Lächelnd schloss ich das Buch über Tokalah und die kleine Raubkatze, die er großgezogen hatte. Der alte Mann, der am meisten in der Bibliothek arbeitete, hatte es aus Videoaufnahmen und Wissenswertem zur Tierart zusammengestellt. Ob er mir half, ein Buch über meinen Heimatplaneten herzustellen? Das war mit Sicherheit lehrreich. Für mich, weil ich lernte, wie diese Wissensbücher gefertigt wurden und für die Anderen, weil sie so mehr von mir erfuhren. Ich schüttelte den Kopf. Eine kindische Idee. Weder verfügte ich über Bilder oder Videos, noch über sonderlich umfangreiches Wissen in Bezug auf die Erde. Natürlich war mir bekannt, wie viele Kontinente es gab und dass die Menschen dort anders aussahen als ich. Doch das waren zu wenig Informationen.
„Hier, das könnte dich ebenfalls interessieren.“ Er reichte mir einen weiteren Band, verschwand schnell wieder zu der kleinen Werkstatt, um aller Wahrscheinlichkeit ein Buch zu reparieren oder ein neues zu erstellen. Nachdenklich schaute ich ihm hinterher. Tokalah hatte ihm einige Worte auf Lakota zugeflüstert, bevor er mich hier zurückließ. Seine Großmutter wünschte ihn zu sehen. Verschwieg er irgendetwas? Ach was. Er verheimlichte mir nie etwas. Ich strich über den metallenen Umschlag. Hardcover bekam hier eine völlig neue Bedeutung.
„Das Portal“, las ich vor. „Na da bin ich mal gespannt, wovon das Buch handelt.“ Voller Vorfreude auf einen informativen Vortrag über die Vergangenheit der Lakota, schlug ich die erste Seite auf und schnappte nach Luft. Wie war das möglich? Spielten meine Augen mir einen Streich? Ich fummelte an dem Zahnrädchen herum, um die Aufzeichnung zu starten. Immer wieder drehte ich zu weit, zu einem späteren Kapitel. Erst beim dritten Versuch gelang es mir. Die tiefe Stimme eines unbekannten Mannes drang aus den Lautsprechern, berichtete von den zunehmenden Spannungen, ausgelöst vom Kontrollwahn der Kinder der Sonne. Ich musterte die Videoaufnahme von ihm. Mittleren Alters mit einem ebensolchen braunen Schopf wie ich. Blindlings zog ich meinen geflochtenen Zopf über die Schulter nach vorn. Die Farbe wirkte identisch. Merkwürdig. Hatte Tokalah deswegen mein Blut getestet? Nicht nur, weil ich aufgrund der Haarfarbe kein Kind der Sonne sein konnte?
„Sie gebärden sich immer mehr wie die Herrscher der Welt,“ klagte der Mann weiter „und bedrohen unseren Lebensraum. Daher arbeite ich seit etwa zwei Monden an einer Erfindung, die es uns ermöglichen soll, innerhalb von Sekunden von einem Ort zum nächsten zu reisen. Ich habe mich entschlossen, die Arbeiten fernab meiner Heimat fortzuführen. Zu groß ist die Gefahr, dass unsere Feinde sonst Wind von der Sache bekommen. Ich kann nur hoffen, dass wir das Portal rechtzeitig fertigstellen, um mein Volk zu evakuieren.“
Danach erging er sich in unzähligen technischen Erklärungen, von denen mir schnell der Kopf rauchte. Ich stoppte die Aufnahme, atmete tief durch. War ich bereit dazu, mehr zu erfahren? Andererseits fand ich womöglich ein paar Antworten, warum ich hier gelandet war. Nur wieso hatte mir weder Tokalah noch seine Mutter oder Großmutter von dem Portal erzählt? In meinem Magen bildete sich ein eisiger Klumpen. Galle stieg meine Speiseröhre empor. Ich schluckte schwer. Eine kleine Stimme in meinem Kopf flehte mich an, das Buch zu schließen, die ganze Angelegenheit zu vergessen. Ich ballte die Fäuste. Nein! Ich würde mich nicht verstecken, jemand anders die Entscheidungen über mein Leben überlassen. Grimmig schaltete ich die Aufnahme erneut ein,
„Wir machen großartige Fortschritte. Das leichte strapazierfähige Metall, das die Lakota für das Portal in eine Form gegossen haben, übertrifft meine kühnsten Erwartungen. Selbst die Kinder der Sonne, die sonst allen Völkern technisch überlegen waren, verfügen nicht über solch ein Material. Die Scheibe für das Portal wurde aus einem mir unbekannten Kristall gefertigt, den man einzig in den heiligen Bergen der Lakota findet. Das Glas scheint von sich aus zu vibrieren, zu singen, wenn man sich ihm nähert. Ich freue mich schon auf unseren ersten Test, der mich aus dem Labor einige Kilometer entfernt auf die Prärie schicken wird.“ Das war die letzte Aufzeichnung mit dem braunhaarigen Mann. In der Nächsten erklärte ein Indianer, dass sie das Projekt eingestellt hatten. Ich schaltete sie aus, klappte das Buch zu. Deswegen hatte Tokalahs Großmutter mir also so interessiert zugehört, als ich ihr von dem Spiegel berichtet hatte. Wieso hatte sie nichts vom Portal erwähnt? Sie hatten es mir absichtlich verschwiegen! Ich sprang auf, stürzte aus der Bibliothek und rannte zum Saal des Clanoberhaupts.
„Wieso habt ihr mich angelogen?“, sprudelte es aus mir heraus, als ich mitten in eine Unterredung zwischen Tokalah, seine Mutter und seiner Großmutter platzte. „Was hat es mit dem Portal auf sich und warum wurde das Projekt eingestellt?“
„Du hast das Buch gefunden, es nicht zu Ende angehört, nicht wahr?“ Die alte Frau trat auf mich zu, hob beschwichtigend die Hände. „Das Portal funktionierte nicht so wie erwartet. Es verschwand zusammen mit seinem Erbauer. Ohne die Dokumentation, die wir besitzen, hätten wir es für eine Legende gehalten. Mehr als hundertfünfzig Jahre blieb es verschwunden. Bis wir auf dem neuen Planeten der Kinder der Sonne landeten, um die Büffel zu jagen.“
„Wo ist es?“, presste ich hervor. Gab es doch einen Weg nach Hause, den sie mir verschwiegen hatten? Wieder ballte ich die Fäuste, schaute finster zu Tokalah, der sich uns langsam näherte. Seine Großmutter wandte sich ihm zu.
„Ich hatte dich gebeten, Chumani nichts zu sagen. Wieso hast du ihr das Buch gezeigt?“ Ich zitterte bei den Worten, obwohl sie nicht an mich gerichtet waren. Hatte ich den Mann, der mir so viel bedeutete, in Schwierigkeiten gebracht?
„Zum einen, ich habe es ihr weder gesagt, noch ihr das Buch in die Hand gedrückt“, fing er ruhig an. „Zweitens, du hast mich gelehrt, dass die Wahrheit einer der wichtigsten Standpfeiler unserer Kultur ist. Sollte ich sie wirklich weiter belügen, meinem Herz stetig neue Messerstiche zusetzen?“
„Der alte Mann hat es mir gegeben.“ Ich verschwieg, dass Tokalah mit ihm getuschelt hatte, vermutete ich doch, dass er ihn dazu angestiftet hatte. „Ich will zurück nach Hause.“
„Das ist zu gefährlich“, mischte Kimimila sich nun ein. „Wir haben das Portal an Bord gebracht, wissen aber nicht, wie es funktioniert. Du, Chumani, trägst zum Teil das genetische Erbe des Erbauers in dir. Doch der Rest ist uns fremd. Nach unseren Erkenntnissen hatte das Portal seinen Erfinder in eine andere Dimension geschickt. Wir können nicht garantieren, dass du dort ankommst, wohin du willst. Was, wenn es dich auf einen Planeten mit gefährlichen Raubtieren schickt? Wie willst du dort überleben?“
„Ich werde Chumani begleiten, sie beschützen.“ Tokalah berührte mich sanft am Arm, lächelte mir zuversichtlich zu.
„Das kannst du nicht machen!“ Die alte Frau sackte zu Boden, starrte mit geweiteten Augen auf ihren Enkel. „Bleibt hier, bei unserem Volk.“ Ihre Schultern zitterten, ihr Gesicht wirkte innerhalb von Sekunden um Jahre gealtert. Ich biss mir auf die Lippe.
„Wir werden den Sprung morgen versuchen. Lasst bitte das Portal vorbereiten.“ Der Lakota hob mich hoch, trug mich zurück zu meinem Quartier. Nur langsam drang zu mir durch, was dies bedeutete. Was auch passierte, Tokalah würde an meiner Seite bleiben. Niemand, der uns trennte.