Wir saßen auf dem Fußboden in unserem ehemaligen Wohnzimmer. Die Wände kahl, ihres Schmuckes beraubt. Familienfotos, die in irgendeinem Lieferwagen Richtung Baltimore unterwegs waren. Ich rührte trübsinnig in der quadratischen Pappschachtel. Chinesische Nudeln mit süßsaurem Gemüse. Von meinem Lieblingsasiaten. Kein Kunststück. Es gab in dieser Stadt nur einen. Etwas, das mir gefallen hatte. Die Auswahlmöglichkeiten waren gering. In einer Großstadt sah das mit Sicherheit anders aus. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
„Bin ich froh, dass die Männer von der Umzugsfirma alles unterbekommen haben. Zwischendurch hatte ich da so meine Zweifel.“ Mama legte ihre Essstäbchen zur Seite und starrte zu den Zwillingen Sophie und Baxter. Besser bekannt als Angst und Furcht. Der zwei Jahre jüngere Maximilian, kurz Max oder Schrecken, grinste breit mit vollgestopften Wangen. Ich lugte in seine Schachtel, schob ihm meine hin. Mir war der Appetit gründlich vergangen. Obendrein hatte ich die Vermutung, dass er noch Hunger hatte und wieder nachts durchs Haus geisterte, wenn er jetzt nicht genug aß. Daher sein Spitzname. Weil er uns zuweilen in Schrecken versetzte.
Die Zwillinge kicherten verhalten. Ein untrügliches Zeichen, dass sie etwas ausheckten. Meine Gedanken wanderten zu dem Morgen zurück, als ich mit einem bemalten Gesicht aufgewacht war. Baxters Aktion. Zum Glück hatte er wasserlösliche Filzstifte benutzt. Doch seitdem schloss ich die Zimmertür grundsätzlich ab und nannte den kleinen Teufel Furcht. Sophie stand ihrem Zwillingsbruder in nichts nach. Es war eher so, dass sie sich mehr zutraute als die beiden Jungen zusammen. So hatte ich sie diverse Male aus Bäumen der Nachbarschaft gepflückt oder sie von einem Garagendach heruntergeholt. Regelmäßig jagte sie unserer Mutter mit ihren tollkühnen Aktionen Angst ein.
Furcht, Angst, Schrecken. Drei kleine Teufel, wie Pech und Schwefel.
Ein Leben ohne sie? Himmlisch friedlich, gleichzeitig verstörend langweilig. Ich liebte die kleinen Monster über alles. Wäre das nicht der Fall, hätte ich mich womöglich gegen den Umzug gewehrt. Doch so?
„Chumani! Du und deine ewigen Träumereien. Wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken?“ Meine Mutter schüttelte tadelnd den Kopf. Die drei kleinen Teufel kicherten weiter.
„Mama, wieso hat Chumani so einen komischen Namen?“ Baxter zog eine Grimasse, als wenn er in einen sauren Apfel gebissen hatte. Mein Gesicht verzog sich ebenso.
„Wieso sagst du das? Er ist doch wunderschön!“ Unsere Mutter runzelte verwirrt die Stirn. Verstand sie wirklich nicht, was sie mir mit dieser Namenswahl angetan hatte? Wie ich seinetwegen gelitten hatte?
„Wunderschön?“ Mir platzte der Kragen. „Ist dir eigentlich bewusst, wie viel Spott ich deswegen in der Schule ertragen musste? Wie bist du überhaupt auf diesen bescheuerten Namen gekommen?“ Ich schlug beide Hände vor den Mund, bereute die Worte, sowie sie über meine Lippen kamen. Mama wurde leichenblass, ihr Kinn zitterte.
„Entschuldigt mich bitte einen Moment.“ Sie stand auf, lief zur Hintertür, die in den Garten führte. Meine Geschwister saßen mucksmäuschenstill auf dem Boden, ein seltenes Spektakel.
„Ich gehe mich mal besser entschuldigen. Ihr stellt in der Zwischenzeit nichts an.“ Ich folgte meiner Mutter nach draußen, wo sie mit dem Rücken zum Haus stand. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, ihre Schultern bebten. Ihr Anblick verstärkte das beklemmende Gefühl in meinem Brustkorb, das mir die Luft abschnürte. Sie weinte meinetwegen. Ich schluckte den Kloß im Hals runter.
„Es tut mir leid, Mama.“ Ich schlang die Arme um ihren Körper.
„Ich weiß, Kleines.“ Sie atmete tief ein. „Chumani war meine beste Freundin. Ich habe ihr viel zu verdanken.“ Sie sprach in der Vergangenheit. Waren sie nicht mehr befreundet, oder? Ich riss die Augen weit auf.
„Ich erzähle es dir, wenn deine Geschwister im Bett sind. Du bist jetzt alt genug, es zu erfahren.“ Sie drehte sich zu mir um, strich sanft über meine Wange. Ich folgte ihr zurück ins Haus, wo die Zwillinge den Müll vom Essen zusammensuchten und ihn in den Müllsack warfen. Seit wann waren die zwei so hilfsbereit? Entweder heckten sie etwas aus oder mein Gefühlsausbruch hatte mehr angerichtet, als ich erwartet hatte.
Eine halbe Stunde später lagen sie auf ihren Luftmatratzen. Mama und ich setzten uns draußen ins Gras, damit sie uns nicht belauschten. Gespannt wartete ich ab.
„Ich habe dich nicht grundlos Chumani genannt. Gegen den ausdrücklichen Wunsch deines Vaters.“ Sie stockte, richtete den Blick zu den Sternen. „Du weißt, wie gern er alle Fäden in der Hand hält.“ Das war eine Untertreibung. Papa hasste es, wenn sich jemand einmischte, es wagte, etwas gegen seine Entscheidungen einzubringen. Er hätte mir, wäre er heute anwesend, für den Gefühlsausbruch eine Woche Hausarrest und einen Monat Taschengeldentzug verpasst. Als Strafe für das respektlose Verhalten. Mama war zum Glück sanftmütiger.
„Chumani war, wie gesagt, meine beste Freundin, lange bevor ich deinen Vater kennenlernte. Wir gingen zusammen zur Schule, entdeckten zur selben Zeit unser Interesse für das andere Geschlecht. Eines Tages lernten wir zwei Jungs kennen, deinen Vater und seinen besten Kumpel. Es folgten einige Doppeldates. Wir gingen ins Kino oder hockten bei mir zuhause. Ich wurde schnell schwanger. Ab dem Moment versuchte dein Vater, Chumanis und meine Freundschaft zu schwächen. Eines Abends, wir waren zu viert in einem Club, sagte ich ihm, dass ich mich niemals von Chumani trennen würde. Dass er sich damit abzufinden hatte, wenn er sein Kind aufwachsen sehen wollte. Er betrank sich, obwohl er unser Fahrer war. Ich wollte mir später ein Taxi rufen, doch er bestand darauf, dass wir drei bei ihm mitfuhren.“ Mamas Lippen zitterten, ihre Augen füllten sich mit Tränen. In meinem Bauch formte sich ein Eisbrocken. Ich flehte sie innerlich an, nicht weiterzureden.
„Es kam zu einem Unfall. Der Wagen prallte gegen einen Baum, der durch die Wucht brach und aufs Autodach stürzte. Chumani warf sich schützend über mich. Ich verdanke ihr dein und mein Leben.“ Sie brauchte nichts weiter zu sagen. Die Freundin war tot, gestorben durch den Übermut meines Vaters. Ich schlang die Arme um Mama, hörte ihrem leisen Schluchzen zu, bis es verstummte.
„Die Freundschaft zu seinem Kumpel zerbrach. Dieser hat ihm nie verziehen, was an dem Abend passiert ist. Ich fand mich irgendwann damit ab, schon allein, weil ich ein Baby bekam, das meine Aufmerksamkeit benötigte. Dein Vater kümmerte sich aufopferungsvoll um mich. Außer ihm und deinen Großeltern kam niemand, um mich aufzuheitern. So habe ich dann seinem Werben nachgegeben. Kurz nach deiner Geburt haben wir geheiratet. Ich gab meine Träume auf eine Karriere für die Familie auf.“ Mein Magen krampfte, ich presste die Lippen aufeinander. Wieso erzählte sie mir das jetzt? Bereute sie ihre damalige Entscheidung? Hatte sie das all die Jahre versteckt?
„Dein Vater hat vorhin angerufen. Am Wochenende sind wir zu einer Feier in Baltimore eingeladen. Silberne Hochzeit eines Geschäftspartners. Du bist als Tischdame für dessen zwanzigjährigen Sohn vorgesehen. Zum besseren Kennenlernen.“ Sie legte einen Finger unter mein Kinn, drückte meinen Kopf hoch, damit ich ihr in die Augen sah. „Begehe nicht den gleichen Fehler, den ich gemacht habe. Verstehe mich nicht falsch. Ich liebe dich und deine Geschwister über alles. Doch ich frage mich auch, was ich hätte erreichen können, wäre ich nicht so früh schwanger geworden.“
Still folgte ich ihr zurück ins Haus. Plante mein Vater etwa, mich schnell zu verheiraten? In seinen Kreisen war es nicht unüblich, dass die Töchter früh heirateten und Kinder bekamen. So sehr ich meine Geschwister liebte, doch ich mit einem Baby? Auf gar keinen Fall! Ich seufzte leise. Womöglich konnte der Sohn des Geschäftspartners mich nicht einmal leiden. Dann wäre das Problem aus der Welt? Doch was, wenn er sich dem Willen seiner Eltern beugte? Ein schmerzhaftes Pochen zog sich von meiner Schläfe hoch zur Stirn. Mit Mühe lockerte ich meine hochgezogenen Schultern. Es musste doch einen Ausweg geben!
„Hier, die kleinen Teufel haben uns zwei Glückskekse aufgehoben.“ Sie hielt mir einen hin. Zweifelnd nahm ich ihn ihr ab. Wer auch immer sich die Sprüche darin ausdachte, hatte einen an der Meise.
„Lachen ist die beste Medizin“, las sie stirnrunzelnd vor. Ich bezweifelte, dass ihr nach der Geschichte zum Lachen zumute war. Mit einem leisen Knack brach ich meinen Glückskeks entzwei.
„Du wirst das Abenteuer finden, oder das Abenteuer findet dich.“ War das eine Aufforderung zum Weglaufen? Ein schlechter Zeitpunkt, jetzt, wo all meine Sachen unterwegs nach Baltimore waren. Wäre ich überhaupt in der Lage, solch eine Entscheidung zu treffen? Ergo musste das Abenteuer wohl zu mir kommen. Kopfschüttelnd verkroch ich mich unter der Decke. Die Gedanken kreisten in meinem Kopf. Hatte Papa wirklich vor, mich mit dem Sohn eines Geschäftspartners zu verheiraten? Waren ihm seine Geschäfte so viel wichtiger als seine Tochter? Je mehr ich darüber nachdachte, desto verworrener wurde alles.
„Aufstehen! Es geht gleich los. Wir frühstücken unterwegs.“ Quälend langsam kämpfte ich gegen die bleierne Schwere an, die meine Lider geschlossen hielt, setzte meinen protestierenden Körper auf. „Chumani, schaust du bitte auf dem Dachboden nach, ob das Dachfenster noch offen ist? Ich glaube, ich habe gestern vergessen, es zu schließen.“
Ohne zu murren, folgte ich Mamas Aufforderung und kletterte die Holzleiter hoch. Ein leichter Windhauch streichelte meine Wange. Seufzend schloss ich das Fenster. Summen, Vogelgezwitscher. Ein Brummen, das wie das Brüllen eines Bisonbullen klang. Bildete ich es mir nur ein, oder kam es vom Spiegel? Wieso wollten meine Eltern ihn nicht mitnehmen?
Stirnrunzelnd fuhr ich mit den Fingerspitzen die Verzierungen zu beiden Seiten nach. Das Spiegelbild verschwamm. Ein gleißendes Licht blendete mich. Ein unvermittelt aufkommender Wind wand sich wie ein Seil um meinen Körper, zerrte mich näher heran. Was passierte hier? Ich setzte zu einem Hilfeschrei an, doch bekam keinen Ton heraus. Verzweifelt umklammerte ich die Spiegelseiten. Schweiß bildete sich auf meinen Handflächen. Ich verlor den Halt. Eine unsichtbare Kraft zerrte mich unerbittlich durch einen Tunnel aus blitzenden Lichtfetzen. Dann völlige Dunkelheit.