Es dämmerte bereits, als Kaèl bei den Ställen eintraf. Er hatte sich Zeit gelassen und war im sanften Trab nach Hause geritten, um Mira und vor allem sich zu schonen. Zeit zu haben, seine Gefühle und Gedanken zu ordnen. Natürlich war ihm das nicht geglückt, – nichts war in Ordnung, als er erschöpft aus dem Sattel rutschte, aber zumindest hatte ihn das repetitive Hufgetrappel eingelullt und ihm ein Gefühl der Taubheit verschafft.
Kaèl tätschelte Mira ausgiebig den Hals, kraulte sie hinter den Ohren, und sie schnaubte zufrieden.
Wenigstens ein Lebewesen, das sich über meine Zärtlichkeiten freut, dachte er bitter und vergrub sein Gesicht an ihrer Mähne.
»Mylord«, sagte sein Kutscher, der ihm aus den Ställen entgegeneilte. »Soll ich sie Ihnen abnehmen?«
Kaèl hob den Kopf. Er nickte abwesend, konnte sich aber nicht von Mira lösen und behielt ihre Zügel fest in der Hand. »Sie ist ein gutes Pferd.« Es war ein Glück, dass es mittlerweile fast dunkel war, denn Kaèl sah sicherlich furchtbar aus. Er weinte äußerst selten, aber wenn er es tat, war die Haut auf seinen Wangen stundenlang rot und wund.
»Ja, das ist sie, Mylord.«
»Und sie hat eine Ration Haferkekse verdient. Jeden Tag der nächsten Woche.« Kaèl schluckte die Tränen hinunter, die ihm schon wieder in den Augen brannten. Es musste endlich aufhören, mit diesen Tränen!
»Wie Mylord wünschen.« Der Kutscher verbeugte sich und zog die Zügel aus Kaèls kältesteifen Fingern. Fast hätte Kaèl protestiert, am liebsten wäre er die Nacht bei Mira geblieben, eingekugelt im weichen Heu. Ihm graute davor, wie ein geschlagener Hund ins Schloss zurückzukehren und zu allem seine gefasste Maske aufsetzen zu müssen, als sei nichts gewesen.
Er blickte dem Kutscher hinterher, und konnte sich erst losreißen, als dieser mit Mira in den Stallungen verschwunden war.
In seinen Gemächern angekommen, ließ er sich als Erstes von Mister Taryòn ein Bad einzaubern.
›Du riechst nach Pferd‹, hatte Bendix gesagt. Es stimmte, Kaèl stank so sehr, dass er es selbst riechen konnte. Der getrocknete Schweiß klebte an seiner Haut, sein Haar war verfilzt und voller kleiner Stöckchen und Dreck. Nichts war von dem stolzen Elb übrig geblieben, der er noch am Morgen gewesen war. Kein Wunder, dass Bendix ihn nicht wollte, er hätte sich so ja selbst nicht gewollt.
Kaèl glitt in das warme Wasser und verteilte großzügig Honigseife über seinem Körper und Haar, schrubbte alles ab, den Schmutz, den Schweiß, die Tränen. Dabei streifte seine Hand die Narbe an seiner Schulter, eine fast vergessene Erinnerung an seinen ersten Kampf mit dem Hexenjäger. Dank Madame Hazels Salbe war sie flach und kaum mehr zu erahnen.
Vielleicht war sie das Einzige, was in seinem Leben von Bendix übrigbleiben würde.
Er schüttelte den Gedanken ab und stieg aus der Wanne. Mister Taryòn hatte ihm Pomade hingestellt, die Kaèl großzügig auf seine wundgescheuerten Schenkel auftrug, um das Brennen wenigstens etwas zu lindern. Er hatte sich zu viel zugemutet, mit dem Gewaltritt. Der Tag hatte ihn ausgelaugt und er hoffte, dass er rasch einschlafen könnte, um die Enttäuschung wenigstens für ein paar Stunden hinter sich zu lassen.
Sein Bett fühlte sich leer an. Was hatte er nicht gekämpft, um Rubìnia und alle anderen davon fernzuhalten um wenigstens hier, in seinem Sanktuarium, seine Ruhe zu haben. Aber jetzt fehlte ihm Bendix’ Umarmung.
Kaèl ließ sich von Mister Taryòn eine zweite Decke bringen, drapierte sie hinter sich, als sei sie ein anderer Körper und schmiegte sich mit dem Rücken gegen den Stoff. Aber es war nicht dasselbe, es war lächerlich, es war kindisch und es trieb ihm die Tränen in die Augen. Und dennoch zog er die Decke enger um sich.
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Am nächsten Morgen erwachte Kaèl mit neuem Tatendrang. Er ließ sich von Mister Taryòn in eine himmelblaue Robe mit Knöpfen aus Platin und verspielten Ornamenten kleiden und verbot sich, zu lange an die Ereignisse des letzten Tages zu denken. Erhobenen Hauptes gesellte er sich zu seinen Eltern an den Frühstückstisch. »Und, wurde der Hexenjäger gestern gefasst?«, fragte er unschuldig.
Als Antwort erhielt er von Akàri nur ein Grollen.
»Er hat der Kutsche nicht aufgelauert«, sagte Elìrios.
»Das ist bedauerlich«, sagte Kaèl. »Wie kam es dazu?« Er spießte ein Stück Entenbrust auf seine Gabel und schob es sich in den Mund, aber das fettige Fleisch ließ ihn würgen. Es war einerlei, er hatte sowieso kaum Hunger.
»Myriam vermutet, dass er gewarnt wurde«, erklärte sein Vater.
»Elìrios«, raunte seine Mutter. »Nicht hier. Die Wände haben Ohren.«
Der Spitzel! Den hatte Kaèl fast vergessen.
Kaèl ließ seinen Blick über die Bediensteten schweifen. Allein hier im Speiseraum zählte er fünf Personen, lauter Leute, deren Namen er nicht kannte, und die ihm sonst auch nie aufgefallen waren. Brauchten sie wirklich so viele Gehilfen für ein einfaches Frühstück?
Ich frage mich, was Bendix bereits alles von uns erfahren hat. Ob er den Spitzel auch über mich ausgefragt hat?
Der Gedanke verstörte und erregte ihn zugleich. Kurz überlegte er, ob er sich diesen Fakt zunutze machen könnte. Aber dafür hätte er erst herausfinden müssen, wer es war, der oder die sie belauschte, und bislang sah er keinen Anhaltspunkt. Trotzdem nahm er sich vor, nun auch zuhause nur in den edelsten Gewändern herumzulaufen.
Nach dem Frühstück schritt Kaèl in seine Bibliothek und suchte sich eine Auswahl an Werken zusammen, die er für seine heutigen Studien benötigte. Eine Stunde schenkte er ihnen seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit, aber dann kroch die Erinnerung an die gestrige Zurückweisung in seine Gedanken und nistete sich dort ein wie eine Tarantel in ihrem Erdloch.
Das ist mein verletzter Stolz, überlegte er. Aber das kann ich korrigieren. Ein Hotàru ist ein Fang, ich bin ein Fang, das wird er schon noch einsehen.
Ja, Kaèl würde Bendix zurückerobern. Er würde ihn unter sich seinen Namen schreien und vor Lust wimmern hören. Danach würde Kaèls Faszination nachlassen, er würde bemerken wie inhaltslos das Ganze war. So war es bislang immer gewesen, warum sollte es hier anders sein?
Weil es mehr als nur Faszination ist, sagte ein böses Stimmchen in ihm, aber er schob es beiseite.
Eigentlich kannte er Bendix kaum. Er würde schnell merken, wie fern Bendix ihm eigentlich war, wenn er mehr Zeit mit ihm verbrachte.
Und wenn er das endlich begriffen hatte, dann könnte Kaèl sich distanzieren, Bendix fallen lassen. Und dann, dann wäre es das gewesen mit der ganzen Konzentrationslosigkeit, den schlaflosen Nächten und den Tränen. Vor allem den Tränen ... Kaèl hätte endlich wieder Raum für seine Arbeit. Für die Prüfung. Das, was ihm wirklich wichtig war, im Leben!
Aber zunächst musste er Bendix zurückerobern. Am besten sofort! Er schlug sein Buch zu und läutete nach Mister Taryòn.
»Ich brauche ein Geschenk für einen jungen Mann«, sagte er, als Mister Taryòn in seiner hellgrünen Livrée durch die Tür trat. »Was mögen die so?«
»Blumen«, sagte Mister Taryòn mit einer Verbeugung. »Junge Männer lieben Blumen.«
»So?«, fragte Kaèl wenig überzeugt.
Kaèl liebte Blumen nicht. Entweder stanken sie oder sie beleidigten sein feines ästhetisches Empfinden mit ihren ordinären Schreifarben. Zu allem Überfluss verwelkten sie rasch und erinnerten dann mit ihren abfallenden Blättern an die Vergänglichkeit des Lebens. Morbide. Was ›junge Männer‹ daran finden sollten, war ihm schleierhaft, aber Kaèl ließ Mister Taryòn immer die Geschenke für seine Geliebten auswählen, und bislang hatte er damit Erfolg gehabt. Mister Taryòn kannte sich einfach besser mit den romantischen Bedürfnissen von Kaèls Geliebten aus, schließlich war auch er ein junger Mann mit einem romantischen Zug um den Mund.
»Dann bereiten Sie einen schönen großen Strauß vor. Ich schreibe derweil eine Karte für den Empfänger.«
Kaèl kritzelte ein paar Worte hin, etwas wie: ›ich habe unser letztes Treffen genossen, lass’ uns das wiederholen, melde dich‹ und setzte zum Schluss die obligate Grußformel darunter.
Das sollte reichen, dachte er, als er das Siegelwachs aufdrückte.
Meist war der Inhalt des Schreibens gleichgültig, Kaèls bedeutsamer Name und das majestätische Siegel allein reichten, um sein Gegenüber zu beeindrucken. Besonders wenn es nicht adelig war. Die meisten seiner bürgerlichen Liebschaften zierten sich anfangs, machten sich ›rar‹, wie es in so vielen schlechten Beziehungsknigges empfohlen wurde. Aber im Gegensatz zum Adel waren sie von den albernen Pralinen und sonstigem Tand viel zu beeindruckt und hielten ihr Schmollen nicht lange durch. Bereits nach ein bis zwei Präsenten kamen sie angekrochen, in Kaèls weit geöffnete Arme. Es war vorhersehbar und langweilig.
Wieso sollte Bendix da anders reagieren? Kaèl musste Mister Taryòn nur das richtige Präsent finden lassen, dann würde Bendix schmelzen wie Butter in der Sonne.
Er beschloss, die Botschaft selbst zu überbringen, denn niemand durfte von Bendix’ Aufenthaltsort erfahren. Kaèl verzichtete dabei auf die bequeme Kutsche und ritt zu Bendix’ Hütte. Dies hatte einerseits den Vorteil, dass die gesamte Operation nur wenig Zeit in Anspruch nahm, andererseits ließ sich so ein Ausritt, sollte jemand misstrauisch werden, leicht als ›sportliche Betätigung‹ maskieren, als Ausgleich für die vielen Stunden, die er angeblich in der Bibliothek schuftete.
Bendix hatte ihm klar zu verstehen gegeben, dass er ihn nie wieder sehen wollte. Also passte Kaèl einen günstigen Moment ab, legte die Sachen vor seine Tür und verschwand, bevor es zu einer Begegnung kommen konnte. Auf dem Ritt zurück haderte er mit sich selbst. Hätte er vielleicht klopfen und mit Bendix reden sollen?
Es gibt keinen Grund, die Dinge zu überstürzen, sagte er sich. Bendix wird mich schon noch anflehen, zu ihm zurückzukommen, wenn er erst den Brief gelesen hat.
Ja ... ganz sicher, so ist es doch immer gewesen.
Der Brief wird ihn ... sicherlich ... umstimmen!
Am nächsten Tag kontrollierte Kaèl noch im Morgenmantel seine Post. Nicht, dass er bereits eine Antwort erwartet hätte, aber Bendix war nun mal das Erste, was ihm nach dem Aufwachen in den Sinn kam, und irgendetwas musste er tun, um dieses drängende Gefühl abzuschütteln. Auch am Rest des Tages bestellte er wiederholt seine Bediensteten her, um sich die Korrespondenz bringen zu lassen, aber nie war ein Schreiben von Bendix dabei.
Der nächste Tag verging ähnlich ereignislos, Bendix schien das ›Rarmachen‹ unerfreulich ernst zu nehmen.
Mittlerweile muss er sich doch nach mir sehnen, dachte Kaèl, ein wenig verärgert. Schließlich sehnte sich auch Kaèl nach Bendix‘ Armen und seinen Küssen, so sehr, dass er oft ins Leere starrte und an nichts anderes denken konnte.
In der zweiten Nacht hatte er eine Erleuchtung:
Er traut sich nicht, mir die Antwort ins Schloss zu schicken.
Ja, so musste es sein! Andernfalls hätte Bendix bestimmt gleich geantwortet.
Wieder schrieb er eine Karte, und bat Bendix, seine Antwort einfach vor die Schwelle seiner Hütte zu legen, Kaèl würde die Nachricht dann holen kommen.
Jetzt fehlte nur noch ein Präsent, um die Botschaft zu garnieren. Diesmal wählte Mister Taryòn eine gute Flasche Wein und den besten Schinken Alènias aus, dazu einen weiteren Blumenstrauß, und Kaèl brachte Brief und Delikatessen zu Bendix’ Hütte.
Früh am nächsten Morgen ritt Kaèl noch vor dem Frühstück aus, um nach einer Antwort zu schauen. Kurz vor der Lichtung ordnete er hastig seine Kleidung und wirkte den Fhaarbulöszauber. Sein Herz klopfte laut, vielleicht hatten seine Zeilen Bendix ja erweicht, und er wollte ihn gleich vor Ort sprechen. Mit etwas Glück wartete er schon sehnsüchtig auf ihn.
Aber es lag keine Antwort auf Bendix’ Türschwelle. Und die Tür öffnete sich auch nicht, obwohl Kaèl bewusst Lärm machte, um Bendix’ Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Aber immerhin waren auch Kaèls Geschenke verschwunden, Bendix musste sie an sich genommen haben.
Als Kaèl auch am nächsten Tag kein Antwortschreiben vor Bendix’ Tür fand, wurde er wütend. Im Jagdgalopp preschte er zurück und ließ sich Stift und Papier bringen, sobald er seine Gemächer betreten hatte. Noch halb im Stehen kritzelte er einige Zeilen hin, dabei musste er dreimal ansetzen, um den Brief zu Ende zu schreiben, da er die Spitzen seines Füllfederhalters verbog, so hart drückte er auf. Die Botschaft wurde weniger eine Lobpreisung, als eine Standpauke darüber wie dankbar einer wie Bendix für Kaèls geschätzte Aufmerksamkeit sein sollte, aber das hatte Bendix verdient. Was bildete sich dieser Bauernlümmel ein, ihm, einen Hotàru, keine Beachtung zu schenken?
Jetzt fehlte ein Geschenk, sonst wäre es ja stillos gewesen. Wieder schickte er nach seinem Diener.
»Es handelt sich um denselben jungen Mann?«, fragte Mister Taryòn, als Kaèl ihn bat, ein Geschenk zu besorgen.
Kaèl nickte.
Mister Taryòn räusperte sich. »Mylord, dürfte ich frei sprechen?«
Das war neu. Mister Taryòn war bereits seit zehn Jahren in Kaèls Dienst, und nie hatte er ›frei sprechen‹ wollen.
Kaèl machte eine auffordende Geste. »Sprechen Sie.«
»Die Etikette würde jetzt Pralinen verlangen, aber ich rate Ihnen, dem werten Herren etwas zu schenken, bei dem Sie wissen, dass es zu ihm passt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich nehme an, dass dieser junge Herr, in den Sie sich verliebt ha–«
»Ich bin nicht verliebt!«, fiel Kaèl ihm ins Wort. »Es ist nur Faszination!« Er verschränkte die Arme vor der Brust. Es war unfassbar, Mister Taryòn verstand selbst das Einfachste nicht. Zu denken, Kaèl hätte sich verliebt ... Das war einfach lächerlich! Aber er war ja auch nur ein Kammerdiener. Warum schenkte Kaèl ihm überhaupt Gehör?
Verteidigend hob Mister Taryòn die Hände. »Bitte verzeihen Sie meine ungeschickte Wortwahl, Mylord. Dieser junge Mann ... ich nehme an, dass Sie die letzten Wochen immer zu ihm gefahren sind?«
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, sagte Kaèl.
Mister Taryòn seufzte leise. »Es geht mich nichts an, Mylord. Ich dachte nur ... dass Sie diesen Herrn sicherlich besser kennen, als ich. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch ... ich suche Ihnen mit Freuden eine Auswahl exzellenter Pralinen zusammen. Aber vielleicht sollte Mylord besser selbst ein Präsent auswählen?«
»Suchen Sie die Pralinen zusammen«, knurrte Kaèl.
Mister Taryòn verbeugte sich erneut und verschwand.
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Die Hotàrus luden dieses Jahr zum Wintersonnenwendeball, und bereits Wochen vorher war das gesamte Schloss von fiebrigem Eifer erfüllt. Das Essen musste geplant werden, die Musik arrangiert, und die Tanzsäle hergerichtet. Aber das Wichtigste von allem war der Lustgarten, der bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal der staunenden Öffentlichkeit präsentiert werden sollte. Jeden Tag zwang seine Mutter Kaèl zu ausgedehnten Spaziergängen zwischen Pavillons und Zitruspflanzen, um mit ihm die neusten Fortschritte zu diskutieren.
Für Kaèls Empfinden war der Lustgarten schon mehr als fertig, die Blumenarrangements türmten sich in schwindelerregende Höhen und alles war erfüllt von magischem Blütenduft, der Kaèl Kopfschmerzen bereitete, aber Akàri fand immer etwas, das noch fehlte. Mit gerunzelter Stirn notierte sie die Mängel in ihrem Notizbuch. »In dreieinhalb Wochen findet der Ball statt, und die Buchsbäume wachsen nicht, wie sie sollen!«
»Hmm«, machte Kaèl. Er war so müde, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Aber wie hätte er die vergangene Nacht auch schlafen können? Bendix hatte auch auf seine letzte Botschaft nicht reagiert.
»Kael’thas, jetzt sag’ etwas dazu, immerhin bauen wir das Ganze hier zu deinem Vergnügen!«
Zu meinem Vergnügen? Fast hätte er gelacht. Seine Mutter und er schienen recht divergente Vorstellungen von ›Vergnügen‹ zu haben. Kaèl hätte ja vorgezogen, die letzte Episode mit dem Hexenjäger zu wiederholen, nur mit erfreulicherem Ende, aber er bezweifelte, dass Akàri Verständnis für solcherart ›Vergnügen‹ aufbrachte.
»Mutter«, sagte er beschwichtigend, »es ist mitten im Winter. Kein Wunder, dass alles ein wenig langsamer wächst.«
»Ach was. Als würde unsere Magie das nicht korrigieren können.«
Kaèl hätte ihr jetzt einen extensiven Vortrag darüber halten können, dass Licht- oder Wärmezauber nicht an die Kraft der Sonne heranreichten, und die Gärtner*innen höchstens verhindern konnten, dass die Pflanzen in der eisigen Erde erfroren. Er hätte seine Argumente mit unzähligen Quellen belegen können. Aber er schluckte die Antwort herunter. Seine Worte würden sowieso auf fruchtlosen Boden fallen.
»Wie du meinst«, sagte er deshalb und seufzte leise.
»Hast du mit der Schneiderin über deine Robe gesprochen?«
Verwirrt hob Kaèl den Blick.
»Na, deine Festtagsrobe. Die ist das Wichtigste, damit du Eindruck auf Nyòko machst. Mir schwebt etwas Glockenförmiges mit einem Umhang vor, am besten in Silber, das passt zu deinen Augen.«
Purpur, dachte Kaèl. Purpur passt zu Bendix’ Augen. Sie sind braun, aber er hat kleine violette Flecken darin.
Bendix schien sich für Mode zu interessieren, immerhin hatte er sich diesen albernen Umhang genäht. Es mangelte ihm jedoch an Gelegenheit und Mitteln, das auszuleben. Aber das konnte Kaèl ändern!
Direkt nach seinem Spaziergang mit Akàri nahm er über Hologramm mit seinem Händler Kontakt auf.
»Lord Hotàru, womit kann ich Ihnen dienen?«, fragte er mit einer tiefen Verbeugung.
»Ich brauche eine purpurne Tunika«, sagte Kaèl. »Aus Seide.«
»Purpurne Seide?« Der Händler legte die Stirn in Falten. »Das wird schwierig. Dieses Jahr gab es wegen der Überschwemmungen in Mandalia große Probleme bei der Purpurschneckenernte. Ich bin untröstlich, aber das einzige Schiff, das Purpurschnecken führt, ist auf dem Weg nach Ryumàr.«
»Dann lassen Sie es nach Nìshai umleiten.«
»Mylord, das Schiff wurde von Lord Ryunòr selbst beordert. Purpur wird traditionell nur der Herrscherfamilie zugestanden. Sie riskieren einen Affront, wenn Sie dies so öffentlich …«
»Einerlei«, sagte Kaèl. »Überbieten Sie sie. Ich benötige die gefärbte Seide so schnell wie möglich.«
Der Händler nickte zaghaft, und Kaèl beendete das Gespräch.
Purpurgewinnung war ein komplizierter Prozess: Das Schiff mit den Schnecken erreichte Nìshai nach fünf Tagen. Dort ließ man die Drüsen von hunderttausend Tieren herausschneiden und auspressen. Das so gewonnene Sekret wurde erst in Salz eingelegt, dann mit Pferdeurin vermengt und tagelang schwach erhitzt, bis die Flüssigkeit auf ein Zehntel ihrer ursprünglichen Masse reduziert worden war. Die zu färbenden Stoffe wurden dort eingetaucht, und oxidierten dann an der Luft zu ihrem unverkennbaren violetten Farbton.
Zwanzig Schneider*innen nähten Tag und Nacht die Stücke zusammen und endlich, knapp zwei Wochen, nachdem Kaèl der Gedanke das erste Mal in den Sinn gekommen war, wurde die Ausbeute auf eine Lastkutsche geladen und zum Hotàru’schen Schloss befördert.
Vielleicht hätte ich nicht das komplette Schiff ordern sollen, dachte Kaèl, als er die Berge von Tuniken und Umhängen in allen Schattierungen von Violett erblickte, aber für solche Bedenken war es jetzt zu spät.
Er ließ die Waren in seinem Gemach aufstapeln, und suchte einen leuchtendvioletten Umhang sowie eine kunstvoll verzierte Tunika heraus. Als er den feinen Stoff ins Licht hielt, war er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder mit sich und der Welt zufrieden.
Vielleicht hatte Mister Taryòn doch nicht so unrecht, dachte er. Ich weiß am besten, was Bendix braucht.
Kaèl wühlte in seinen Schränken nach etwas buntem Pergament, in das er die Gaben einschlagen konnte. Auch ein kleines Zettelchen legte er dazu, diesmal schrieb er schlicht das, was er wirklich dachte:
Du fehlst mir. Bitte melde Dich.
Diesmal würde Bendix sich melden. Er vermisste Kaèl doch auch, sonst hätte er nicht in dem einen Moment nach Kaèls Hand gegriffen. Da war eine Verbindung zwischen ihnen beiden gewesen, die Bendix nicht leugnen durfte.
Kaèl wartete einen Tag, zwei, aber Bendix antwortete nicht. Am dritten Tag war er verzweifelt. Des Nachts lag er im Bett, wälzte sich von einer Seite auf die andere, schlaflos. Er zählte die Stunden, die verstrichen waren, seit er den Umhang vor die Tür gelegt hatte.
Es waren zu viele.
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»Jetzt heben Sie einmal die Arme, sehr schön, vielen Dank Mylord.« Die Hofschneiderin verbeugte sich. »Damit hätte ich die Maße beisammen.«
Kaèl nickte zufrieden.
Die Robe, die sie kreiert hatte, war ein Blickfang. Mitternachtsblau, mit hoch aufgestellten Kragen und feinsten Verzierungen aus weißen Opalen, die schimmerten wie tausend Sterne. Sie musste Kaèl nur noch auf den Leib geschneidert werden, dann wäre sie perfekt.
»Nun sollten wir über Mylords Wünsche bezüglich des Umhangs sprechen.«
»Nur zu«, sagte Kaèl.
»Mein Gehilfe zeigt Ihnen gleich eine Auswahl an Stoffmustern, bitte suchen Sie da etwas heraus.«
»Hmm«, machte Kaèl. Aus dem Augenwinkel nahm er etwas wahr, das seine komplette Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Stückchen purpurfarbener Ärmel, der durch den Manschettenschlitz des Gehrocks des Gehilfen hervorblitzte.
»Wer ist das?«, fragte er scharf.
»Das ist Kasimir, mein Gehilfe.«
Kasimir. Der Name ließ darauf schließen, dass dieser junge Mann ein Mensch war. Kaèl musterte ihn von Kopf bis Fuß. Es war ein sehniger, hochgewachsener Kerl, ungefähr in Bendix’ Alter, mit hellbraunen Haaren und einem sinnlichen Schmollmund.
Die kalte Wut stieg in ihm hoch.
»Ich würde das gern mit Kasimir allein besprechen«, sagte Kaèl, und die Schneiderin verließ mit einer Verbeugung den Raum.
Sobald sie aus der Tür war, packte Kaèl den Gehilfen am Kragen und drückte ihn gegen die Wand. Er riss den Gehrock auf und erblickte eine purpurne Tunika – Bendix’ Tunika! Woher hast du diese Tunika?«
»Ein Freund hat sie verschenkt«, stammelte Kasimir.
»Hat er dir noch mehr geschenkt, dieser Freund?«
»N- Nein.«
»Wein? Schinken?« Kaèl verstärkte den Griff.
»Das h- hat er den anderen aus dem Dorf mitgebracht.« Kasimir schnappte nach Luft, und in seinen Augenwinkeln sammelten sich Tränen.
Auf einmal tat der Junge ihm leid, er konnte ja auch nichts dafür, dass Bendix Kaèl nicht wollte.
Kaèl ließ ihn los. »Raus«, sagte er leise.
Als Kasimir mitsamt der Schneiderin verschwunden war, ließ Kaèl sich auf einen Stuhl fallen. Er vergrub den Kopf in den Händen. Bendix hatte alles verschenkt. Er hatte Kaèls Präsente nicht eines Blickes gewürdigt.
Und da dämmerte es Kaèl. Es war sinnlos, das mit den Geschenken fortzuführen. Ebenso sinnlos war es, weiter die Karte seiner Abstammung auszuspielen, um Bendix’ Gunst zu erlangen. Bendix’ Ablehnung war mehr als ein bloßes ›sich rar machen‹. Sie war fundamental, und kein Titel, kein Gold würde daran etwas ändern.
Es war das vernünftigste, jetzt einfach aufzuhören, und sich endlich auf seine Studien zu konzentrieren. Immerhin musste sich Kaèl in zwei Wochen vor dem Rat der Elf behaupten. Warum betrieb er die gesamte Zeit so einen Unsinn, der doch zu nichts führte?
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.
Wem machte er eigentlich etwas vor? Diese ganzen Gefühle, die schlaflosen Nächte, die Unkonzentriertheit – das war nicht nur bloße Faszination. Es war mehr. Er vermisste Bendix, es war ein uferloses Sehnen, und Kaèl ertrank in seiner unerwiderten Zuneigung.
Kaèl war verliebt. Verliebt in den Hexenjäger.
Er war verloren.
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Das war sehr inspirierend für das Kapitel:
https://www.youtube.com/watch?v=Ch1aVmjvYTI&list=PLCmU3Ldm2GWTvnh0vTGJ7xk3Sshl8lQTT&index=1