Unschlüssig sah ich zu dem hageren jungen Mann. Keine Autos, kein Telefon, keine Elektrizität, nicht einmal eine Ahnung, was Selbige waren? Die Landschaft sah aus wie die Prärie, roch wie die Prärie, doch war nicht die Prärie? Der nahm mich eindeutig auf den Arm!
„Komm, ich zeige dir etwas.“ Samuel lief vor, bückte sich beim niedrigen Eingang der Behausung, die aus der Nähe am ehesten einem Erdhügel glich. Fensterscheiben? Türen? Völlig unbekannt. Als Türersatz diente eine schwere Tierhaut. Die Fenster kreisrunde Löcher in den Wänden. Da lebten selbst Hobbits komfortabler. Nur, dass Hobbits der Fantasie Tolkiens entsprangen und dies hier die, wenngleich verdrehte, Realität war. Ich folgte dem Mann, dessen strohblonden Haare ihm bis auf die Schultern fielen, in die spärlich beleuchtete Bleibe hinein. Lederhäute bekleideten den Boden, bis auf eine kreisrunde Stelle in der Mitte, die mit größeren Steinen abgegrenzt war. Die Feuerstelle für kalte Tage und Nächte, zum Kochen und zum Heizen. Ich sah mich weiter um. Wie am Abend zuvor, als Samuels Familie mich freundlich aufnahm, wunderte ich mich darüber, wie sehr die Inneneinrichtung, oder das Fehlen dieser, an die Tipis der Indianer erinnerte. Möbel suchte man hier vergebens. Die Betten waren nichts weiter als mit getrocknetem Gras ausgestopfte Lederkissen. Tierfelle dienten als Decken. An den Wänden lehnte ein Stapel Schüsseln, gefertigt aus Tierknochen. Daneben Taschen aus Leder. Typisch für die Lakota. So wie ich es im Museum gesehen hatte. Nur, dass diese in Zelten, nicht in Erdbauten gelebt hatten.
„Wo ist es nur?“ Samuel kramte in einer der Ledertaschen herum. „Ich bin mir sicher, dass wir es hier aufbewahren.“
„Ist schon in Ordnung“, murmelte ich. Er wollte mir unbedingt beweisen, dass ich mich täuschte, dass dies hier ein völlig anderer Ort war, als ich behauptete.
„Da ist es ja.“ Samuel pfiff mit sich und der Welt zufrieden, wie es schien. Er drehte sich um und präsentierte mir eine handtellergroße schwarze Scheibe, deren Verzierungen mich an den Spiegel auf dem Dachboden in meinem Elternhaus erinnerten. Unwillentlich zuckte ich zusammen, wich etwas zurück. „Hab‘ keine Angst. Dies ist ein Erzähler. Er berichtet uns von der Vergangenheit, wie meine Vorfahren hierherkamen. Komm, setzen wir uns.“ Ehrfürchtig legte er das Teil, dem mein volles Misstrauen gebührte, auf den Boden. Wenn der Standspiegel Schuld daran trug, dass ich hier gelandet war, zu was war dann dieses Mistding fähig? Implodierte es, wenn man es falsch berührte? Sonderlich scharf darauf, es herauszufinden, war ich nicht.
Die Luft flackerte oberhalb des kleinen Gegenstandes. Das Abbild eines blonden Mannes erschien. Seine Kleidung erinnerte an Uniformen. Abzeichen prangten auf einer Seite seiner Brust. Dennoch machte er auf mich einen trostlosen Eindruck. Ich blinzelte verwirrt. Seine Haut war über und über mit blutenden und anderen Flüssigkeiten ausscheidenden Wunden bedeckt, deren Ränder schuppten. Schälten sich die Hautschichten ab? Übelkeit stieg meinen Hals empor. Es fiel mir schwer, den Blick auf ihn gerichtet zu halten, während er seinen Vortrag hielt. Dabei war es nur eine Aufnahme, kein Mensch aus Fleisch und Blut, der hier im Raum stand.
„Ich bin Keron, letzter überlebender Erwachsener von der Erde. Meine Mission, die Kinder vor dem Krieg in Sicherheit zu bringen, nähert sich ihrem Ende zu. Vor zwei Tagen habe ich unser Raumschiff sicher auf einem abgelegenen Planeten gelandet. Die Sensoren zeigen keine Strahlung an, das Wasser und die Luft sind rein. Jagdbares Wild trifft man hier zur Genüge an. Das Klima ähnelt dem unserer Heimat.“ Er hustete, wischte die Hand an seiner Kleidung ab, auf der ein roter Fleck zurückblieb. „Ich werde die Kinder nun aus ihrem Kälteschlaf befreien. Die Ältesten werden für die Jüngeren Sorge tragen. Nahrung befindet sich noch für etwa fünf Jahre an Bord. So haben sie Zeit, mit Hilfe anderer Aufzeichnungen die Herstellung von Waffen und das Jagen zu erlernen. Leider werde ich nicht mehr da sein, um unsere Kinder zu unterstützen. Die radioaktive Strahlung hat während der Evakuierung meinen Körper zu sehr geschadet. Die Technologie hat den Verfall meines Körpers verzögert, konnte ihn jedoch weder verhindern noch heilen. Schon bald werde ich all diejenigen wiedersehen, die im Krieg gefallen sind oder es nicht geschafft haben, die Erde rechtzeitig zu verlassen. Ich bete inständig dafür, dass zukünftige Generationen verantwortungsvoller mit ihrer Heimat und der Zukunft ihrer Nachfahren umgehen werden.“ Er hustete abermals, ein dünnes rotes Rinnsal lief sein Kinn hinab. Mein Magen krampfte. Wenn ich der Erzählung Samuels Glauben schenkte, war dieser Keron vor mehr als einhundert Jahren gestorben. Einen angenehmen Tod schloss ich aus. Radioaktive Strahlung. Das Schreckgespenst vieler Menschen.
„Seit dem Aufbruch habe ich nichts von den anderen Völkern vernommen. Ich weiß nicht, ob von den anderen Kontinenten ebenfalls rechtzeitig Gemeinschaften evakuiert worden oder ob wir die letzten Überlebenden unseres Planeten sind. Hoffentlich stehen unseren Kindern bessere Zeiten bevor. Mit der Landung auf diesem Planeten haben wir dazu einen ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht.“ Er hielt inne. Die Aufnahme verschleierte nicht, wie mühsam sich sein Brustkorb hob, wie schwer es ihm fiel, Haltung zu bewahren. Sein Gesicht glich einer Grimasse. Ich stellte mir vor, wie viele Schmerzen er in dem Moment gespürt hatte, sein Körper zerstört durch die Radioaktivität.
„Ich werde die Kinder nun wecken und so viele Kopien dieser letzten Aufnahme anfertigen, wie mir möglich sind. Meine Nachricht an jeden, der diese Aufzeichnung betrachtet, ist folgende: Kümmert euch um eure Nächsten. Führt keine Kriege. Geht sorgsam mit euren Ressourcen um. Ich habe fünf Jahre benötigt, um einen Platz für euch zu finden, wo ihr gesund und sicher aufwachsen könnt. Haltet das bitte immer in Ehren.“ Das Bild flackerte kurz, bevor es verschwand. Ich schluckte, blinzelte einzelne Tränen weg. Das war hier ein böser Traum. Der Spiegel hatte mich nicht durch die Zeit geschickt, die Erde wurde nicht vor mehr als einhundert Jahren zerstört. Mein Magen krampfte, die Knie zitterten.
Ich wandte mich Samuel zu. Dieser breitete die Arme aus, wie zu einer Umarmung. Er lächelte sanft. Seine Augen, so blau wie der Himmel, wirkten hier im Halbdunkel düster. War es hier drinnen schon immer so eng? Ich schüttelte energisch den Kopf, rannte raus. Weg, bloß weg von hier. Hektisch sah ich mich um. Über die weite Ebene? Zurück in die Richtung, woher ich am Vortag kam? Zweifelsohne hatte ich dort nur einen Hinweis übersehen.
„Chumani, warte.“ Der blonde Mann schlang seine Arme um meinen zitternden Körper, verhinderte mit sanftem Griff eine kopflose Flucht. „Ein Objekt, wie du es beschrieben hast, gibt es hier nicht. Das hätten wir längst entdeckt.“ Er hielt inne. Meiner Vermutung nach, um nachzudenken. Sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig hinter mir. Samuel strahlte eine Ruhe aus, die mich überraschte. Von Papa kannte ich nur Kälte, im Gegensatz zu Mama. Ich lehnte mich an den Blonden, genoss einen Moment seine Nähe. Die Sonne wärmte mir den Scheitel, der Wind spielte mit meinen Haaren, während wir still dastanden.
„Wie bin ich dann hierhergekommen?“ Samuel ließ mich los, seufzte leise.
„Es ist wahrscheinlicher, dass ein fremdes Raumschiff, wie Keron diese riesigen fliegenden Gebilde nannte, dich hier absetzte. Die grässlichen Krieger, die einmal im Jahr zur Büffeljagd in diese Gegend kommen, können es nicht gewesen sein.“
„Wieso nicht? Wer sind sie und woher stammen sie?“ Bei der Erwähnung von Büffeln und Kriegern wurde ich hellhörig, dachte ich doch gleich an die Indianer in den Reservaten in meiner Heimat.
„Du siehst nicht aus wie sie. Lange schwarze Haare, dunkle Haut und tiefdunkle Augen, wie die eines Raubvogels. Sie stammen wahrscheinlich wie wir von der Erde, nur dass sie das Wissen über Technik nicht verloren haben. Im Gegensatz zu uns.“ Samuel verstummte kurz. „Ich wünschte, es wäre andersherum. Aber keine Sorge. Wir werden Mariella und dich verstecken, wenn sie hier abermals auf ihren seltsamen Reittieren auftauchen.“ Wir sollten uns verbergen? Der Klumpen in meinem Magen wuchs auf die Größe eines Basketballs an. Wo war ich nur hineingeraten?
Ich rannte los, flüchte vor den Erzählungen und der Angst, die sie in meinem Innern schürten. Samuels Rufe ignorierend, stürmte ich die Anhöhe hoch. Unten tummelten sich wie am Vortag die Bisons. Eine fast nahtlos ineinander übergehende braune Masse, die ein Durchkommen auf die andere Seite verhinderte. Mein Blick huschte hinüber. Dort, weit hinter der Stelle, an der ich aufgewacht war, lag die Antwort auf alle Fragen. Da war ich mir sicher. Doch die verflixte Herde hielt mich davon ab, die Lösung zu suchen. Ich ballte die Hände zu Fäusten. Meine Fingernägel bohrten sich in die Handballen, bis es schmerzte. Gleißende Schmerzensblitze schossen mir durch den Kopf. Ich richtete den Blick gen Himmel, schrie meinen Frust hinaus. Tränen rannen mir über die Wangen. Der Wind warf die Schreie zu mir zurück, jagte sie hinunter zur Herde. Die Tiere brüllten, stampften auf. Der Boden bebte unter meinen Füßen, als die Bisonherde in wilder Flucht davonstürmte. Zitternd sah ich ihr hinterher. Eine riesige Staubwolke stieg auf, blieb wie ein unheilvolles Omen in der Luft hängen.
„Die wären wir schonmal los.“ Mariella tauchte neben mir auf, legte einen Arm um meine Taille. Sanft dirigierte sie mich zurück, den Hügel hinab. „Mein Bruder erwähnte, du wirst bei uns bleiben.“ Hatte er das?
„Nein, ich muss zurück zu meiner Familie“, beharrte ich. Mama und die drei kleinen Teufel vermissten mich zweifelsohne. Hierzubleiben bedeutete, sie im Stich zu lassen.
„Es gibt keinen Weg nach Hause, begreife das doch. Wir sind jetzt deine Familie.“ Sie strich mir eine Strähne hinter das Ohr. „Heirate Samuel, schenke ihm Kinder. Das ist die Bestimmung aller Frauen hier.“ Ich verschluckte mich, hustete, entsetzt über ihre Worte.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“ Dafür hatte der Spiegel mich hierhergeschickt? Wo war der Sprengstoff, um das elendige Ding in die Luft zu sprengen?