. Du solltest wohl einmal mit mir reisen!«
Kaèl schüttelte es. »Diese ›Wilden‹?«, wiederholte er ungläubig. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
Er ärgerte sich über sich selbst. Wenn er nicht so erschöpft wäre, hätte er ihr vielleicht Kontra geben können, aber so fehlten ihm schlichtweg die Worte.
Zehn Minuten später bin ich auch schlagfertig, dachte er.
»Ach Gwen«, sagte Finley mit einem Blick auf Kaèls säuerliche Miene. »Unser Kaèl ist doch ein Weltverbesserer. Und belesen, da müssen wir vorsichtig sein, was wir sagen, nicht wahr, Kaèl?« Lachend klopfte er ihm auf die Schulter.
Kaèl trat einen Schritt beiseite. Er wollte nicht, dass dieser Kerl in antatschte, aber Finley schien sein Unwohlsein nicht zu bemerken. Er plapperte munter weiter, irgendetwas von ›primitiver Kunst‹. Kaèl versuchte, ihn auszublenden.
Ihm fehlte Nyòko. Mit ihr hatten ihm diese ganzen sozialen Veranstaltungen fast schon Spaß bereitet. Charmant und wortgewandt wie sie gewesen war, hätte sie diese verbalen Entgleisungen mit einem sarkastischen Spruch abgetan und dabei so breit gelächelt, dass niemand ihr hatte böse sein können. Genau das hätte er jetzt gebraucht.
Nein, dachte er. Wenn sie noch lebte, dann wären die beiden Whitecrows überhaupt nicht hier, und er wäre auch nicht erschöpft, weil er wochenlang einen Ausweg für die Menschen hatte organisieren müssen.
Wahrscheinlich würden Nyòko und er irgendwo im Schatten sitzen und über Politik und Ethik diskutieren – die angenehme Art von Diskussion, in der keine Überzeugungsarbeit geleistet werden musste. Sie hätten von einer besseren Welt geträumt, gescherzt und dabei Wein getrunken. Wenn auch nur diesen unerträglich Süßen, den sie so gemocht hatte.
Der Gedanke daran ließ ihn schmunzeln, aber gleichzeitig zog sich sein Herz zusammen, dass es schmerzte. Oh, er wünschte, sie würde noch –
Kaèl schreckte hoch. Sowohl Finley als auch Gwenhwyfar musterten ihn erwartungsvoll.
Was wollen sie von mir?
Hatten sie etwas gefragt? Musste er lächeln und nicken, weil sie wieder irgendeine ihrer Geschichten zum Besten gegeben hatten?
Etwas in ihm zerbrach. Er konnte sich nicht verbiegen, nicht so. Er ertrug sie und ihr angepasstes, unreflektiertes Gerede nicht einen Augenblick länger.
»Ich habe eine Migräneattacke«, krächzte er. »Wir müssen zum Schloss.« Mit den Worten drehte er um und marschierte zurück. Gwenhwyfar und Finley folgten ihm verunsichert.
Im Empfangszimmer angelangt, nickte er den beiden zu, murmelte ein paar entschuldigende Worte und verschwand.
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er auf.
Er hastete, nein, er flog förmlich die Treppe hinauf. Voller Wut stürmte er in Akàris Lesezimmer. »Mutter!«, rief er schon von Weitem.
Akàri saß auf einem Sessel und blätterte durch die Zeitung. Es raschelte leise. »Was ist, Kaèl’thas?«, fragte sie, ohne von der Zeitung aufzuschauen.
Kaèl ballte die Faust. »Ich verstehe, dass ihr es nicht erwarten könnt, dass ich endlich verheiratet bin. Aber ich werde mich nicht tagtäglich mit einer derart unerträglichen Person wie Gwenhwyfar Whitecrow umgeben. Das kannst du nicht von mir verlangen!«
»Du findest sie unerträglich?« Jetzt musterte sie ihn interessiert.
Er lachte bitter. »Du solltest mich gut genug kennen, um dir das selbst zu beantworten.«
»Deine Großmutter und dein Vater fürchten, dass du alles abschlagen wirst, was wir dir vorschlagen. Immerhin wirst du bald zweiunddreißig.«
»Keine Sorge«, spuckte er aus. »Ich werde heiraten.« Er breitete beide Arme aus. »Wenn es sein muss, dann werde ich einen Kniefall vor Rubìnia machen und um ihre Hand anhalten.«
Sie hob die Brauen. »Einen Kniefall vor Rubìnia? Du?«
Er nickte grimmig. »Oder ich umgarne Lady Macalister. Mit etwas Engagement und Charme werde ich sicherlich ihr Interesse wecken.«
Sie faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. »Du bist anders geworden.«
»Nyòko ist tot. Ich erwarte nicht, dass eine Ehe mich glücklich macht … Nicht mehr.«
Ihr Ausdruck veränderte sich. Jegliche Härte wich aus ihren Zügen. »Du …«
»Ich will ein stabiles politisches Bündnis«, sprach er hastig weiter, »gerade in diesen Zeiten sind wirkliche Verbündete rar geworden. Die Taìfus und die Macalisters sind gute Leute. Mit ihnen könnte ich mir eine Allianz vorstellen.« Er zuckte mit den Schultern. »Und wenn das nur über eine Hochzeit möglich ist, dann sei es so.«
Akàri erhob sich bedächtig. Sie trat näher und legte eine Hand auf seine Schulter. »Nein«, sagte sie. Ihr Lächeln war warm. »Ich werde nicht zulassen, dass du voreilig handelst und dich unglücklich machst. Wenn du Zeit benötigst, um das mit Nyòko zu verarbeiten, dann wirst du sie bekommen.«
»Mutter«, er runzelte die Stirn. »Ich meinte gerade –«
»Ich weiß, was du meintest. Aber deine Ehe … das sollte nicht überstürzt werden. Sie soll nicht enden wie …« Sie brach ab.
… wie meine, komplettierte er in Gedanken.
Akàri lächelte, aber ihren Augen schimmerten feucht. »Mach dir keine Gedanken. Diese Idee mit den Whitecrows stammt nicht von mir. Ich werde morgen deinem Vater und deiner Großmutter Paroli bieten.«
»Mutter«, hauchte er. »Ich dachte, du magst Gwenhwyfar.«
»Das tue ich auch. Aber nicht ich muss jahrzehntelang mit ihr zusammenleben, sondern du.«
Ungläubig starrte er sie an. Wann hatte sie jemals so viel Verständnis gezeigt?
»Kaèl’thas«, sagte sie sanft. »Nyòkos Tod war nicht nur ein Schock für dich. Auch ich habe schwer damit zu kämpfen. Ich vertraue dir. Du bist ein guter Junge und du wirst eine passende Frau für dich finden, wenn die Zeit reif dafür ist.«
Hinter seinen Augen brannten Tränen. »Danke«, murmelte er.
Sie erwiderte nichts und drückte ihn einfach fest an sich.
oOOo
Der nächste Tag begann hektisch, Yùna meldete sich bereits vor dem Frühstück per Hologramm. Nachdem sie ihm versichert hatte, dass die Menschen wohlbehalten angekommen waren, wechselte sie zu ihrem eigentlichen Anliegen:
»Ich befürchte, dass deine Mutter nicht die einzige sein wird, die auf Nyòkos Mord mit drastischen Mitteln reagiert. Ich … warte immer noch auf Serèikas Reaktion. Niemand ermordet ihre Tochter ungestraft.«
Er wiegte den Kopf hin und her. »Denkst du, dass ein Krieg ausbricht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es wagt, Dinstermor anzugreifen. Bei der Stärke des Menschenheeres wäre das Leichtsinn.«
»Das behaupten zumindest zwei meiner Spitzel.« Sie runzelte die Stirn. »Was ist, wenn sie die Drachen zu Hilfe ruft?«
»Nein«, sagte Kaèl entschieden. »Dafür braucht sie die Zustimmung der Taìfus und der Macalisters und beide werden sich nicht darauf einlassen.«
»Dafür kenne ich diese Familien zu wenig. Bist du dir sicher?«
Er nickte. »Ich war vier Jahre mit Rubìnia verlobt, und ich kenne die Taìfus, sie würden so etwas niemals unterstützen. Lady Taìfu mag exzentrisch sein, aber sie ist eine gerechtigkeitsliebende Landesherrin. Und die Macalisters gelten gemeinhin als ›Menschenfreunde‹. Sie hätten kein Interesse daran, ihren wichtigsten Handelspartner*innen zu schaden.«
»Deine Worte in Muriels Ohr«, sagte Yùna seufzend. »Aber wir sollten dennoch die Augen offenhalten.«
Sie verabschiedeten sich, und Kaèl erhob sich. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, lief er durch den Salon. Er hatte bislang noch nicht in Erwägung gezogen, dass Serèika einen Krieg anzetteln könnte, aber je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihm. Serèika war stur genug, zur Not auch ohne Drachen loszuziehen.
Vielleicht sollte er doch rasch heiraten, um einen größeren politischen Einfluss zu erhalten. Auch, wenn er sich und Bendix den Trubel gern ein paar Jahre erspart hätte.
»Komme ich denn nie zur Ruhe?«, fluchte er.
Zu allem Überfluss würde seine Großmutter in nur wenigen Stunden hier aufschlagen, jegliches Leben aus seinem Vater ziehen, und Akàri zur Weißglut treiben. Ihm graute davor.
Um auf andere Gedanken zu kommen, entschied er sich, einen kleinen Spaziergang durch den Park zu unternehmen. Er griff nach seinem Sonnenschirmchen und schritt die Marmortreppe hinab.
Im Park drehte er lange Runden um die Zypressenhecken des Lustgartens, aber seine Stimmung hob sich nicht.
Zu allem Überfluss kam ihm auch noch Timanty – Timothy entgegen. Er grinste Kaèl offen an, als wäre es sein gutes Recht, hier herumzustolzieren. Als hätte Kaèl ihn nicht vor wenigen Tagen eines Besseren belehrt.
Am liebsten hätte er nach seinen Wachen gerufen, um ihn erneut hinauszuwerfen, aber er hatte Bendix versprochen, milder mit ihm umzugehen. Also biss er die Zähne zusammen und wollte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, an ihm vorbeistolzieren.
Zu seinem übergroßen Verdruss stellte Timanty sich ihm in den Weg. »Mylord«, sagte er nach einer tiefen Verbeugung. »Sie hatten Ihren Überwurf im Garten liegen lassen. Ich habe ihn heute Morgen entdeckt und vor dem Regen gerettet. Wäre schade um die schöne Seide gewesen.«
»Sehr aufmerksam«, sagte Kaèl mit kaum verhohlener Geringschätzung. »Gib ihm der Hausvorsteherin, dann kann sie ihn waschen.« Er reckte das Kinn und drückte sich an Timanty vorbei.
Der ließ nicht locker. »Kaèl«, rief er ihm hinterher. »Ich finde es wirklich spannend, was du in letzter Zeit für Bekanntschaften pflegst!« Seine Stimme troff vor Sarkasmus.
Kaèl fuhr herum. »Das geht dich nichts an«, zischte er.
»Wenn du meinst.« Timanty zuckte mit den Schultern. »Ich wundere mich nur. Was findest du an so einem? Er kann ja nicht einmal richtig schreiben.«
Die Wut packte Kaèl. »Er kann sehr wohl --« Er brach ab. »Wie kommst du darauf?«, fragte er misstrauisch.
»Oh, Kaèl«, säuselte Timanty. »Ich habe im Schuppen ein paar Seile entdeckt.« Er grinste. »Fesselspielchen? Ich hätte nicht gedacht, dass du auf so etwas stehst.« Es war ein hässliches Grinsen, am liebsten hätte Kaèl es ihm aus dem Gesicht geschlagen. »Oh Kaèl«, fing Timanty wieder an. Er seufzte dramatisch. »Ich liebe Dich. Immer.« Seine Augen verengten sich. »Dieser Bendix kann einem fast schon leid tun. Ich frage mich, wann er dir so langweilig geworden wäre, wie alle seine Vorgänger.«
Kaèls Herz schlug dumpf in seinen Ohren. Seine Hände krallten sich in den Stoff seiner Robe, kalter Schweiß lief seinen Rücken hinab. »Woher --«, krächzte er.
»Du solltest solche Briefe nicht aufbewahren, Kaèl. Was ist, wenn sie in die falschen Hände fallen?«
Kaèl schluckte. Der Brief. Er hatte ihn der Tasche seines Überwurfs vergessen.
Kaèl linste auf den weißen Stoff über Timantys Arm. »Gib ihn mir.« Er grub sich die Nägel in die Handinnenfläche. »Bitte.«
»Ach, auf einmal kann der feine Lord um etwas bitten?« Timantys Lächeln intensivierte sich. »Aber leider kann ich deiner Bitte nicht nachkommen. Deine Mutter fand den Brief so interessant, dass sie ihn gleich behalten hat.«