Misstrauisch beäugte ich den Familienzuwachs. Auf wackeligen Beinen tapste er in den Wohnraum, den Kopf in alle Richtungen drehend, sich nach jemandem umschauend. Ich verkroch mich tiefer in der Kratzbaumhöhle. Statt wie sonst oben auf dem weichen Kissen zu thronen und den Überblick, den mir diese Position verschaffte, zu genießen, hatte ich diesen Zufluchtsort gesucht. Auf gar keinen Fall ließ ich zu, dass er mir auf mein frisch geputztes Fell sabberte. Ich verstand ja, dass seine Mutter sich nicht mehr um ihn kümmerte, aber ich war doch kein Ersatz!
„Na Leo, suchst du unsere Flugkatze Stella? Die kann sich super verstecken. Kommst du mit in die Küche? Dort bekommst du deine Milch.“ Clara, mein kurzer Hoffnungsschimmer auf Rettung, drehte auf dem Absatz um und verschwand außer Sicht. Das Unheil verweilte dagegen an Ort und Stelle.
„Ich weiß, dass du hier irgendwo bist. Meine Nase verrät es mir.“ Leo tapste näher an meinen Aussichtsturm heran, so dass ich ihn aus den Augen verlor. Den Kopf aus der Höhle zu stecken, traute ich mich nicht. Dann sah er mich womöglich sofort. Etwas scharrte weit unter mir. Kleine Krallen, die sich in den Bast um die Säule krallten. „Ich komme jetzt hoch zu dir.“
„Bleib lieber unten, sonst tust du dir noch weh und ich bekommen die Schuld.“ Mürrisch kroch ich aus dem Versteck, breitete die Flügel aus und flog rüber auf das Bücherregal.
„Das ist nicht fair“, motzte der Kleine mit seiner piepsigen Stimme, auf der Mitte der untersten Kratzbaumsäule hängend. „Warum spielst du nicht mit mir? Raus zu den Hunden darf ich nicht.“ Er ließ sich fallen, plumpste auf die Bodenplatte. „Wenn ich einmal groß bin, dann wachsen mir auch Flügel. Dann kann ich dir überallhin folgen.“ Ich hielt einen Moment inne, ließ seine Worte sacken.
„Du kleiner Traumtänzer!“, schalt ich Leo, der vorwurfsvoll zu mir hochsah. „Du bist ein Kater, kein Flugkater. Dir werden niemals Flügel wachsen.“ Er sackte in sich zusammen, kauerte wie ein Häufchen Elend auf dem Boden. Mein Herz krampfte. Wieso hatte Clara sich ausgerechnet so einen niedlichen kleinen Kerl als Haustier ausgewählt? Seufzend flog ich zu ihm runter. „Meinetwegen, lass uns spielen.“ Schnurrend drückte er sich an meine Brust.
„Danke, du bist die Beste.“ Er schloss kurz die Augen. „Sag mal, was ist ein Traumtänzer?“