Die Karte der magischen Welt: https://i1.wp.com/derelbischepatient.de/wp-content/uploads/2019/12/DerElbischePatient_Karte.jpg?zoom=2&resize=943%2C1020&ssl=1 (gezeichnet von karlabyrinth: https://belletristica.com/de/users/6498-karlabyrinth#profile)
Kaèls letzter Besuch in Aomòris Hauptstadt war Jahre her, und er hatte fast vergessen, wie kalt es hier im Gebirge im Winter werden konnte. Es lagen Unmengen an Schnee und von den Dachrinnen hingen die Eiszapfen. Der eisige Wind kroch durch alle Öffnungen seiner Kleidung und brachte seine Augen zum Tränen. Fröstelnd zog er den Mantel enger und folgte den zwei Bediensteten, die ihn und Mister Taryòn zu ihrer Gästeunterkunft führten.
Im Gegensatz zu den meisten Adelsfamilien, die in ihrem Schloss fernab der hektischen Städte residierten, wohnte Lady Midòri in einer weißen Villa mitten in der Stadt, ohne viel Pomp oder Platz. Kaèl war deshalb als Unterkunft ein Haus ein paar Straßen weiter zugeteilt worden.
Seine Nacht war kurz, und die Reise beschwerlich gewesen, aber all das tangierte ihn nicht. Er fühlte sich beschwingt seit seinem letzten Besuch bei Bendix. Sie hatten gemeinsam eine Barriere durchbrochen, und es fühlte sich an, als wäre er endlich da, wo er sich immer hingewünscht hatte.
Im Haus angelangt, wusch er sich pfeifend den Staub vom Körper und ließ sich von Mister Taryòn in eine hochgeschlossene, dunkelpetrolfarbene Robe mit Pfauenfeder-Applikationen helfen.
Es klopfte an der Tür, und ein Bediensteter trat mit einer Verbeugung ein.»Mylord, Lady Ryunòr erwartet Sie in der Galerie.«
»Ich komme gleich«, sagte Kaèl und winkte den Diener ungehalten wieder hinaus.
Ein letztes Mal drehte er sich vor dem Spiegel. Seine Wangenknochen stachen nicht mehr ganz so auffällig heraus, wie noch vor ein paar Wochen, und auch insgesamt wirkte er rosiger. Die seidig-glänzende Robe unterstrich dies vorteilhaft. Ja, so sah ein Fang aus!
Kaèl bedauerte, dass er derlei Kleidung aufgrund ihrer komplizierten Verschnürung nicht bei Bendix tragen konnte, aber der weigerte sich hartnäckig, ›seinen Diener zu machen‹, wie er es nannte.
»Er weiß eben nicht, was er verpasst«, murmelte er, strich die Seide glatt und machte sich auf den Weg.
»Da bist du ja endlich«, sagte Nyòko, als er die Galerie betrat. Sie und Hiròki standen nebeneinander, flankiert von ihrer Eskorte. »Wir dachten, du holst uns ab, aber der feine Herr lässt sich nicht blicken. Warum brauchst du so lange, du bist doch vor zwei Stunden angekommen!«
»Ich habe meine Zeit in die Körperpflege investiert«, sagte Kaèl spitz. Er musterte sie von Kopf bis Fuß und rümpfte die Nase. »Im Gegensatz zu anderen Leuten, die nicht einmal die Muße hatten, ihren zerknitterten Mantel zu richten.«
Sie blickte an sich herab und zuckte mit den Schultern. »Ich setze meine Prioritäten eben anders.«
»Das ist mir aufgefallen.« Kaèl musste schmunzeln. Nyòko war ein hoffnungsloser Fall, was Mode anging, und er vermutete, dass Ludòiku sich sonst um die Auswahl ihrer Kleidung kümmerte.
»Tsk«, machte sie. »Ich würde ja gern einen Spruch darüber ablassen, wie oberflächlich du klingst, aber wahrscheinlich komme ich da bei einem, der in deinem Alter schon Erzmagi ist, nicht mit durch.« Sie lächelte gequält. »Aber jetzt einmal im Ernst, warum grinst du so? Du hast viel zu gute Laune dafür, dass du den ganzen Tag in der Kutsche gesessen hast. Ich bin immer noch verspannt davon.«
»Mylady, Sie sind verspannt?« Hiròki trat näher an sie heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr. »Dann werde ich heute ...«, hörte Kaèl ihn sagen, der Rest wurde von Nyòkos Kichern übertönt.
Hiròki und sie tauschten einen Blick, der ein wenig zu lang ausfiel, dann zog er sich mit einer kleinen Verbeugung zurück, und sie grinste ihm verträumt hinterher.
Die beiden waren so offensichtlich verknallt, dass Kaèl lächeln musste. »Na siehst du«, sagte er versöhnlich. »Ist alles nicht so schlimm, wenn man die richtigen Leute um sich hat.« Er warf Hiròki einen Blick zu, der sich mühte, möglichst unbeteiligt zu wirken, aber Diskretion sah anders aus.
»Und jetzt lass uns richtig begrüßen«, sagte er zu Nyòko und breitete die Arme aus.
Er breitete ... die Arme ... aus?
Ihm stieg die Röte ins Gesicht. Was war nur los mit ihm?
Sowohl Nyòko als auch Hiròki starrten ihn perplex an. »Du wirst auch immer sentimentaler«, sagte Nyòko schließlich und trat vor, um die Umarmung zu erwidern.
Kaèl stand steif wie ein Brett. »Ach was«, murmelte er verlegen und tätschelte ihr mechanisch den Rücken.
Nyòko wollte sich die Beine vertreten, also beschlossen sie – trotz Kaèls Protesten, weil es draußen so kalt war – zu Lady Midòris Anwesen zu laufen und dabei die Stadt zu erkunden.
Tukàta lag zwischen den Bergen eingekesselt, daher mangelte es an Platz. Die Häuser waren dicht aneinandergedrängt und ragten hoch in den Himmel. Dazwischen zogen sich kleine Gässchen mit Kopfsteinpflaster und engen Bürgersteigen, auf denen sich nach und nach die Schaulustigen versammelten, um die Kronprinzessin und ihren zukünftigen Gemahl zu bewundern. Ihre Eskorte hatte alle Hände voll zu tun, ihnen einen Weg durch die Masse zu bahnen.
Immerhin gewöhnte sich Kaèl rasch an die Kälte – oder vielmehr lernte Mister Taryòn, die Frequenz seiner Wärmezauber an Kaèls Bedürfnisse anzupassen – und er konnte den kleinen Spaziergang durch die verschneite Stadt genießen.
Es war schade, dass Bendix nicht dabei war. Ihm würden die bunten Farben der holzverkleideten Häuser und die geschwungenen, schneeüberzogenen Dächer sicherlich gefallen. Wahrscheinlich hätte ihn nicht einmal die Kälte gestört, lief er doch selbst im Winter nur in einer dünnen Tunika durch seine zugige Hütte. Aber Bendix stammte ja auch aus kühleren Gefilden.
Wenn er so darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass Bendix kaum etwas von sich erzählt hatte, während Kaèl ihm wie ein Wasserfall seinen halben Stammbaum heruntergebetet hatte. Kaèl hatte keinerlei Idee, wie Bendix’ Leben vor seiner Zeit im Kloster ausgesehen hatte, oder ob er noch in Kontakt zu seiner Familie stand. Aber das würde er bei ihrem nächsten Treffen herausfinden.
»Da!«, rief Nyòko. »Du grinst schon wieder. Das ist so untypisch für dich!«
Ertappt zuckte er zusammen. Natürlich war das untypisch für ihn. Es gab kein ›typisch‹ mehr für ihn, dafür änderte sein Leben sich gerade zu stark. Noch vor zwei Tagen hatte er sich das Bett mit Bendix geteilt, eine Tatsache, die er immer noch nicht ganz fassen konnte, und jetzt war er hier, im Herzen Aomòris. Und in vier Tagen würde er wieder bei Bendix sein, diesmal sogar für eine längere Zeit. Allein beim Gedanken daran kribbelte es in ihm vor Vorfreude.
Nyòko musterte ihn scharf von der Seite, deshalb fühlte er sich gezwungen, etwas mehr wie er selbst zu erscheinen. Er zog die Mundwinkel ein Stück nach unten, um konzentrierte Grimmigkeit vorzutäuschen.
Sie prustete los. »Netter Versuch, Kaèl! Und jetzt erzähl, warum bist du so anders? Hat das was mit deinem Bauern zu tun?«
»Shhh«, mahnte Kaèl. Verstohlen wirkte er einen Stillezauber um sie herum, der auch Hiròki mit einschloss. »Um es kurz zu machen: Euer Ratschlag mit dem persönlichen Geschenk war das Richtige.«
»Ich hatte recht!«, rief Hiròki. »Selbstgemachte Geschenke sind das Beste.« Er grinste Nyòko breit an. »Du schuldest mir eine Flasche Wein.«
»Verdammt«, rief sie. »Und ich dachte, das Eichhörnchen wäre zu kindisch! Wie konnte ich so irren?«
»Was?«, fragte Kaèl fassungslos. »Ihr habt Wetten darüber abgeschlossen? Es ging dabei um mein Glück!«
»Ja, ja.« Nyòko verdrehte die Augen. »Wir sind so unmoralisch. Aber es hat Spaß gemacht. Sehr sogar.«
Kaèl erwiderte nichts, aber er steigerte das Tempo, so dass ihm Nyòko, die kürzere Beine hatte, hinterherlaufen musste. Dabei zog sie eine Wolke aus Pulverschnee hinter sich her. Das Ganze wirkte sehr unköniglich, stellte er hämisch fest.
»Ach komm, Kaèl«, keuchte sie. »Wir freuen uns für dich!«
»Pah«, murmelte er gespielt gekränkt, aber dann blieb er doch stehen und wartete auf sie.
Sie hakte sich bei ihm ein. »Und wie kommt ihr miteinander klar? Du sagtest doch, er mag keine Magie?«
»Ja?«
»Ich hätte nie gedacht, dass so einer zu dir passt!«
Er machte eine wegwerfende Geste. »Ich auch nicht, aber es gibt eben auch andere Dinge, als Magie.«
Sie kicherte verhalten.
»Was du schon wieder denkst«, stichelte er. »Aber er kann noch viel mehr. Er meditiert und kocht und kennt sich mit Tieren und Pflanzen aus und ...«
»Aber fehlt dir das nicht, dass ihr über deine Wissenschaft sprecht?«
Kaèl dachte kurz nach. »Nein«, sagte er schließlich. »Im akademischen Umfeld und im Rat der Zwölf habe ich genug Leute, mit denen ich wissenschaftlich diskutieren kann. Ich brauche keinen ...« Er stockte. Er hatte ›Freund‹ sagen wollen, aber das Wort fühlte sich seltsam in seinem Mund an. Kurz fragte er sich, ob er Bendix überhaupt so nennen durfte.
»Ich brauche keinen Freund«, wiederholte er trotzig, »der bis ins Letzte versteht, was ich tue. Ich brauche einen, dem wichtig ist, wie ich mich dabei fühle. Der mir zuhört, und mit mir mitfiebert, und das tut er.«
»Weise Worte«, sagte Nyòko. Sie zwinkerte Hiròki zu. »Wie anders unser Goldstück geworden ist.«
Kaèl puffte sie in die Seite, und sie quiekte empört auf.
Sie durchquerten den Park vor Lady Midòris Villa, wo sich eine größere Gruppe von Leuten versammelt hatte, die sie mit offenen Mündern anstarrten.
»Unfassbar, wie begeistert sie sind«, sagte Nyòko.
»Ach was. So etwas passiert mir alle Tage.« Huldvoll winkte Kaèl ihnen zu.
Sie zupfte an seinem Ärmel. »Komm weiter, mein Trophäenmann und kokettier nicht so. Wir haben Wichtigeres zu tun!«
Kichernd folgte Kaèl ihr durch den Torbogen des Midòri’schen Anwesens.
Die Hausherrin erwartete sie im Empfangszimmer. Lady Midòri war hochgewachsen und schlank. Ihre Haut war dunkler als Bendix’, und ihre braunen Augen strahlten Wärme und Verständigkeit aus.
»Nyòko«, sagte sie und schloss sie in ihre Arme. Dann streckte sie Kaèl die Hand entgegen. »Lord Hotàru, es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen.«
»Die Freude ist ganz meinerseits«, sagte er und erwiderte ihren Händedruck.
Neben ihr stand ein dunkelhaariger, blasser Zauberer, und Kaèl vermutete, dass er Lady Midòris Mann war. Nachdem er Nyòko mit einer Umarmung begrüßt hatte, trat er vor Kaèl. »Auch mir ist es eine Freude, dass wir Sie zu Gast haben.« Enthusiastisch schüttelte er Kaèls Hand. »Sie können mich gern Gwydion nennen.«
»Das freut mich, Gwydion«, sagte Kaèl. Er war überfordert von so viel Formlosigkeit.
»Ich studiere Transformationsmagie, und im letzten Semester habe ich einige Ihrer Bücher gelesen. Ich muss zugeben, es war keine leichte Kost, aber doch von unschätzbarem Wert für mich.«
»So?« Kaèl strahlte über beide Ohren. Bei Lichte betrachtet war Gwydion doch kein schlechter Kerl.
»Besonders Ihr Werk: ›Das praktische Grimoire der Alltagsmagie‹ hat mich fasziniert.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Kaèl. »Kritische Stimmen meinten ja, es sei lebensfern, was ich, gelinde gesagt, nicht nachvollziehen kann. Schließlich hatte ich es bewusst für die Probleme der einfachen Magi konzipiert.«
»Lebensfern? Wie absurd«, sagte Gwydion. »Die Abhandlung über Taschendimensionen als Produkt der gerichteten Rekursivität empfinde ich als äußerst praktisch.«
»Taschen-was?«, fragte Nyòko.
»Ein zusätzlicher magischer Raum«, erklärte Gwydion. »Eignet sich für vieles, besonders aber zum Verstauen seiner Gegenstände.«
»Definitiv«, bekräftigte Kaèl. »Wer kennt das nicht, dass in den Schränken kein Platz für die neuen Festtagsroben ist?«
Gwydion nickte euphorisch. »Ich nutze es, um meine Sammlung historischer Kutschen unterzubringen. Das Einzige was ich an dem Zauber auszusetzen habe, ist, dass für die Aufrechterhaltung der Rekursionen permanent zehn Bedienstete benötigt werden.«
»Zehn ist zu knapp bemessen«, mahnte Kaèl. Er machte eine bedeutungsschwangere Pause, um sich in Gwydions interessiertem Blick zu sonnen. »Für Taschendimensionen, die ganze Kutschen in sich aufnehmen, benötigt man mindestens fünfzehn – die Skalarfeldfluktuationen der siebten Dimension sind nicht zu unterschätzen.«
»Oh, stimmt, da hatte ich etwas zu großzügig abgeschätzt.« Gwydion zückte sein Notizbuch und kritzelte etwas hinein. »Aber das lässt sich ändern.«
»Eure Luxusprobleme klingen ja fas-zi-nierend«, sagte Nyòko. »Aber sind wir nicht hier, um über richtige Probleme zu sprechen?«
»Vor allen Dingen ist es ungemütlich, hier im Empfangszimmer!« Mit den Worten lotste Lady Midòri sie in den sonnengelb eingerichteten Salon. Kaèl und Nyòko nahmen auf einem Sofa beim Kamin Platz, während Lady Midòri und Gwydion sich auf das Sofa schräg gegenüber setzten. Mister Taryòn und Hiròki stellten sich in eine Ecke. Kaèl war nie aufgefallen, dass die Bediensteten fast die gesamte Zeit stehen mussten, und es wirkte gerade bei Hiròki, der auf dem Hinweg mit Nyòko gescherzt hatte, seltsam unpassend.
Als alle mit Tee und Ingwerkeksen versorgt waren, wandte Lady Midòri sich an Kaèl: »Ich hatte sowieso vor, Sie einzuladen, als ich von Ihren Forderungen im Rat der Zwölf gehört habe. Da bin ich neugierig auf diesen so untypischen Hotàru geworden.«
»Haben jetzt alle dort ihre Spitzel?«, fragte Kaèl gequält.
Sie lachte. »Sie beschäftigen sich erst seit Kurzem mit Politik?«
»Ich würde eher sagen«, warf Nyòko ein, »er beschäftigt sich erst seit Kurzem mit anderen Leuten.«
»Danke, Nyòko«, sagte Kaèl. Er lächelte Lady Midòri entschuldigend zu. »Ich habe mein Leben der Wissenschaft gewidmet und mich bis vor Kurzem kaum für Politik interessiert. Aber in der letzten Zeit sind in meiner Heimat Dinge vorgefallen, die ich nicht ignorieren will.«
Lady Midòri nahm einen Schluck Tee. »Weiß Ihre Familie, dass Sie hier sind?«
»Ja.« Kaèl warf Nyòko einen Blick zu. »Sie denken, ich fahre mit der Kronprinzessin Ski.«
Lady Midòri lachte auf. »Alles andere hätte mich gewundert. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass Ihre Mutter ihr einziges Kind nach Tukàta schickt, um es mit mir über Politik sprechen zu lassen. Eine ›Menschenfreundin‹ wie ich wird ja nicht einmal mehr zu hochoffiziellen Feierlichkeiten eingeladen.« Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit. Sie blickte Kaèl durchdringend an. »Und was für ›Dinge‹ bringen Sie dazu, sich für Menschenrechte einsetzen zu wollen?«
Kaèl zögerte. Es war merkwürdig, die Geheimnisse seiner Familie einer Fremden zu offenbaren, aber für nichts Geringeres war er hier. »Nyòko meinte, Sie wissen genau über die Niederschlagung der Pachtaufstände Bescheid. Wahrscheinlich sogar besser, als ich, da meine Mutter mich in derlei Angelegenheiten nicht involviert.«
»Das wäre möglich.« Lady Midòri seufzte leise. »Ich beobachte Ihre Mutter bereits seit einigen Jahren, da immer wieder Menschen aus Fukuòka hierhin fliehen und Schreckliches berichten. Die von Ihnen bemerkten Pachtaufstände sind nur ein Ereignis von vielen.«
»Ich beginne gerade erst zu begreifen, was das für meine Heimat bedeutet«, sagte Kaèl deprimiert.
Unangenehmes Schweigen breitete sich aus.
Kaèl betrachtete seine im Schoß zusammengefalteten Hände. Was werden sie jetzt von mir denken?, fragte er sich. Ich lebe seit einunddreißig Jahren in Fukuòka und weiß nichts, überhaupt gar nichts. Und das als zukünftiger Lord.
Der Raum erhellte sich, und Kaèl blickte auf. Eine Dienerin entzündete nacheinander die Lichter eines Objektes, wie es Kaèl noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Es war ein metallener Ring, so groß wie ein Kutschrad, der von der Mitte der stuckverzierten Decke hing. In regelmäßigen Abständen waren daran Lampen angebracht, dessen Lichtschein sich in den herabhängenden weißen, gelben und rötlichen Kristallglasstücken brach und den gesamten Raum zum Funkeln brachte. Es war von beängstigender Schönheit.
»Ein Labsal für die Augen, nicht wahr?« Gwydion lachte leise. »Unser Kronleuchter überrascht die Meisten aus Finistère.«
»Kronleuchter?«, wiederholte Kaèl. Er erinnerte sich dumpf, dass er in einem von Nyòkos Menschenbüchern von so etwas gelesen hatte, aber er hatte es sich damals nicht so prächtig vorgestellt. »Das ist ein Menschengegenstand, nehme ich an?«
»Das war das Geschenk von Präsident Grothaus aus Lindenreich«, präzisierte Lady Midòri. »Wie Ihnen wahrscheinlich bekannt ist, ist Lindenreich Aomòris wichtigster Handelspartner.«
Kaèl nickte, ohne den Blick von den bunten Kristallen abzuwenden.
»Anfangs«, sagte Gwydion, »war es ungewohnt für uns statt der Lichtzauber Gaslampen entzünden zu lassen, aber es ist so wunderschön, dafür lohnt sich der Aufwand.«
»In der Tat«, sagte Kaèl.
Lady Midòri wies mit einem Kopfnicken zum Park vor dem Fenster, wo an den Wegen ein Licht nach dem anderen anging. »Im letzten Jahr haben wir Gaslampen an allen öffentlichen Plätzen und Straßen aufstellen lassen. Dadurch haben die hier lebenden Menschen mehr Komfort und auch Anonymität, weil sie nicht mehr nachts mit einer Lampe in der Hand herumlaufen müssen.«
»Ah ja, von dieser Problematik wurde mir auch aus Fukuòka berichtet.« Kaèl zückte sein Notizbuch. »Aus genau diesem Grund bin ich hier. Es gibt eine Menge Probleme in Fukuòka, aber wenn ich versuche, etwas zu verändern, werde ich von meiner Familie immer wieder mit denselben Argumenten konfrontiert, die ich nicht widerlegen kann. Um ehrlich zu sein, mangelt es mir an Ideen, wie ich es besser machen könnte.«
»Gut, dann fangen wir an. Stellen Sie mir ruhig Ihre Fragen, vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.«
»Wieso setzen Sie sich für Menschenrechte ein?«, fragte er.
»Wollen Sie meine persönliche Meinung hören, oder etwas Pragmatisches, womit Sie Ihre Familie überzeugen können?«
»Beides«, sagte Kaèl. Er schätzte Lady Midòris zielorientierte Herangehensweise. Zu schade, dass sie nie zu den Festen geladen wurde, auf denen er zugegen war, mit ihr ließe sich sicherlich angenehmer diskutieren, als mit den Whitecrows.
»Dann fange ich mit den persönlichen Gründen an. Ich habe ein paar Jahre meines Lebens am Hofe von Mandalia zugebracht, und dort mit einigen Menschen enge Freundschaften geknüpft und viel über ihre Ansichten gelernt. Daher ist es mir zuwider, wie Menschen hier in Finistère behandelt werden.«
Mandalia. Das Menschenland mit seinen Oasen und Wüsten hatte Kaèl immer fasziniert, und er nahm sich vor, sie bei Gelegenheit darüber auszufragen.
»Und zum pragmatischen Teil«, fuhr sie fort. »In Aomòri wurden vor gut zehn Jahren reiche Steinkohlevorkommen entdeckt. Unserem Land hat das einen nie da gewesenen Aufschwung gebracht, Kohle ist ein lukratives Exportgut, wir verkaufen sie nach Lindenreich und Mandalia, wo sie als Energiequelle für die Dampfmaschinen der Fabriken dient. Wir brauchten die Menschen und ihre Kenntnisse des Bergbaus, um die Kohle zu fördern, also ließen wir sie in unser Land, und sie bauten uns Stollen, konzipierten Transport- und Verteilsysteme. Viele von ihnen sind geblieben, und erwiesen sich in Belangen als nützlich, die wir nie zuvor geahnt hätten. Ihre Unfähigkeit zu zaubern kompensieren sie mit Technik, und darin sind sie so versiert, dass sie in einigen Bereichen unseren magischen Ansätzen ernsthafte Konkurrenz machen. Die Magiewissenschaften entwickeln sich langsam im Vergleich zur Menschentechnik, und ich bin überzeugt, dass auf Dauer nur ein Staat bestehen kann, der beide Ansätze fördert.«
Den Seitenhieb auf die Magiewissenschaften konnte Kaèl so nicht durchgehen lassen. Er spülte seinen Keks mit einem Schluck Tee herunter und beugte sich vor. »Zur Verteidigung der Magiewissenschaften muss ich anmerken, dass wir strengen Auflagen unterliegen. Jeder neue Zauber muss sich in einem komplexen Testverfahren behaupten, was richtig und wichtig ist, da zu Anfangszeiten neue Zauber oft falsch berechnet wurden, mit fatalen Konsequenzen.«
Gwydion nickte bedeutsam. »Man erinnere sich an die große Explosion von Luvfield, ausgelöst durch einen nicht-zugelassenen Zauber. Ein ganzes Stadtviertel hat es damals weggesprengt.«
Nyòko riss die Augen auf.
»So etwas passiert dank der Sicherheitsauflagen nicht mehr«, sagte Kaèl beruhigend. »Aber es ist ein zweischneidiges Schwert, denn es verlangsamt natürlich unsere Entwicklung.«
»Genau«, bestätigte Gwydion. »Menschen hingegen probieren die Dinge einfach so lange aus, bis es passt. Das Ergebnis ist nicht elegant, oder perfekt, aber allzu oft funktioniert es doch irgendwie.«
Lady Midòri ließ ihre Tasse auf das Beistelltischchen schweben. »Um die Menschen auf Dauer zu halten, mussten wir ihnen etwas bieten: Menschen gelten hier als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft, mit allen Rechten und Pflichten. Die wichtigsten Ämter sind proportional zu den Bevölkerungverhältnissen besetzt, also sitzen auf einem Drittel aller Posten Menschen. Für uns als Magi ist es schwierig, sich in die Lage derer hineinzuversetzen, die nicht zaubern können, deshalb lassen wir die Menschen selbst planen, was sie benötigen.«
Nyòko seufzte theatralisch.
»Ja, du kannst da wahrscheinlich ein Lied davon singen«, sagte Gwydion, was Kaèl verwirrte.
Was hat das mit Nyòko zu tun?, fragte er sich, aber da fing Lady Midòri bereits wieder an, zu sprechen:
»In letzter Zeit haben wir zum Beispiel mehr Brunnen errichten lassen, da die Menschen im Gegensatz zu uns das Wasser aus eigener Kraft in die Häuser schleppen, und wir so ihre Wege reduzieren. In allen Wohnungen gibt es nun Gas- oder Kohleherde, damit auch Menschen dort kochen können. Aomòri ist außerdem die erste Region Finistères, in der Menschen ein Anrecht darauf haben, die Schule zu besuchen.«
Kaèl merkte auf. Die Schulpflicht in Fukuòka gilt nicht für Menschen?
Das würde bedeuten, dass die Menschen kaum Gegenleistung für die von ihnen gezahlte Pacht erhielten. Er musste dem unbedingt auf den Grund gehen, wenn er wieder zuhause war. »Werden die Menschen hier zusammen mit den Magi unterrichtet?«
»Nein, es gibt getrennte Schulen.«
»Wieso das?«, fragte Nyòko.
»Weil ein signifikanter Teil des Unterrichts aus den magischen Künsten besteht, die die Menschen nicht erlernen können.«
»Und dennoch«, sagte Nyòko, »aus Unwissenheit entspringt Angst, aus Angst unter Umständen Gewalt. Die Menschen sollten zumindest in der Theorie verstehen, wie Magie funktioniert, um die Angst vor ihr zu verlieren.«
Kaèl nickte bedeutsam. »Nyòko hat recht. Überdies könnte der vermehrte Kontakt zwischen Menschen- und Magikindern dazu führen, dass sie einander besser kennenlernen und ihre Vorurteile abbauen.«
»Das muss ich reflektieren.« Lady Midòri runzelte die Stirn. »Es stimmt sicherlich, dass viele Menschen unserer Magie misstrauen. Wir mussten hier in allen Krankenhäusern eine Trennung zwischen Menschenmedizin und magischer Medizin einführen, weil die wenigsten Menschen sich von einer magischen Heilenden behandeln lassen und andersherum. Und das, obwohl beide Medizinrichtungen ihre Stärken und Schwächen haben. Wir versuchen, möglichst viele Berührungspunkte zu schaffen, aber nicht um jeden Preis. Ich befürchte, dass die Menschen ihre Kinder nicht in gemischte Schulen schicken würden.«
»Ich würde es darauf ankommen lassen, wenn meine Regierungszeit kommt«, sagte Nyòko, und Kaèl konnte ihr nur beipflichten.
Ein Diener erschien in der Tür. »Es ist angerichtet, Mylady.«
Lady Midòri klatschte die Hände zusammen. »Wunderbar. Wir kommen gleich.« Sie wandte sich an Kaèl. »Haben Sie noch Fragen?«
Er überflog seine Notizen. »Die wichtigsten Punkte, die ich mir notiert habe sind die rechtliche Gleichstellung, eine verbesserte Infrastruktur und eine Schulpflicht für alle, Mensch wie Magi. Ist mir etwas entfallen?«
»Ich denke, das ist das Wichtigste. Aomòri war nach den großen Einwanderungswellen ein Pulverfass, aber seit wir unsere Politik daraufhin angepasst haben, läuft es reibungslos.« Lady Midòri runzelte die Stirn. »Ich will Ihnen aber keine falsche Hoffnung machen. Das funktioniert natürlich nur, weil die meisten Menschen hier einen hohen Bildungsgrad haben. Sie kommen aus Lindenreich, das selbst über ein hervorragendes Bildungs- und Gesundheitssystem verfügt. Die Menschen, mit denen Sie in Fukuòka zu tun haben, sind nach Missernten und Krankheitswellen aus Dinstermor geflohen, Ereignisse für die wir Magi durch die Drachenzerstörungen indirekt verantwortlich sind. Aus diesem Grund misstrauen die Meisten von ihnen unserer Magie. Überdies sind sie Analphabeten, und die wenigsten beherrschen ein solides Handwerk.«
»Sie können nicht lesen und schreiben?«, fragte Kaèl ungläubig. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es so etwas gab. Für ihn war lesen so wie atmen.
Midòri nickte finster.
Kaèl seufzte leise. »Wenn das stimmt, dann wird mein primärer Fokus auf dem Bildungssystem liegen.«
Falls das stimmte. Wirklich glauben konnte er es nicht. Es war doch nicht so schwierig, lesen zu lernen?
»Ich will Ihnen nicht den Mut nehmen, aber das, was Sie anstreben, benötigt Zeit. Sie werden erst nach einigen Jahren positive Veränderungen erkennen.«
»Das ist mir bewusst«, sagte Kaèl.
Dennoch war er zufrieden. Er hatte neue Ideen, und sie verwandelten seine diffusen, ermüdenden Pflichten als Lord in etwas, das ihm gefiel: Er konnte und er würde die Zukunft seines Landes gestalten.
Vor zwei Monaten hatte er es als Last empfunden, jetzt freute er sich auf seinen nächsten ›Ausflug‹ mit Akàri.
oOOo
Um den Schein zu wahren, trafen sie sich am nächsten Tag tatsächlich zum Skifahren. Was nichts anderes bedeutete, als dass Gwydion und Nyòko dem Langlauf frönten, während Kaèl und Lady Midòri in einer gemütlichen Hütte am Hang eines der Berge saßen und Kaffee tranken.
Lady Midòris zwei Kinder waren zu Kaèls übergroßen Verdruss mit von der Partie. Eins hockte in einer Ecke und malträtierte sowohl seine Bauklötze, als auch Kaèls Ohren, das kleinere saß auf Lady Midòris Schoß und plärrte. Kaèl versuchte, die beiden so gut wie möglich zu ignorieren. Er mochte keine Kinder, besonders nicht so kleine, die sich nicht klar artikulierten, aber aus Höflichkeit verkniff er sich jeglichen Kommentar.
Lieber schaute er aus dem Fenster. Die Aussicht war phänomenal, und Kaèl wurde beinahe schwindlig von der Weite und Tiefe. Gwydion und Nyòko fuhren Runde um Runde um den Berg und kamen immer wieder an der Hütte vorbei. Sie schienen Spaß zu haben, Kaèl hört ihr Gelächter selbst durch die Glasscheibe.
Dafür, dass er zwei Kinder hatte, war Gwydion jung, vielleicht in Bendix’ Alter. Es war schade, dass Kaèl die beiden nie miteinander bekannt machen konnte – sie hätten sich sicherlich gut verstanden. Und so elegant, wie Bendix sich zu bewegen pflegte, war er bestimmt ein hervorragender Skiläufer.
Vielleicht sollte er Bendix eines Tages einfach heimlich mit nach Aomòri nehmen – ein Mensch würde hier kaum auffallen. Also ... natürlich würde Bendix auffallen, immerhin war er der Hexenjäger, aber mit einer tief ins Gesicht gezogenen Mütze wären zumindest die verräterischen Tätowierungen verdeckt. Und dann könnten sie zusammen Ski fahren oder durch die bunte Stadt flanieren, wie zwei gewöhnliche Liebende. Er seufzte leise.
Lady Midòri folgte seinem Blick, der verträumt auf Gwydion lag. Sie lächelte wissend.
Kaèl errötete. Was denkt sie jetzt von mir?
Aber die Lady wirkte gefasst. »Ich bin so froh, dass er diese neue Prothese hat.«
»Welche Prothese?«, fragte Kaèl.
Midòri hob die Brauen. »Er wurde mit einem Beinstumpf geboren, wussten Sie das nicht? Mittlerweile bemerkt das kaum eine mehr, so gut funktioniert das mit dem künstlichen Unterschenkel. Damals, als ich ihn kennenlernte, lief er auf Krücken.«
»Zu schade, dass sich mit Magie keine Körperteile ersetzen lassen«, sagte Kaèl.
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, bereute er sie. »Oder vielleicht auch nicht«, fügte er hinzu. »Es ist gut, wenn nicht alles der Norm entspricht.«
»Das denke ich auch«, sagte Lady Midòri. »Also … paradoxerweise Beides, auch wenn es sich ausschließt.« Sie lächelte gedankenverloren. »Was die Zauber angeht … Sie forschen daran, aber das tun sie seit einer gefühlten Ewigkeit. Gwydions Eltern haben schon darauf gehofft, als er noch ein Säugling war.«
»So wie ich das einschätze, wird das Jahrzehnte dauern, sofern es jemals gelingt. Belebte Materie ist komplexer als unbelebte.« Kaèl nahm einen Bissen von seinem Pistazien-Kardamom-Safran-Küchlein, einer Spezialität Aomòris. Die überraschende Schärfe wärmte von innen und passte zu dem Land, das fünf Monate unter einer dichten Schneedecke lag.
»Das ist eines der Beispiele dafür, dass Menschentechnik unserer Magie in vielen Punkten ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen ist.« Lady Midòri nickte zum Fenster. »Jetzt macht Gwydion selbst Nyòko Konkurrenz.«
Kaèls Blick folgte dem ihren. Nyòko und Gwydion schienen sich ein Wettrennen zu liefern, mal war er vorn, mal sie.
»Apropos Nyòko.« Lady Midòri lehnte sich zu ihm und musterte ihn interessiert, aber in ihrem Blick lag keinerlei Wertung. »Verzeihen Sie meine Indiskretion, aber ich dachte zunächst, dass Nyòkos positive Schilderung Ihrer Person daher rührt, dass sie ineinander verliebt sind. Aber so wie ich das gestern und heute wahrgenommen habe, denke ich, dass ich nicht ferner mit meiner Vermutung liegen konnte.«
»Ja«, sagte er zögerlich. Er war unsicher, wo dieser Dialog hinführte.
»Planen Sie, dennoch zu heiraten?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er gequält. »Sie will es nicht, ich wollte es ursprünglich auch nicht, aber momentan bin ich mir nicht mehr sicher. Unsere anderen ... Verbindungen ... sind nicht umsetzbar, und ich schätze Nyòko als Freundin. Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir es einfach täten.«
Sie nickte ernst. »Oder Sie lassen es darauf ankommen. Mir und Gwydion wurde es auch nicht leicht gemacht, als wir unsere Verlobung bekanntgegeben haben.«
Er lehnte sich vor. »So? Gwydion stammt doch aus dem Hochadel.«
»Das ist korrekt, aber seine Eltern hatten Bedenken, weil er so viel jünger ist als ich. Zum Glück haben sich die letzten Zweifel nach der Geburt von Miràia gelegt.« Sie nickte zu dem Kind, das mit der Amme um einen Bauklotz rang, den es zuvor immer wieder versucht hatte, in seinen Mund zu stecken. Es hatte kleine, abgerundete Elbenohren, weil der Vater ein Zauberer war.
»Das mit dem Nachwuchs, oder vielmehr dem fehlenden Nachwuchs ist eines der Probleme, die meine Verbindung mit sich bringt.« Kaèl musste schlucken. Wieso erzählte er ihr das alles? Je mehr davon etwas ahnten, desto riskanter wurde es für ihn.
»Das tut mir leid«, sagte sie.
Mir nicht, dachte er mit Blick auf das plärrende Kind.
»Aber wahrscheinlich sollten Nyòko und Sie dann wirklich heiraten. Sie beide werden sicherlich ein Arrangement finden, das Ihnen erlaubt, Ihre Wünsche anderweitig auszuleben.«
»Die Entscheidung liegt ganz bei Nyòko«, sagte er ausweichend.
Sie nickte bedächtig. »So wie ich Sie beide einschätze, werden Sie eine Lösung für sich finden.«
Sie fielen in Schweigen, das nur von dem Klappern der Bauklötze unterbrochen wurde. Das Kind auf Midòris Schoß war mittlerweile eingeschlafen.
Im Gegensatz zu den meisten Adeligen schien sich Lady Midòri nicht in der Pflicht zu fühlen, ihn durch ständiges Geplapper zu unterhalten, was Kaèl entgegenkam. So hatte er Zeit, seine Gedanken von gestern in Ruhe zu ordnen. Es gab noch ein paar Punkte, die er nicht nachvollziehen konnte, aber damit würde er sich beschäftigen, wenn er wieder in Fukuòka war. Vielleicht konnte er Bendix fragen, er schien viele der Menschen persönlich zu kennen.
»Ich bin gespannt, wie sich Ihre Anregungen umsetzen lassen«, sagte er.
»Ich auch«, gab sie zu. »Sie müssen mir unbedingt davon berichten. Wenn Sie Fragen haben oder Hilfe benötigen, können Sie mich jederzeit kontaktieren. Und noch etwas.« Lächelnd streckte sie ihm die Hand entgegen »Bitte nennen sie mich Yùna.«
»Vielen Dank, Yùna«, sagte er und drückte ihre Hand.
oOOo
»Würdest du dich mit magischer Medizin behandeln lassen, wenn du krank wärst?«
»Eine magische Medizin? Was genau ist das?« Bendix rieb sich die tränenden Augen. Er schnitt Zwiebeln für die Suppe, die er Kaèl versprochen hatte. Bei jedem von Kaèls Besuchen hatte er etwas anderes gekocht, und immer war Kaèl begeistert davon gewesen. Allein dafür hatte er auf der Heimreise auf sein Mittagessen verzichtet und stoisch zugesehen, wie sein Kammerdiener und sein Kutscher ihre Portion in der Gaststätte verdrückten.
»Na, Magie, Zaubertränke und derartiges.«
Bendix hob die Brauen. »Die Antwort kannst du dir doch sicherlich denken.«
»Also nein?«
»Nie im Leben! Es reicht schon, dass du die ganze Zeit bei mir rumzauberst. Das lasse ich noch gerade so zu, weil ich dich ...« Er hielt inne und äugte zu Kaèl. »Also, ich meine ... weil du was besonderes bist. Aber diese magischen Scharlatane würde ich nicht an meinen Körper lassen!«
»Das schreit nach mehr Glühwürmchen‹«, murmelte Kaèl, während er das Gesagte in seinem Notizbuch notierte. »Interessant, da hatte Yùna recht. Und ich dachte immer, die Behandlungsform sei egal, Hauptsache, einem wird dadurch geholfen.« Kopfschüttelnd klappte er das Büchlein zu und steckte es mitsamt dem Stift in seine Rocktasche. »Aber sie hat noch etwas viel Merkwürdigeres erzählt.«
»Was denn?«, fragte Bendix, ohne von seinem Schneidebrett aufzusehen.
»Die meisten Menschen, die in Fukuòka leben, können nicht lesen und schreiben. Kannst du dir das vorstellen?«
»Hm«, machte Bendix. Er griff nach dem Sellerie.
»Dass du so ruhig bleibst. Was für ein bedauernswertes Leben sie führen!« Kaèl rang die Hände. »Ihnen entgeht doch alles.«
»Sie haben wahrscheinlich keine Wahl.« Bendix konzentrierte sich auf sein Messer, dabei krallte sich seine Hand so fest um den Griff, dass die Knöchel hervortraten.
»Unfug, man hat immer eine Wahl!« Kaèl senkte die Stimme. »Jetzt unter uns, wie genügsam müssen sie sein, wenn sie das nicht lernen? Ich an ihrer Stelle hätte mir das sofort beigebracht!«
Bendix hackte so fest auf den Sellerie ein, dass es in Kaèls Ohren wehtat. »Ach, hättest du?«, fragte er. »Wie schön für dich!«
»Jetzt komm, Bendix. Gib zu, dass sie sich um das Schönste und Wichtigste im Leben bringen!«
Bendix knallte das Messer auf die Holzplatte. »Verdammt noch mal, was bist du arrogant! Diese Menschen ›bringen‹ sich nicht um das Schönste, sie werden darum gebracht!« Er fixierte Kaèl mit glühenden Augen.
Kaèl hob abwehrend die Hände. »Jetzt sei nicht wütend, ich meinte doch nur –«
»Du hast keinen Schimmer, wie das ist, arm zu sein! Wie sich das anfühlt, als Kind bis spät abends auf dem Feld oder in der Fabrik zu schuften.«
»Ich meinte nur, dass es nicht so schwierig ist, Lesen zu lernen. Ich habe mir das auch selbst beigebracht, mit vier, weil mir missfiel, was meine Amme mir vorgelesen hat.«
Bendix schnaubte frustriert. »Ja, fühl dich nur toll und überlegen, aber lass mich damit in Ruhe! In deinen Augen bin ich ja sowieso nur beschränkt und genügsam!«
»Das habe ich doch überhaupt nicht –«
»Ich kann nicht lesen.«
Es gab eine kurze Pause, dann lachte Kaèl nervös auf. »Guter Witz!«
Bendix stand wie versteinert da, mit hochgezogenen Schultern.
Eine Weile sagte keiner ein Wort, und eine furchtbare Ahnung keimte in Kaèl auf, so erschreckend, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. »Das war ein Witz, oder?«, hakte er verunsichert nach.
»Für dich vielleicht!« Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, schlüpfte Bendix in seine Schuhe, griff nach dem Mantel und stürmte zur Tür.
Das ging zu schnell. »Bendix, jetzt warte!«, rief Kaèl, aber Bendix knallte die Tür hinter sich ins Schloss.
Na großartig, dachte Kaèl. Das habe ich ja so was von vergeigt!