Stöhnend richtete ich mich auf, die Lider geschlossen, und führte eine Hand zum Kopf. Wie Hammerschläge pochte es hinter meiner Stirn. Schweiß rann an Schläfen und Nacken herab, durchnässte das Shirt, das ich trug. Eine brütende Hitze lag in der Luft. Was war passiert? Das Letzte, an das ich mich erinnerte, war der Spiegel. Das seltsame Summen. Der ungewöhnliche Wind, obwohl das Fenster zu war. Von mir, nur wenige Augenblicke zuvor. Hatte ich das Gleichgewicht und das Bewusstsein verloren?
Die Finger meiner anderen Hand tasteten den Boden ab. Weich, krümelig. Keine alten verschlissenen Holzdielen. Etwas schnitt mir in die Fingerkuppe. Erschrocken riss ich die Augen weit auf. Gras? Aber ich stand doch eben noch auf dem Dachboden! Mein Puls raste, verwirrt sah ich mich um. Sanft wogende Grasflächen, eine leicht hügelige Landschaft. Merkmale einer Gegend, die ich seit der Kindheit kannte. Früher die Heimat von Bisons, Gabelböcken, Präriehunden, Schlangen und großen Spinnen.
Taranteln!
Ich sprang wie von dieser gebissen auf. Ein stechender Schmerz schoss mir durch den Kopf. Siedend heiße Pfeile, die sich in mein Gehirn bohrten. Blitze vor den Augen, die Sicht verschwamm. Mein Herz pochte wie wild, nahm mir die Luft. Ich beugte mich vor, stützte die Hände etwas oberhalb der Knie ab. Tiefe Atemzüge, die Sonne brannte mir auf Rücken und Nacken. Langsam klärte sich das Blickfeld, das Flimmern verschwand. Vorsichtig richtete meinen Körper wieder auf, betrachtete abermals das Gelände. Prärie oder Plains, doch wie war ich hier gelandet? Wo war Hier?
Ich drehte mich langsam um die eigene Achse im Kreis. Keine Straßen, keine Gebäude, keine Weizenfelder, kein Mais, keine Rinder. Nur Gras und einige wenige Sträucher oder Büsche. Alles klar, das Gebiet gehörte aller Wahrscheinlichkeit nach zum Pine-Ridge-Reservat. Ich klopfte den Staub von der Hose, zog die Nase kraus. Wo fand ich Menschen, die zumindest meine Mutter informierten? Mama sorgte sich mit Sicherheit schon um mich. Wie war ich nur in dieser Einöde gelandet? Träumte ich nur?
Die einzige logische Erklärung! Wieso war ich da nicht eher draufgekommen? Ich zwickte mir kräftig in den Oberarm. Tränen schossen in meine Augen. Ich schloss sie für einen Augenblick. Die Sonne brannte weiter auf mich herab, versengte mir die Kopfhaut, die kribbelte, als wenn Hunderte Ameisen darauf herumliefen. Nach einer gefühlten Ewigkeit riskierte ich erneut einen Blick. Unendliche, sich im sanften Wind wiegende Grasflächen. Verdammter Mist!
Norden – Süden – Westen – Osten
Da ich keinen blassen Schimmer hatte, in welcher Ecke des Reservats ich mich aufhielt, stapfte ich wahllos in eine Richtung. Den Blick auf eine Erhebung in der Ferne gerichtet, von der ich annahm, dass es ein Strauch war, lief ich genau darauf zu. Sobald ich ihn erreichte, suchte ich mir einen neuen Anhaltspunkt, minimierte die Wahrscheinlichkeit, im Kreis zu rennen. So viel zur Theorie. Doch was, wenn ich mich täuschte? In meinem Magen kribbelte es unangenehm. Die feuchten Hände wischte ich an der Hose ab, zwang mich zu einer kontrollierten Atmung. Das war hier nur das Rez. Wenn ich nicht herumtrödelte, stieß ich bald auf Menschen, die mir weiterhalfen. Ich visierte das erste Etappenziel an, lief unaufhaltsam darauf zu,
Der Busch entpuppte sich als etwa zwei Meter hohes und ebenso breites Gestrüpp. Zumindest überragte es mich um wenigstens einen Kopf und reichten beide Armlängen nicht aus, um die äußersten Zweige an den Seiten zu berühren. Ich kam mir blöd vor, wie ich mit weit geöffneten Armen dastand. Für einen Beobachter sähe es aller Wahrscheinlichkeit so aus, als ob ich den Strauch umarmte. Ein selten dämlicher Anblick. Ich seufzte, sah mich prüfend um. Kein Lebenszeichen, nicht einmal ein Vogel, der zwitscherte, oder eine Grille, die zirpte. Mit dem Handrücken wischte ich mir über die Stirn. Das Shirt klebte wie eine zweite Haut an meinem Körper. Eine leichte Brise strich über die Landschaft hinweg, die einzige Abkühlung, die mir vergönnt war. Wieso hatten meine Vorfahren die Indianer nur immer in die unwirtlichsten Gegenden abgeschoben? Ein Fluss, ein Bach, irgendeine Wasserquelle, Nichts dergleichen.
„Hallo, ist da jemand?“ Rau, fremd. Meine Stimme schien nicht von mir zu stammen. Ich räusperte mich. Die Mundhöhle war ausgedörrt wie die Prärie, Schlucken bereitete Schmerzen. Ein lautes Knurren erklang. Die Hände weit von mir gestreckt fuhr ich herum. Lauerte ein Raubtier im Gras? Ein Wolf? Ein Kojote? Ich hielt den Atem an, kniff die Augen zu schmalen Schlitzen und suchte zwischen den Grashalmen nach einer Bewegung. Es knurrte erneut. Mein Magen krampfte. Eine gähnende Leere, die einzustürzen drohte. Kein Tier, das mich als Mahlzeit ansah.
„Zu essen gibt es hier sicher auch nichts.“ Kritisch betrachtete ich das Gestrüpp. Nur Blätter und Zweige. Nicht eine Beere. Obwohl ich nicht einmal wusste, ob die essbar wären.
Enttäuscht, mit stetig lauter knurrendem Magen, umrundete ich den Strauch. Eine langgezogene Talsenke lag vor mir. Die Erhebung auf der gegenüberliegenden Seite schien mir ein Stück höher zu sein als die meinige. Zumindest erkannte ich nicht, was sich drüben dahinter versteckte. Ich ließ den Blick durch das Tal schweifen. Kniehohes Gras, einige Büsche. Wieso gab es hier keine Bäume, die Schatten spendeten? Schweiß rann von den Achseln die Arme hinunter. Hinter meiner Stirn spielte ein Schlagzeuger auf seinem Instrument. Es pochte, es hämmerte. Das war nicht ein Musiker, sondern eine komplette Percussionband.
Mürrisch stieg ich ins Tal hinab. Wasser und eine Kleinigkeit zu essen, mein sehnlichster Wunsch für den Moment. Verdammter Fußmarsch! Meine Fußsohlen brannten vom stundenlangen Laufen. Weder Smartphone noch Uhr trug ich bei mir. Beides lag im Rucksack, der für die Fahrt nach Baltimore gepackt im Wohnzimmer wartete. Ich war nicht einmal in der Lage, mich auszuweisen, wenn mir jemand begegnete. Falls ich in dieser Einöde auf jemanden traf. Ich blieb in der Talsenke stehen, balancierte auf einem Bein, um jeweils den Fuß des anderen zu strecken und zu drehen. Sonst brauchte ich nie so weit zu laufen. Mama fuhr uns überall hin. Hauptsächlich mich, denn meine Geschwister waren zu jung, um sich ständig herumzutreiben, wie Papa es nannte. Dabei verließ ich gar nicht oft das Haus, der Familie zuliebe. Ich vermisste sie, vor allem Mama und die drei kleinen Teufel. Paps weniger.
Das Gespräch vom Vorabend kam mir in den Sinn, nistete sich dort penetrant zeternd ein wie eine kreischende Möwe. Mein unverschuldetes Verschwinden resultierte mit Sicherheit in einen Monat Hausarrest, nur unterbrochen durch arrangierte Dates mit dem Sohn seines Geschäftspartners. Ich schüttelte bedächtig den Kopf. Das Drama war vorprogrammiert.
Der Wind pustete mir eine Strähne meiner langen braunen Haare ins Gesicht, wo sie es sich an der verschwitzten Wange klebend bequem machte. Nachdenklich strich ich sie hinters Ohr. Wozu zurück in den Zopf, wenn ich eh aussah, wie ein zerrupftes Huhn und wie ein Skunk roch? Ich betrachtete die Steigung vor mir. Eine längere Verschnaufpause schadete sicher nicht. Ein fernes Grollen erklang, das stetig anschwoll. Zog ein Gewitter auf? Mein Puls beschleunigte, verursachte einen weiteren Schweißausbruch.
Bitte, bitte kein Unwetter, wenn ich mich allein hier draußen aufhielt, und es keinen Unterschlupf gab. Fieberhaft suchte ich den Himmel nach verräterischen grauen Wolken ab, doch ich fand nur ein sanftes Blau. Ich nagte an der Unterlippe. Schuppig, trocken, riss sie durch die Knabberei ein. Instinktiv leckte ich über die Wunde, schmeckte den leicht metallischen Geschmack meines Blutes.
Ganz schlau, Chumani.
Verwirrt hielt ich inne. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten nutzte ich den Namen, den Mama für mich ausgesucht hatte. Dem Opfer ihrer Freundin geschuldet, an das ich sie ständig erinnerte. Oder war es ein Protest, gegen ihren Ehemann gerichtet, weil er für ihren Tod verantwortlich war? Meine Mutter widersprach ihm nie, seinen herrischen Charakter fürchtend. Manchmal glaubte ich, dass sie ihn so sehr fürchtete wie ich. Der erfolgreiche Geschäftsmann, der von seiner Ehefrau erwartete, dass sie zu Hause mit Essen, Pantoffeln und Zeitung auf ihn wartete. Der Mann, dessen Kinder seinen Regeln Folge leisteten, als wären sie in Stein gemeißelte Gesetze. Es fiel mir leicht, mich in Gedanken gegen ihn aufzulehnen, doch stand er vor mir, zitterte ich vor Angst wie eine in die Ecke getriebene Maus angesichts einer hungrigen Katze.
Zwei Monate Hausarrest. Mindestens.
Das Grollen nahm in Lautstärke zu. Tiefer, gefährlicher, drohte es mich zu verschlingen. Der Boden bebte unter meinen Füßen. Ich riss die Augen weit auf. Eine riesige Staubwolke donnerte von einer Seite ins Tal, näherte sich mir rasant. Bloß weg hier. Meine Oberschenkelmuskeln zitterten, die Knie ächzten. Die Schmerzen ignorierend hechtete ich die Steigung hinauf, der vermeintlichen Sicherheit entgegen. Was, wenn dort oben ebenfalls Gefahr drohte? Ich stolperte, kroch auf allen vieren weiter. Hartes Präriegras zerschnitt mir die Handflächen. Brennend machten sich die Wunden bemerkbar. Keine Zeit für Schmerzen. Das Grollen wich einem gewaltigen Dröhnen und Stampfen. Ich verdoppelte meine Anstrengung, sprang vorwärts, kämpfte mich die letzten Meter hinauf, wo ich mich umdrehte und auf meinen Hintern fiel.
Bisons. Eine Herde nordamerikanischer Büffel. Das Herz schlug mir bis zum Hals, die Zunge klebte am Gaumen. Ich keuchte erschöpft, wünschte mir nur noch, ins Bett zu fallen. Um Atem ringend betrachtete ich die majestätischen Tiere. Seit wann gab es solch eine riesige Anzahl im Reservat? Davon hatte mir nie jemand etwas erzählt. Die Bisons verlangsamten, stoppten an der Stelle, wo ich kurz zuvor noch verweilte. Sie senkten die Köpfe, fingen an zu grasen. Mein Magen knurrte protestierend. Seufzend drehte ich mich um, traute meinen Augen kaum. In der nächsten Senke stand ein Gebäude. Es als Haus zu bezeichnen, passte nicht. Dass die Indianer im Pine-Ridge-Reservat von Armut geplagt wurden, war mir bekannt. Doch das hier übertraf meine Vorstellungskraft. Das Gebilde war es nicht einmal wert, als Schuppen bezeichnet zu werden. Eher als Iglu aus Erde, Zweigen und, wenn ich es auf die Entfernung richtig sah, etwas, dass mich an Tierhäute erinnerte. Daneben ein kleiner Gemüsegarten. Ein Fahrzeug entdeckte ich nirgends. Dafür einen schmalen Wasserlauf, der sich hinter dem Bau entlang schlängelte und mir ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Wasser, ein Unterschlupf, Nahrung. Ich war gerettet!