»Bendix!«, rief Kaèl. Sein Herz hämmerte wie wild in seiner Brust.
Bendix’ Blick huschte zu Mister Taryòn, der sich in die äußerste Ecke der Kutsche gedrückt hatte, die Arme schützend über den Kopf erhoben. Er schaute wieder zu Kaèl, mit ernster Miene. »Kommst du raus?«
Gepresst atmete Kaèl ein und aus. »Ja, gleich«, sagte er mit bemüht fester Stimme.
Bendix nickte. Er zog sich auf den Kutschbock zurück und schloss das Fenster.
Kaèl starrte ihm hinterher. Für einen Moment blieb er sitzen, krallte seine Hände ineinander und versuchte, sich zu beruhigen. Als er sich aufrichtete und die Türklinke greifen wollte, packte ihn Mister Taryòn am Arm und sagte mit bebender Stimme: »Gehen Sie nicht, Mylord!« Der Schweiß perlte ihm von der Stirn, und seine Unterlippe zitterte heftig. »Es ist der Hexenjäger, er wird Sie umbringen.«
»Ich weiß, wer er ist.«
»Lassen Sie uns die Türen verrammeln! Er darf nicht hinein –«
»Mister Taryòn«, unterbrach ihn Kaèl. »Ich gehe hinaus.«
Mister Taryòn schluchzte leise. »Aber Ihnen ... ist nicht wohl.« Er bohrte die Finger in Kaèls Arm. »In Ihrer Verfassung können Sie nicht kämpfen.«
»Ich werde auch nicht kämpfen.« Vielsagend hob Kaèl die Brauen. »Er wird mir nichts tun. Dafür kenne ich ihn zu gut. Und jetzt lassen Sie meinen Arm los!«
Mister Taryòn ließ Kaèls Arm frei, und Kaèl rutschte über seinen Sitz zur Tür. Dabei fiel sein Blick auf seine Reflexion im Seitenfenster. Er war noch blasser als sonst und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Und diese wirren Haare ... ! Rasch wollte er den Fhaarbulös-Zauber wirken, aber seine Hände zitterten vor Anspannung zu stark.
Falls Bendix ihn wollte, dann musste er ihn eben zerzaust nehmen! Er wandte sich zu Mister Taryòn. »Und Sie bleiben, zum Drachen noch mal, in der Kutsche!«
Als er heraustrat, knickten ihm fast die Beine weg, so geschwächt war er, aber Kaèl hielt sich an der Kutsche fest und zwang sich, langsam weiterzugehen. Er würde sich jetzt nicht von seiner Krankheit das Wiedersehen mit Bendix vermiesen lassen!
Bendix sprang vom Kutschbock und landete dicht neben ihm. »Da bist du ja«, sagte er.
»Hallo«, erwiderte Kaèl lächelnd. Es war merkwürdig, so dicht neben Bendix zu stehen. Vor Aufregung wurde ihm ganz kribblig, und er wagte kaum, in Bendix’ Gesicht zu sehen.
»Sollen wir ein Stück gehen?«
Was hatte Kaèl diese Stimme, diese alberne, langgezogene Aussprache vermisst! Er nickte, und gemeinsam liefen sie in den Wald hinein. Ab und an wagte er, Bendix einen kurzen Blick zuzuwerfen – aber der wirkte am ganzen Körper angespannt, was Kaèls Nervosität noch steigerte.
Ein Windstoß fuhr eisig unter seine Robe. Kaèl wollte seinen Mantel zuknöpfen, da fiel ihm auf, dass er diesen nicht trug. Er hatte ihn in der Aufregung in der Kutsche vergessen. Fröstelnd schlang er die Arme um sich.
Als sie außer Hörreichweite der Kutsche waren, verlangsamte Kaèl seine Schritte. »Ich denke, das reicht.« Jedenfalls hatten ihm die paar Meter gereicht, er war außer Atem, und kleine Sternchen tanzten vor seinen Augen.
»Was ist mit dir?« Bendix’ Augen verengten sich. »Du siehst nicht gut aus.«
»Danke«, sagte Kaèl mürrisch.
»Nein, ich meine, du siehst irgendwie krank aus.«
»Ich bin krank.«
»Oh.« Das war alles, was Bendix dazu einfiel. Er verdrehte die Hände ineinander und starrte geradeaus, vor seine Füße, die Lippen fest zusammen gepresst.
Kaèls Stimmung sank. Bendix wirkte nicht so, als würde er ihm gleich eine flammende Liebesbekundung machen.
Er hätte gern etwas Humorvolles gesagt, um die angespannte Stimmung zwischen ihnen zu lösen, aber sein Gehirn verweigerte die Arbeit. Mit einem Seufzer zückte er sein Taschentuch und schnäuzte sich die Nase. Irgendwie war es auch Bendix’ Aufgabe, die richtigen Worte zu finden, schließlich hatte er Kaèl im Stich gelassen und ihn dann fünf Wochen lang ignoriert.
Oder war es andersherum?, fragte ein dünnes Stimmchen in ihm. Hatte Kaèl ihn etwa bedrängt und mit seinen Geschenken immer und immer wieder unter Druck gesetzt? War Bendix deshalb hier, um einen Schlussstrich zu setzen? Aber nein, Kaèl hatte längst aufgehört mit den Geschenken, vor Wochen schon. Es musste das Fieber sein, dass ihn sowas denken ließ.
Er drängte die Gedanken weit fort und linste zu Bendix. Der hauchte Wärme in seine Hände und steckte sie umständlich in seine Taschen. »Wie war deine Prüfung?«, fragte er schließlich.
»Wie bitte?«
»Na, deine Prüfung. Bist du jetzt Erzmagi?«
»Dafür hast du die Kutsche aufgehalten? Um zu fragen, wie meine Prüfung war?«
»Nein ...«, sagte Bendix. »Aber nach allem was passiert ist, habe ich mir Sorgen gemacht, dass ...«
»Ich habe bestanden«, unterbrach Kaèl ihn unwirsch. Er hatte keine Lust auf ein Mitleidsgespräch. Bendix sollte ihm einfach sagen, was los war. Dass es nicht positiv sein würde, das spürte Kaèl sowieso schon, an Bendix’ zögerlichen Gesten und seinem merkwürdigen Schweigen.
»Das freut mich!«
»Das freut dich? Ich dachte, du hasst Magie?«
»Aber das war dir doch so wichtig! Du hast wochenlang von nichts anderem geredet.«
Jahrelang, dachte Kaèl, aber das musste Bendix nicht erfahren. »Du bist ein merkwürdiger Hexenjäger«, sagte er.
Wieder schwiegen sie, und jede Sekunde, in der Bendix nichts sagte, machte Kaèl fahriger. Nach der Sache mit dem Eichhörnchen hatte er versucht, sich damit abzufinden, dass Bendix nichts von ihm wollte, aber dieses ausweichende Verhalten jetzt streute unnötigerweise Salz in seine Wunde. Zu allem Überfluss wurden seine Kopfschmerzen von Moment zu Moment stärker.
»Ist das alles, was du von mir wolltest?«, fragte er deshalb schärfer als beabsichtigt.
Bendix zog den Kopf ein. »Nein«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Ich wollte ... mit dir reden.«
»Nach fünf Wochen«, sagte Kaèl bitter. »Nachdem du mich, nach allem was wir hatten, einfach fallengelassen hast.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Weggeworfen hast du mich!«
Oh verdammt.
Jetzt fiel es ihm wieder ein. Das war genau das, was Timanty ihm damals gesagt hatte, als Kaèl sich nicht mehr gemeldet hatte. Besonders attraktiv war ihm der Ausbruch nicht vorgekommen, eher bemitleidenswert albern. Ihm wurde schwindelig.
Bendix sog scharf die Luft ein. »Das hätte nie passieren dürfen.«
»Dann drucks jetzt nicht herum, sondern sag’ mir klar und deutlich, dass es dir nichts bedeutet hat, und dass du nichts von mir willst!«
»Ich ...« Bendix fuhr sich mit der Hand durchs Haar, suchte offensichtlich nach Worten. »So würde ich das nicht sagen«, brach es schließlich aus ihm heraus. »Ich mag dich, wirklich. Aber mit uns kann das nichts werden. Du bist ein Magier, also alles, was ich verachte, und ...«
»Ach, hör auf«, unterbrach Kaèl ihn frustriert. »Ich bin gerade zu schwach für so einen Unfug! Du willst mich allen Ernstes mit denen über einen Kamm scheren, die dein Kloster zerstört haben?«
»Woher weißt du davon?«, fragte Bendix alarmiert.
Kaèl massierte sich die schmerzenden Schläfen. »Sir Wood hatte so etwas angedeutet.«
»Dieser Verdammte ...« Bendix ballte die Fäuste. »Jetzt brüstet er sich noch damit!«
»Ja, er ist ein Ekel«, sagte Kaèl und legte Bendix versöhnlich eine Hand auf die Schulter.
Bendix zuckte bei der Berührung zusammen, und Kaèl zog den Arm zurück. Demonstrativ hob er beide Hände in die Luft. »Keine Sorge, ich lasse dich in Ruhe. Ich habe längst begriffen, dass das mit uns nichts wird. Spätestens, nachdem du meine Geschenke weiterverschenkt hast!«
»Das weißt du?«
Kaèl warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Du hättest eine derart auffällige Tunika nicht einem schenken sollen, der am Schloss arbeitet!«
Bendix rang die Hände. »Was hätte ich sonst damit tun sollen, Kaèl? Ich bin Mönch. Ich erlaube mir keinen Luxus, trinke keinen Alkohol, und ich esse kein Fleisch oder Zucker.«
Das Blut rauschte unangenehm in Kaèls Ohren. »Kein Alkohol, kein Zucker, kein Fleisch?«, wiederholte er langsam. »Sonst noch etwas, was du nicht darfst?«
Bendix seufzte tief. »Ich darf keinen Sex haben. Zölibat eben.« Er zuckte mit den Schultern.
Keinen Sex. Was für ein absurdes Konzept!
Der Schwindel erfasste ihn, heftiger als zuvor. Er musste sich an einem Baumstumpf abstützen, um nicht den Halt zu verlieren. »Wie kann man so etwas freiwillig tun«, murmelte er.
»Jetzt tu nicht so überrascht«, sagte Bendix und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du weißt doch sonst immer alles.«
Mit letzter Kraft richtete Kaèl sich auf. »Woher soll ich mich mit Menschenreligionen auskennen? Vor allem welchen, die fast ausgestorben sind.«
Beim Wort ›ausgestorben‹ verengten sich Bendix’ Augen.
»Das meinte ich nicht so«, sagte Kaèl hastig. »Ich wollte dich nicht verletzen.« Das Rauschen in den Ohren wurde lauter, und sein Kopf dröhnte. Es war so ärgerlich, in den ganzen Wochen, in denen er auf eine Antwort von Bendix gewartet hatte, hatte er sich Erklärungen zurechtgelegt, um ihn von sich zu überzeugen. Und jetzt ging es ihm so dreckig, dass ihm nichts davon einfiel.
Er presste die Hände gegen die Schläfen. »Ich ... ich würde gern mit dir über alles sprechen, in Ruhe. Ich habe da auch noch Argumente, aber momentan –« Es flimmerte vor seinen Augen, und das Rauschen in seinen Ohren wurde unerträglich.
Es soll endlich aufhören, war das Letzte, was er dachte.
»Kaèl!«, rief Bendix. Er beugte sich über ihn, und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
Kaèl blinzelte verwirrt. Er musste in Ohnmacht gefallen sein, denn er lag ausgestreckt auf dem Waldboden. Wie kalt es war! Er schlotterte am ganzen Körper. Der Boden war nass, und die kühle Feuchtigkeit hatte sich durch seine Robe gefressen. Aber er konnte alles wieder klar vor sich sehen, deshalb versuchte er, seinen Oberkörper aufzurichten. Sofort war das Schwindelgefühl wieder da. »Mir geht es nicht gut«, keuchte er.
Bendix legte ihm eine Hand auf die Stirn. »Du glühst ja.« Er musterte ihn besorgt. »Wieso trägst du nicht deinen aufgeblasenen Mantel?«
»Vergessen«, sagte Kaèl, dann überwältigte ihn ein Hustenanfall.
»Du komischer Vogel! Du musst ins Bett«, sagte Bendix resolut. »Komm, halt dich an mir fest, ich bringe dich zur Kutsche zurück!«
»Nein!« Kaèl schnaufte. »Ich schaffe die Fahrt nicht. Das Gerumpel macht meine Kopfschmerzen nur schlimmer.«
Bendix biss sich auf die Lippe. Sein Blick wanderte von Kaèls Gesicht über seinen zitternden Körper und wieder zu seinem Gesicht. »Es ist nicht weit zu meiner Hütte«, sagte er schließlich. »Ich bringe dich hin, da kannst du dich ausruhen.«
»Danke«, krächzte Kaèl.
»Aber mach dir keine Hoffnungen! Du sollst dich wirklich nur ausruhen! Und wir reden, wenn es dir besser geht. Nichts weiter!«
Kaèl lachte tonlos, aber es ging in ein Husten über. »Glaub mir, momentan ist das mein einziger Wunsch.« Er schloss kurz die Augen. »Ausruhen.«
Bendix kniete sich neben ihn und griff Kaèl unter die Achseln, um ihn aufzurichten. »Kannst du laufen, wenn ich dich stütze?«
»Erst einmal sitzen«, bat Kaèl.
Bendix setzte ihn auf, so dass Kaèl sich mit dem Rücken an einen Baumstumpf lehnen konnte. Er zog seinen Mantel aus und half Kaèl hinein. »Ich hoffe, das hilft etwas.«
Kaèl klappte den Kragen hoch bis ans Kinn. Jetzt war er eingehüllt in Bendix’ tröstlichen Duft. Er atmete ein paar Mal tief durch, bis sein Kreislauf sich normalisiert hatte. »Ich denke, es geht mit dem Laufen.«
»Gut, dann ...«
»Mylord, endlich finde ich Sie!«, rief Mister Taryòn, der hinter zwei Büschen auftauchte. »Sie haben Ihren Mantel in der Kutsche ...« Er verstummte und blickte irritiert von Kaèl zu Bendix, der fröstelnd daneben stand. »Sie haben ja bereits einen Mantel«, sagte er lahm. Vorsichtig kam er näher und stellte sich neben Kaèl, so weit wie möglich von Bendix entfernt. Seine Augen waren immer noch gerötet vom Weinen, aber seine Miene drückte Entschlossenheit aus. »Sie sind krank. Sie müssen zurück zur Kutsche.«
»Nicht jetzt«, sagte Kaèl. »Ich bleibe heute Nacht hier.«
»Nein!«, entfuhr es Mister Taryòn. Misstrauisch äugte er zu Bendix. »Zwingt er Sie dazu?«
»Er ...« Kaèl hustete. Er fasste sich an die Schläfen, als eine besonders fiese Kopfschmerzwelle ihn überrollte.
»Er kann so nicht reisen«, sagte Bendix. »Also bleibt er heute hier und erholt sich. Ich kümmere mich solange um ihn.«
»Um ihn kümmern?« Wieder wanderte Mister Taryòns Blick von Kaèl zu Bendix, und Kaèl konnte mitansehen, wie die Erkenntnis in seinem Gesicht reifte. »Mylord, bitte sagen Sie nicht ...?«
»Ich befürchte, es ist so, wie Sie denken.«
»Der Hexenjäger und Sie, Sie sind ...?« Mister Taryòn stockte und starrte Kaèl mit halbgeöffnetem Mund an.
»Ja«, sagte Kaèl.
»Nein!«, rief Bendix hastig. Seine Stimme überschlug sich. »Wir sind nichts! Und da ist nie etwas gelaufen!« Er verschränkte die Arme vor der Brust.
Muriel, war dieser prüde Mönch ein schlechter Lügner!
»Also ... so gut wie nie«, fügte Bendix unnötigerweise hinzu. Er biss sich auf die Lippe. »Also ...«
»Bendix«, sagte Kaèl scharf, um dem Trauerspiel ein Ende zu bereiten. »Lass mich mit meinem Diener kurz allein sprechen.«
Grummelnd verzog Bendix sich. Als er außer Sichtweite war, seufzte Mister Taryòn erleichtert auf. Seine komplette Körperhaltung entspannte sich.
»Mister Taryòn. Ich habe keine Kraft, das jetzt alles zu erklären. Sie haben es richtig erkannt, der Hexenjäger ist der junge Mann, der mich so fasziniert.« Er rang nach Luft. »Und ich möchte hierbleiben. Fahren Sie ohne mich.«
Das Entsetzen stand Mister Taryòn ins Gesicht geschrieben. »Bitte, Mylord. Ich kann Sie nicht allein zurücklassen! Was soll ich Ihren Eltern erklären?«
»Sie sind ... bei den Taìfus«, ächzte Kaèl. »Sie kommen erst in drei Tagen zurück.«
»Das weiß ich, aber sie werden sicherlich per Hologramm nach Ihnen fragen.«
Kaèl seufzte. »Geben Sie mir meinen Mantel.«
Mister Taryòn tat wie geheißen, und Kaèl suchte in den Taschen, bis er sein Notizbuch und einen Füller fand. Mit letzter Kraft kritzelte er eine Nachricht hin und reichte sie seinem Diener. »Hier. Schicken Sie das meinen Eltern, dann wissen sie, dass mir nicht wohl ist, und wir bis zu meiner Besserung in meinem Strandhaus bleiben. Damit sollten keine Fragen aufkommen.«
»Was ist, wenn er Sie heute Nacht umbringt?«, flüsterte Mister Taryòn mit einem Kopfnicken in die Richtung, in die Bendix verschwunden war.
»Ich versichere Ihnen, das wird nicht passieren. Und jetzt fahren Sie zum Strandhaus, das ist ein Befehl. Sie können mich in einem Tag wieder abholen.«
Mister Taryòns Hand klammerte sich fest um den Zettel. »Wie Mylord wünschen«, sagte er und verbeugte sich.
»Mister Taryòn.« Kaèl räusperte sich. »Ich kann Ihnen nicht genug danken.«
Ein Lächeln huschte über Mister Taryòns Gesicht. »Bis morgen, Mylord.«
»Habt ihr eure Sachen geklärt?«, fragte Bendix, als Mister Taryòn verschwunden war, und Kaèl nickte müde.
»Irgendwie tut mir der Kerl leid«, meinte Bendix. »Der hat am ganzen Körper gezittert, als er mich gesehen hat.«
»Ich will da jetzt nicht drüber nachdenken«, sagte Kaèl. »Ich bin am Ende.«
»Du musst ins Bett.« Bendix beugte sich zu ihm herunter und griff nach seinen Oberarmen. Er half Kaèl auf die Füße, und gemeinsam bewältigten sie die paar hundert Meter bis zu seiner Hütte. Als sie dort ankamen, zitterten Kaèls Beine, und der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter.
Bendix zog ihn hinein in die halbdunkle Stube, aber bevor Kaèl sich groß umschauen konnte, verfrachtete Bendix ihn ins Bett und wickelte zwei Decken um ihn. »Ich mache dir gleich einen Tee, den trinkst du, und dann schläfst du.«
»Ja, Mutter.« Kaèl rollte auf die Seite und starrte geradeaus. Er stutzte. Das Eichhörnchen, das er genäht hatte, blickte ihn aus seinen schwarzen Knopfaugen an. Bendix hatte es nicht weggeworfen, wie den Rest von Kaèls Geschenken. Im Gegenteil, es lag hier, mitten auf seinem Bett. Kaèl zog es an sich und vergrub sein Gesicht in dem Flausch. Es duftete nach Bendix, und Kaèl schlussfolgerte, dass Bendix das Tierchen schon öfters an seine Brust gedrückt hatte. Lächelnd schloss er die Augen.
»Du hast es behalten!«, sagte er, als Bendix den Tee neben dem Bett abstellte.
»Du meinst Nuri?« Er lächelte verlegen. »Ich mag es. Hast du das selbst genäht?«
»Ja«, Kaèl nickte. »Mit einer Nadel.«
Bendix lachte. »Womit denn sonst?«
Was für eine sinnlose Unterhaltung, dachte Kaèl. Er hatte Bendix doch geschrieben, dass er das Eichhörnchen selbst genäht hatte. Aber er war zu erschöpft, um das auszudiskutieren.
Bendix half ihm hoch, und er trank den bitteren Tee, bis er würgen musste. Erschöpft sank er zurück auf die Matratze, drückte das Tierchen an sein Herz und dämmerte weg.
Kaèl hatte sich sein Wiedersehen mit Bendix anders vorgestellt. Nacht für Nacht hatte er sich ausgemalt, wie er Bendix die Kleidung vom Leib riss, ihn mit tausend Küssen bedeckte, wie sie sich liebten, und danach erschöpft in den Armen lagen. In jeder dieser Szenen war er in seine prachtvollsten Roben gekleidet, mit wallendem Haar, und konnte mit seinem Tatendrang und seiner Eloquenz den anfänglich reservierten Bendix von sich überzeugen.
Aber jetzt war er fiebrig und schwach und lag röchelnd und schwitzend auf Bendix’ Bett. Oder, besser gesagt, auf seiner Pritsche, denn als ›Bett‹ konnte man dieses harte, kleine Ding kaum bezeichnen. Sein gesamter Rücken schmerzte von der strohgefüllten Matratze. Immer wieder dämmerte er weg, bis ihn die Schmerzen in seinem Hinterkopf wieder wach pochten.
Manchmal, während solcher wachen Momente, war da Bendix und kühlte seine Stirn mit einem feuchten Lappen. Kaèl konnte sich keinen Reim darauf machen. Bendix wollte nichts von ihm, und dennoch war er so liebevoll.
Ihm kam ein furchtbarer Gedanke. »Bendix«, krächzte er und versuchte, sich aufzurichten, »machst du das nur, weil du Angst hast? Ich verrate dich schon nicht, egal was mit uns wird!«
Bendix versteifte sich. »Was?« Er trat einen Schritt näher ans Bett und schaute Kaèl direkt ins Gesicht. »Darum geht es nicht!«
»Worum dann?« Kaèl griff nach Bendix’ Hand, aber der drückte ihn zurück in die Kissen.
»Shhh! Jetzt mach dir nicht so viele Gedanken! Du sollst dich ausruhen!« Er zupfte Kaèls Decke zurecht und entfernte sich. Kaèl blieb nichts anderes übrig, als wieder die Augen zu schließen.
Er wusste nicht, wie viel Zeit verging, das Pochen in seinem Schädel fraß die Wahrnehmung. Als sein Geist wieder klarer war, war es draußen bereits taghell. Es roch angenehm, nach Essen, und sein Magen knurrte. Wann hatte er das letzte Mal gespeist? Es musste mehr als einen Tag her gewesen sein.
Kaèl stützte sich auf den Ellenbogen und konnte zum ersten Mal Konturen und Gegenstände in der Hütte erkennen. Sie war kleiner als gedacht, nicht einmal halb so groß wie sein Badezimmer und es gab nur wenige Möbelstücke: Eine Holzkiste am Kopfende des Bettes, auf dem eine Kerze stand. Ein niedriges Tischchen, aus grobem Holz gezimmert, mit einer Matte aus Reisstroh darunter, auf der Bendix wahrscheinlich zum Essen saß. Und in einer Ecke des Raumes stand etwas, von dem Kaèl vermutete, dass es ein Herd war, zumindest hatten die gezeichneten Herde in dem Haushaltsbuch, das er nach seinem Gespräch mit Emma gelesen hatte, so ähnlich ausgesehen.
Davor stand Bendix und rührte in einem Kochtopf herum. »Ah, du bist wach«, sagte er, als Kaèl sich räusperte. »Hast du Hunger?«
Kaèl lächelte. »Wie ein Bär.«
Bendix füllte zwei Schüsseln und brachte sie zu Kaèl ans Bett. Er setzte sich dazu, an die Bettkante. »Ich habe Gemüsesuppe und Brot gemacht.« Er stellte Kaèl die dampfende Schüssel und einen Becher hin. »Und Tee, für Ihre Lordheit.«
»Eure Lordschaft«, korrigierte Kaèl und griff nach dem Becher. »Eigentlich aber ›Mylord‹.« Er trank, in kleinen Schlucken. Der Tee war warm und bitter, aber zusammen mit dem Brot war der Geschmack erträglich.
Bendix lächelte. »Du kannst mich wieder korrigieren. Dir geht es besser.«
»Hmpf«, machte Kaèl. »Wenn du mich so schlimm findest, wieso hilfst du mir?«
»Vergiss nicht, ich bin Mönch. Das war ein reiner Akt der Nächstenliebe.« Bendix grinste auf eine Art und Weise, die Kaèl nicht interpretieren konnte.
»Nächstenliebe«, sagte Kaèl und biss erneut in das warme Brot. »Und ich hatte gehofft, du magst mich.«
»Jetzt iss erst mal«, sagte Bendix. »Du bist viel zu dünn geworden, seit ich dich zuletzt gesehen habe. Ich gehe derweil zur Fahrstraße. Deine Leute sollten da bald auftauchen, und ich werde sie um einen Tag vertrösten. Dein Fieber ist immer noch zu hoch, um dir so eine lange Fahrt zuzumuten.«
»Oh«, sagte Kaèl und versuchte, sich nicht zu auffällig darüber zu freuen. Eigentlich ging es ihm bereits besser, zumindest waren die Kopfschmerzen verschwunden, aber das würde er Bendix jetzt nicht auf die Nase binden. »Wie spät ist es denn?«, fragte er deshalb einfach nur.
»Früher Nachmittag.« Bendix stand auf. »Ich sollte jetzt wirklich los.« Er lächelte. »Ich hoffe, dein armer Diener trägt es mit Fassung.«
»Warte, ich gebe dir eine Nachricht mit«, sagte Kaèl.
Als Bendix sich auf den Weg gemacht hatte, leerte Kaèl hastig seine Schüssel. Er hatte keine Zeit zu verlieren – wenn er auch nur halb so streng roch, wie sein Körper klebte, würde er Bendix nie für sich gewinnen. Er musste die paar Minuten von Bendix’ Abwesenheit dazu nutzen, sich wieder präsentabel zu machen.
Als er seine Beine über die Bettkante schwang, wurde ihm schwarz vor Augen. Anscheinend hatte er seine Konstitution überschätzt. Er krallte sich in die Matratze und zwang sich, aufzustehen.
Kaèl schwankte zur Tür und erleichterte sich draußen. Wieder im Hütteninneren suchte er nach einer Waschgelegenheit. Es dauerte viel länger, als erhofft, denn er musste immer wieder innehalten und gegen den Schwindel ankämpfen, aber endlich fand er eine blecherne, ausgebeulte Schüssel neben dem Herd. Seife fand er keine. Egal. Dann musste es das auch tun.
Er stellte die Schüssel vor sich, schloss die Augen und sammelte sein letztes Bisschen magische Energie, um das Bachwasser telekinetisch in die Schüssel ziehen.
Auf einmal ging die Tür quietschend auf, und Bendix trat ein, begleitet von einer eiskalten Böe.
Ertappt zuckte Kaèl zusammen.
»Was machst du mit der Schüssel? Musst du austreten?«
»Was? Nein!« Kaèl errötete. »Ich wollte mir Wasser einzaubern. Ich möchte mich waschen.«
»Zaubern? Nicht in meiner Hütte!« Bendix’ Stimme klang streng, aber dann zwinkerte er Kaèl zu. »Hier wird nicht gezaubert, sonst jage ich dich. Ich bin schließlich der Hexenjäger!« Er griff nach der Schüssel. »Ich mache das.«
»Nein, das musst du nicht tun.«
»Keine Widerworte!« Mit der Schüssel in der Hand stolzierte Bendix zur Tür. »Und du ruhst dich solange aus!«
Grummelnd legte Kaèl sich wieder auf die Pritsche. Bendix war schlimmer als jede Glucke. Und nach seiner letzten Bemerkung hatte Kaèl erst Recht Lust, ihn mit einem Zauber zu ärgern. Aber als er auf dem Rücken lag, und die Augen schloss, merkte er, wie müde er war.
Er erwachte erst wieder, als Bendix ihn vorsichtig an der Schulter anstupste.
»Du kannst dich jetzt waschen.« Mit einem Kopfnicken wies er zum Holzschemel, neben dem eine dampfende Waschschüssel stand. »Das kannst Du ohne Zauber?«
Kaèl nickte schlaftrunken.
»Komm, ich helfe dir auf.«
Er fühlte sich so eklig, das musste Bendix wirklich nicht mitbekommen. »Das schaffe ich schon allein«, sagte er und drückte sich ächzend hoch. Gegen den Schwindel ankämpfend taumelte er Richtung Schemel.
»Jetzt stütz dich schon auf«, sagte Bendix und hielt ihm den Arm hin.
Seufzend griff Kaèl um seinen muskulösen Arm und ließ sich zum Schemel führen. Er setzte sich und versuchte, die unzähligen Knöpfe seiner hochgeschlossenen Robe zu lösen, kam aber nicht dran. Frustriert versuchte er, sich das komplette Ding einfach über den Kopf zu ziehen, verfing dabei einen Arm und seinen Kopf und es gab kein vor- und zurück mehr. »Bendix«, rief er verzweifelt. »Ich stecke fest!«
»Das sehe ich.« Bendix’ Stimme klang amüsiert.
»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte Kaèl kläglich. »Sonst erledigt das mein Diener.«
»Sowas macht dein Diener? Ich fass es nicht!« Bendix grummelte etwas Unverständliches. »Einunddreißig Jahre alt, den Kopf voller Bildung und kann sich nicht selbst ausziehen!«
»Hast du gesehen, wie viele Knöpfe diese Robe hat?«, verteidigte sich Kaèl. Jetzt war er fast froh, dass sein hochrotes Gesicht unter dem Stoff verborgen war.
»Ihr Edelleute und eure Eitelkeiten!« Bendix fummelte an den Knöpfen herum, bis er fluchend aufgab. »Muss es mit dir immer so kompliziert sein?«
»Das sagt der Richtige«, knurrte Kaèl.
Bendix gluckste. Er griff nach Kaèls Kragen und zog daran, zunächst zaghaft, dann mit immer mehr Gewalt. Er fing an zu lachen. »Diese verdammte Robe!«
Auch Kaèl musste lachen.
»Jetzt ist der erste und hoffentlich letzte Moment meines Lebens, in dem ich mir wünsche, zaubern zu können, um diese schrecklichen Knöpfe zu lösen.«
»Zaubern? Du?« Jetzt krümmte sich Kaèl vor Lachen.
»Was denn?«, rief Bendix. »Das macht er doch bestimmt so, dein Diener. Man kann diese Knöpfe überhaupt nicht ohne Magie lösen!«
Mittlerweile hatte Kaèl Tränen in den Augen, und sein Bauch tat ihm weh vor Lachen, aber er konnte nicht aufhören. Irgendwann stimmte Bendix ins Gelächter mit ein, und sie prusteten, bis sie beide nach Luft rangen.
»Ich gebe auf!«, rief Bendix.
»Schneid sie auf.«
»Was? Diese Robe kostet ein Vermögen!«
»Die ist klebrig und verschwitzt. Die ziehe ich nicht noch einmal an. Da kann sich die Hofschneiderin darum kümmern.« Kaèl stieß verächtlich die Luft aus. »Oder dein Kasimir!«
»Es ist nicht ›mein‹ Kasimir«, sagte Bendix scharf.
Eine Weile schwiegen sie sich an, dann sagte Bendix: »Ich soll das jetzt wirklich machen? Deine Robe zerstören?«
Als Kaèl heftig nickte, holte er ein Messer, und löste die Knöpfe, einen nach dem anderen. Als die Öffnung groß genug war, presste Kaèl seinen Kopf hindurch und atmete auf.
Bendix legte die Knöpfe auf den Tisch und befreite Kaèl aus seinem Stoffgefängnis. »So«, sagte er zufrieden.
Zum Glück hatte Kaèls Untergewand keine Knöpfe, sondern war nur durch zwei Stoffstreifen zusammengebunden.
»Ich öffne das jetzt«, sagte Bendix.
Die Hitze stieg in Kaèls Wangen. »Ich bin ganz verschwitzt und eklig.«
»Darum wasche ich dich ja.«
»Äh ja«, sagte Kaèl, mit hochrotem Kopf. »Vielleicht sollte ich das besser selbst ...«
»Da ist doch nichts dabei! Ich habe mich im Kloster um die kranken Mönche gekümmert. Das ist Routine für mich!«
»Wenn du das sagst ...« Jetzt war Kaèl gespannt, wie lange dieser verklemmte Mönch sich selbst täuschen konnte.
Entschlossen presste Bendix die Lippen zusammen und zog Kaèls Untergewand herunter. Er starrte auf seinen Torso. »Wie durchscheinend deine Haut ist«, sagte er verblüfft.
Von wegen, ›routiniert‹, dachte Kaèl.
Er blinzelte an sich herunter. Ja, er war blass, besonders im Vergleich zu Bendix’ haselnussbrauner Haut. Er hatte diese Blässe immer kultiviert, aber unter Bendix’ forschendem Blick fand er sie nicht sonderlich anziehend. Durch sie wirkte sein Körper teigig, gerade um den Bauch, und es betonte unangenehm, wie wenig Muskeln er im Vergleich zu Bendix hatte. Wie ein ›stahlharter Magi‹ sah er jedenfalls nicht aus. Verschämt legte er die Arme um seinen Oberkörper.
»Du musst dich nicht genieren«, sagte Bendix und griff nach dem Lappen, tauchte ihn in die Schüssel und rieb ihn über die Seife. »Ich mag deine Blässe.« Mit langsamen, kreisenden Bewegungen fuhr er Kaèl über Gesicht und Hals. »Schick«, sagte er, als er an Kaèls Kupferkette stieß.
Der Lappen war angenehm warm, und die Berührung kitzelte ein wenig. Kaèl erschauerte und zuckte, aber gleichzeitig sehnte er sich nach mehr. Er öffnete die Arme und ließ Bendix nun auch an seinen Torso. Genüsslich schloss er die Augen und gab sich den Berührungen hin.
Bendix ließ sich Zeit damit, fuhr mehrfach über jede Stelle, mit quälend langsamen Bewegungen. Immer wieder wrang er den Lappen aus, kehrte zurück, und Kaèl spürte erneut die Wärme des Lappens gegen seine Haut. Bendix’ Atem ging stoßweise, während er immer tiefer strich, über Kaèls unteren Rücken, seine Hüftknochen, knapp unter den Saum seiner Unterhose, nur Zentimeter an seiner Scham vorbei. Sein Blick war lustverhangen, wenn auch ununterbrochen auf Kaèls Gesicht gerichtet, fast als fürchte der ›routinierte Herr‹ sich, nach unten zu schauen. Kaèl fragte sich, ob Bendix den Kutscher wirklich nur wegen seines Fiebers um einen Tag vertröstet hatte. Denn auch wenn Bendix sich das nicht eingestand, er war offensichtlich erregt.
Kaèl drängte den Gedanken weit fort. Es war irrelevant, ob Bendix erregt war oder nicht – Körper reagierten manchmal so, das hieß nicht, dass Bendix das auch wollte. Kaèl musste sich zurückhalten, auch wenn seine Lenden pochten. Mit etwas Pech würden Bendix und er sonst genau da landen, wo sie zuletzt aufgehört hatten: Einsam und verstört. Und dann gäbe es keine weitere Chance mehr.
Kaèl biss sich auf die Lippe, um kein verräterisches Geräusch zu machen, aber als Bendix die empfindliche Stelle oberhalb seiner Pobacken streifte, stöhnte er auf.
Sofort löste Bendix sich. »Das sollte reichen«, keuchte er. Er trat einen Schritt von Kaèl zurück, das Gesicht dunkelkirschrot.
Endlich habe ich es geschafft, dachte Kaèl. Der berüchtigte Hexenjäger fürchtet sich vor mir. Nur anders, als erhofft.
Bendix pfefferte den Lappen in die Schüssel und griff nach einem Tuch. Damit rubbelte er Kaèl rabiat ab, als müsse er sich und ihm beweisen, dass da nichts Zärtliches zwischen ihnen war.
Auf einmal verharrte Bendix in der Bewegung. Mit den Fingerspitzen fuhr er Kaèls linke Schulter entlang.
Was hat er denn nun? Irritiert betrachtete Kaèl seine Schulter.
Ach so, die Narbe!
»Die ist von unserem ersten Kampf«, erklärte er.
Bendix zuckte zusammen. »Da hätte ich dich beinahe getötet.« Er zog die Hand fort, schüttelte den Kopf. »Wieso bist du danach wiedergekommen?«
»Weil dieser merkwürdige Hexenjäger mich neugierig gemacht hatte.« Kaèl schaute Bendix schelmisch an. »Wäre es dir lieber gewesen, ich wäre nicht wiedergekommen?«
Bendix presste die Lippen zusammen. »Ich ...« Er starrte auf das Leinentuch in seiner Hand. »Dann wäre es jetzt nicht so traurig«, flüsterte er.
Kaèl beugte sich vor und griff nach Bendix' Handgelenk. »Du findest es auch traurig, allein zu sein?«
Ihre Blicke trafen sich. Bendix’ Augen waren voller Schmerz, aber er wandte den Kopf ab und seufzte gequält. Er lief zum Bett, kramte etwas darunter hervor und warf es Kaèl in den Schoß.
Es war eine braune Hose und eine Tunika aus grauem Leinenstoff. Kaèl hob sie hoch. Die Tunika fühlte sich unter seinen Fingern rau an und war an zwei Stellen ausgebessert. Gedankenverloren schaute Kaèl auf Bendix’ Hemd, das unzählige Flicken aufwies. Es war ihm noch nie aufgefallen, dass Bendix’ Kleidung so zerlumpt wirkte.
Auf einmal hatte er das Bild von Bendix vor Augen, wie er sich über den Stoff beugte und mit Nadel und Faden flickte. Es war mühsam, das wusste Kaèl, seit er selbst das Eichhörnchen genäht hatte.
»Was ist?«, rief Bendix. »Ist sie nicht gut genug für dich?« Er wirkte angespannt, wie er von einem Fuß auf den anderen federte. »Es ist natürlich keine so schicke Robe aus Seide, wie du das gewöhnt –«
»Bendix.« Kaèl warf ihm einen intensiven Blick zu. »Sie ist perfekt.« Bendix Züge wurden weich, und eine Zeitlang betrachteten sie sich wortlos. Dann schüttelte Bendix den Kopf, murmelte etwas von: »Meditieren gehen« und ging fort.
»Was genau hat dir dieser Wood erzählt?«, fragte Bendix, als er endlich mit seiner Meditation fertig war, und sie zusammen Tee tranken.
»Er meinte, dass seine Kompanie euer Kloster überrannt hat, und das völlig grundlos. Und dann haben sie ...«, Kaèls Augen streiften Bendix’ Gesicht. Es wirkte erstarrt, und der Anblick ließ ihn kurz zögern. »Er hat etwas von Folter angedeutet«, sagte er dann, damit es endlich heraus war. Er nahm einen Schluck Tee, um die Situation herunterzuspülen. Allmählich gewöhnte er sich an das bittere Aroma. »Aber ich hatte mir bereits die ganze Zeit gedacht, dass es einen guten Grund geben muss, dass eine so liebenswerte Person wie du zu solchen Mitteln wie Mord greift.«
»Ich bin nicht liebenswert«, sagte Bendix.
»Hallo-o.« Kaèl deutete an sich herunter. »Du gibst mir sogar deine beste Tunika, natürlich bist du liebenswert.«
Bendix starrte finster in seine Tasse.
»Ich bin so wütend auf den Kerl«, sagte Kaèl. »Und ich kann es nicht fassen, dass er –«
»Ich möchte jetzt nicht darüber reden.«
Kaèl atmete tief durch. »Musst du auch nicht. Aber falls du es irgendwann doch willst, dann höre ich dir gern zu.«
Abrupt stand Bendix auf. Er räumte die Tassen zusammen.
»He, ich war noch nicht fertig«, protestierte Kaèl.
»Es wird kein ›irgendwann‹ mit uns geben«, sagte Bendix. »Morgen Nachmittag geht deine Kutsche und dann ...«
»... willst du mich nicht mehr sehen«, komplettierte Kaèl tonlos.
Kaèl war erleichtert, als endlich die Nacht hereinbrach. Den gesamten Rest des Abends hatte er seine Enttäuschung vor Bendix verborgen, um sein letztes bisschen Selbstachtung zu erhalten, aber jetzt, im Schutze der Dunkelheit, konnte er endlich seinen Emotionen freien Lauf lassen.
Warum hatte Bendix die Kutsche angehalten, wenn er ihn doch nicht wollte? Damit hatte er dieses schreckliche Biest namens Hoffnung geweckt, es wütete durch Kaèls Brust und schlug tiefe Wunden. Kaèl biss in die Decke, um nicht zu laut zu schluchzen.
Wenn es nur nicht so kalt wäre, dann könnte er wenigstens wegdämmern, aber der Wind pfiff eisig durch die Ritzen, und Kaèl zitterte am ganzen Körper.
Wenn ihn doch nur einer in den Arm nehmen und wärmen könnte. Einer, der ihn liebte.
Kaèl presste sich enger an das Eichhörnchen und wimmerte leise.
Es raschelte am anderen Ende der Hütte. Bendix setzte sich auf und drehte den Kopf in seine Richtung. Seine Augen glänzten im fahlen Licht des Mondes.
»Habe ich dich geweckt?«, fragte Kaèl heiser.
»Ist dir kalt?«
»Ja.« Kaèl hustete. »Keine Kraft für Wärmezauber.«
Bendix schnaubte exaltiert. »Magie in meiner Hütte. Das wäre ja noch schöner.« Er stand auf und entzündete eine Kerze, die alles in ein flackerndes Licht tauchte. »Ich mache uns ein Feuer im Ofen.«
Er ging vor die Tür und kehrte mit zwei Armvoll Holzscheiten zurück.
Feuer im Ofen! Kaèl wollte, brauchte seine verfluchte Umarmung, kein ›Feuer im Ofen‹. Wieso wollte Bendix ihn nicht einfach halten? Wenigstens für diese eine Nacht, damit er sich nicht so allein fühlte.
›Jetzt nimm mich endlich in den Arm!‹, wollte er sagen, aber das war wahrscheinlich nicht das, was dieser Situation angemessen war. »Danke«, sagte er stattdessen und versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Methodisch schichtete Bendix die Holzscheite im Ofen auf. Seine Bewegungen wurden immer langsamer, bis er ganz innehielt. Lange Zeit schwieg er, die Holzscheite in der Hand. »Vielleicht sollte ich mich zu dir legen«, sagte er schließlich. »Also, wenn du das möchtest. Es wäre warm und … es würde Feuerholz sparen.«
›Feuerholz sparen‹ – Kaèl hatte davon in einem kitschigen Menschenroman gelesen, in dem sowieso immer an allem gespart wurde, anscheinend standen Menschen darauf. Er unterdrückte ein Kichern. War ja klar, dass einer wie Bendix in dasselbe Horn blies. Aber es war einerlei – Hauptsache, Bendix wollte zu ihm. »Ja, das ist eine gute Idee«, sagte er schnell. Seine Stimme überschlug sich vor Enthusiasmus, was ihn ärgerte. So offensichtlich. »Sehr sparsam«, fügte er etwas kleinlauter hinzu.
Bendix nickte bedächtig. »Gut, dann –«
»Moment«, platzte Kaèl heraus. An Bendix’ Argument war ein Fehler. »Wir sind mitten im Wald, gibt es hier nicht Holz im Überflu–« Er schlug sich die Hand vor den Mund. Wie unbedacht konnte man sein? Hatte er sich gerade mit seiner verdammten Pedanterie seine einzige Chance zunichtegemacht? Ängstlich hielt er den Atem an.
»Ach, jetzt halt den Rand«, sagte Bendix. »Oder willst du nicht?«
»Doch! Also …«, ein Hustenanfall durchschüttelte Kaèl, »es wäre mir eine große Freude. Sehr hilfreich.«
Bendix beendete seine Arbeit am Ofen, löschte die Kerzen und kletterte zu Kaèl ins Bett. »Aber nur heute Nacht, weil du so krank bist!« Mit den Worten zog er die Decken über sie beide.
Kaèl wagte kaum, zu atmen, geschweige denn etwas dazu zu sagen, zu groß war die Angst, dass Bendix es sich anders überlegen könnte. Auch Bendix wirkte seltsam starr. Für eine Weile lagen sie schweigend in der Dunkelheit, und Kaèl lauschte Bendix’ hektischem Atem.
»Gute Nacht«, sagte Kaèl und wandte Bendix den Rücken zu. Er fror immer noch. Bendix strahlte Wärme aus, und irgendwann zog es Kaèl zu ihm. Er rutschte näher an ihn heran, bis er Bendix’ Schulter an seinem Rücken spürte. »Ist das so in Ordnung?«, fragte er leise. Als er fühlte, wie Bendix neben ihm nickte, wurde er forscher und rieb sich an ihm.
»Ach du«, sagte Bendix, und es klang kein bisschen wütend. Zu Kaèls Überraschung drehte er sich auf die Seite und schmiegte sich von hinten an ihn. Kurz verharrten sie so, aber dann, endlich, schlang er einen Arm um Kaèls Hüfte, zog ihn an sich und legte mit einem Seufzer sein Gesicht in Kaèls Halsbeuge ab. Er küsste seinen Nacken, und Kaèl erschauerte wohlig. Lächelnd kuschelte er sich noch enger an Bendix.
Kaèls Herz schlug hart und schnell, und er hoffte, dass Bendix das nicht bemerkte. Er konnte kaum glauben, dass das hier wirklich passierte. Nacht für Nacht hatte er sich hiernach verzehrt, sich in Bendix’ Arme geträumt. Morgen mochte das Ganze wieder anders aussehen, aber Kaèl wollte keinen Gedanken an die Zukunft verschwenden. Er schloss die Augen und konzentrierte sich einzig auf die Wärme und Geborgenheit von Bendix‘ Umarmung.
Zum ersten Mal, seit langer Zeit, war er vollkommen glücklich.