Der Mann setzte mich erstaunlich sanft in ein oben offenes Gefährt, das keine Räder besaß und an die Krieg-der-Sterne-Filme erinnerte. Papa hatte sich diese, zum Leidwesen meiner Mutter, die mit Science-Fiction nichts anzufangen wusste, oft in seiner Freizeit geschaut und dabei vor allem die Dialoge in der ursprünglichen Trilogie mitgesprochen. Ich verstand nicht, was ihn an den Filmen reizte, außer dass sie wie Western im Weltall anmuteten. Nur wer die Cowboys und wer die Rothäute waren, hatte ich nie entziffert.
Mein persönlicher Indianer setzte sich neben mich und löste die Fesseln hinter meinem Rücken. Ich zog die Arme nach vorne, starrte für einen Moment auf die seltsamen schwarzen Armbänder, die ich trug. Sie schienen aus einem leichten Metall gefertigt zu sein. Hatte er sie mir umgemacht? Ich linste kurz zu ihm. Der lange geflochtene Zopf, der mit zuvor aufgefallen war, hing über einer Schulter. Einer der anderen Halunken reichte ihm den Helm, den er achtlos ins Gras geworfen hatte. Er verstaute ihn vor seinen Füßen in dem Fahrzeug, unterhielt sich angeregt in der fremden Sprache mit seinen Begleitern. Mich beachteten sie nicht. Hatte ich nicht vorgehabt, zu verschwinden? Wenn nicht jetzt, wann dann? Vorsichtig griff ich mit beiden Händen das Metall der Außenwand fest, rutschte näher heran.
„Wo willst du denn hin? Willst du unbedingt auf die Nase fallen?“ Ein Arm schlang sich um meine Taille, zog mich energisch zurück. Verwirrt drehte ich mich zu ihm um. Kleine Lachfältchen um seine dunklen Augen gaben ihm eine freundliche Aura. Doch war er vertrauenswürdig? Wenn ich es genau nahm, war das hier eine Entführung.
„Und warum sollte ich bitte schön auf die Nase fallen?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Durch das Lachen seiner Freunde beschleunigte mein Herzschlag. Was fiel denen ein, mich auszulachen? Unverschämte Bande.
„Deswegen vielleicht?“ Er zeigte auf meine Knöchel, um die ebenfalls schwarze Metallreifen befestigt waren. Ein vibrierender roter Faden zog sich von einem zum anderen. Einer seiner Begleiter beugte sich zu uns nach hinten, packte meine Arme und führte sie an den Handgelenken zusammen. Der Energiefaden schoss hoch, verband sich mit den Armbändern. Ich zuckte zurück, versuchte, die Hände auseinanderzubringen. Doch egal wie sehr ich zerrte, es half nichts.
„Jetzt kann sie dir wenigstens nicht entkommen, so wie Chenoa.“ Der Typ drehte sich breit grinsend nach vorn. Der daneben brach in Gelächter aus. Was hatten die zwei doch für ein sonniges Gemüt. Ich knurrte leise in mich hinein, was dem Mann neben mir ein Schmunzeln entlockte.
„Keine Angst, im Mutterschiff löse ich deine Fesseln.“ Er lehnte sich zurück, beobachtete mich, während sein Freund das Fahrzeug über die Prärie lenkte. Kurze Zeit später fuhren oder flogen wir über die Ebene, auf der ich nach dem Zwischenfall mit dem Spiegel aufgewacht war. Ich reckte mich, suchte das verflixte Ding, das mir alles eingebrockt hatte. Doch statt einem Standspiegel entdeckte ich etwas anderes. Riesig, mehrere Stockwerke hoch, schwarz wie die Nacht und aus einem schimmernden Metall gefertigt, ragte es vor uns auf. Es kam mir länger vor als die Containerschiffe, die Waren aus aller Welt über die Weltmeere transportierten. Ich schluckte einige Male. Das Licht in der Nacht war aus dieser Richtung gekommen und ich hatte eine Ahnung, was dafür verantwortlich war. Instinktiv zog ich den Kopf ein, presste mich in den Sitz. Wenn dies das Mutterschiff war, wie viele Menschen fanden darauf Platz? Trieben sich dort etwa auch andere, unheimliche Wesen herum? Meine Gedanken wanderten zu einer Szene aus den Science-Fiction-Filmen, die Papa so liebte. Eine Bar, gefüllt mit unterschiedlichsten Kreaturen, die auf sorglose Besucher warteten. Ich rollte mich noch weiter zusammen.
„Hey, es passiert dir wirklich nichts. Das verspreche ich dir.“ Vorsichtig hob der Fremde mich aus dem Fahrzeug und trug mich an seine Brust gepresst die Rampe hinauf. Wenigstens lag ich nicht auf seiner Schulter wie ein Mehlsack. Drinnen war es angenehm kühl. Neugierige Augenpaare folgten uns. Egal, wohin ich sah, Frauen und Männer mit schwarzen Haaren und einem bronzefarbenen Hautton. Wie mein Kidnapper. Ich runzelte die Stirn. Wie auf dem Planeten schien es keine Vermischung mit anderen Nationalitäten zu geben. Als wenn sie immer getrennt voneinander gelebt hätten. Doch das widersprach der Erde, die ich kannte. Was war dort nur vorgefallen?
„Tokalah! Kannst du mir bitte erklären, was das hier soll?“ Eine Frau, die ich einige Jahre älter als meine Mutter schätzte, stellte sich uns in den Weg und betrachtete uns argwöhnisch. Besser gesagt, den Mann, der mich trug. „Tut mir wirklich leid. Solch ein Verhalten kenne ich nicht von ihm“, fügte sie an mich gewandt hinzu.
„Sie gehört nicht hierher, deswegen habe ich sie mitgenommen. Außerdem hat der Bluttest etwas Interessantes ergeben.“ Er sagte noch etwas in der fremden Sprache, von der ich überzeugt war, sie schon einmal gehört zu haben.
„Faszinierend.“ Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, als glaubte sie nicht den Worten Tokalahs. Ich stutzte. Der Name kam mir bekannt vor. In Gedanken ging ich alle Menschen durch, denen ich je begegnet war. Natürlich! Vor der Highschool war ein indianischer Junge in meiner Klasse gewesen, der so hieß. Er gehörte zu den Lakota und sprach in den Pausen mit seiner ein Jahr jüngeren Schwester in ihrer Muttersprache. Die Frau unterbrach meine Überlegungen. „Wie heißt du, mein Kind.“ Sie beugte sich vor, löste mit einem Druck auf das rechte Armband die Fesseln. Der Mann stellte mich auf die Füße.
„Chumani“, entgegnete ich leise. Die Frau hatte eine herzliche Ausstrahlung, ein warmes Lächeln, das mich verunsicherte. Ich knabberte auf der Unterlippe herum, hielt mühsam ihrem inquisitiven Blick stand. Tokalah legte seinen Arm um meinen Rücken.
„Ein schöner Name“, erwiderte sie, sah kurz auf die Hand des Mannes, die an meiner Seite ruhte. „Er bedeutet Tautropfen in unserer Sprache. Wer hat ihn dir gegeben? Du bist keine Lakota.“ Ich atmete erleichtert aus. Wenigstens eine Kleinigkeit, mit der ich etwas anfangen konnte.
„Meine Mutter. Ihre Freundin gehörte zum Stamm der Lakota.“ Mein Gegenüber zog die Augenbrauen zusammen, betrachtete mich einen Moment stumm. Glaubte sie mir nicht?
„Folge mir bitte, Chumani“, durchbrach sie nach wenigen Augenblicken die Stille. „Ich möchte gern einige medizinische Tests durchführen, um deine Herkunft zu bestimmen. Wenn es stimmt, was mein Sohn mir mitteilte, dann stehen wir vor einer interessanten Herausforderung.“ Tests? Ich war doch kein Versuchskaninchen! Ohne zu zögern, drehte ich auf dem Absatz um und stapfte auf die Rampe zu.
„Hiergeblieben, du Dummerchen.“ Tokalah fing mich ab, warf mich über seine Schulter. Ein entrüstetes Schnauben war meine einzige Reaktion. Papa hatte immer wieder betont, wie wichtig es für ein Mädchen war, einem Mann zu gehorchen. Auch jetzt hallten seine Worte in meinem Kopf wider, ein Zittern schlich durch meinen Körper. Der Lakota strich mir sanft über den Rücken. „Wir tun dir nicht weh, vertraue mir.“
„Ich glaube, ich verstehe, wieso du Chumani gefesselt hereingebracht hast.“ Seine Mutter seufzte. „Ich hätte ihr erst erklären sollen, dass ich nur ihr Blut untersuchen will. Bringe sie bitte rüber in mein Labor.“ Sie warf mir einen amüsierten Blick zu, wie ich mich schmollend auf dem Rücken ihres Sohnes abstützte. Die Frau folgte uns, als Tokalah mich durch verschiedene lange Gänge trug. Die Wände und Fußböden waren aus demselben Material wie die seltsamen Ringe um meine Handgelenke und Knöchel. An einigen Stellen leuchteten grüne und rote Lämpchen auf, flackerten oder brannten stetig. Obwohl sie recht hatten, dass ich nicht auf den Planeten gehörte, war dies ebenso wenig der korrekte Platz für mich. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich sehnte mich nach meiner Mutter und den drei kleinen Teufeln.
Ohne Vorwarnung hielt Tokalah inne. Sein Rücken versteifte merklich. Etwas verursachte ihm Unbehagen. Eine junge schlanke Frau, deren schwarze Zöpfe ihr fast bis zum Po reichten, lief glucksend mit einem Mann an uns vorbei. Der Lakota drehte sich mit, schien jeder ihrer Bewegungen mit seinem Blick zu folgen. Seine Mutter betrachtete ihn sorgenvoll, die Stirn in Falten gelegt.
„Komm, oder bist du hier festgewachsen?“ Sie zupfte ihn am Arm, trieb ihn vorwärts in ihr Labor, wo er mich so vorsichtig, als ob ich zerbrechlich wäre, auf einem Untersuchungstisch absetzte. „Du solltest im Übrigen die Sache mit Chenoa abhaken. Sie hat ihre Wahl getroffen und ich hoffe, dass du deine Stellung an Bord nicht ausnutzt, damit ihr Vater sie dir zur Frau gibt.“ Ihr Ton ließ keine Widerworte zu. Voller Neugierde sah ich zu ihm. Das Strahlen war aus seinen Augen verschwunden. Er wirkte auf mich wie eine Person, der man das Liebste weggenommen hatte, was sie besaß. Chenoa. Darüber hatten unsere Begleiter im Fahrzeug gesprochen. Langsam fassten die Rädchen in meinem müden Gehirn ineinander. Er war in die junge Frau verliebt, doch sie liebte einen anderen. Autsch. Das hätte mir passieren können. Obwohl er mich gegen meinen Willen mit hierhergeschleppt hatte, im wahrsten Sinne des Wortes, tat er mir leid. Zögernd griff ich seine Hand, drückte sie so sanft, wie er mich behandelte. Er sah hoch. Einen Moment hielten wir Blickkontakt, dann senkte ich errötend den Kopf.
„Du hast recht, Mutter. Ich werde mit Chumani zu ihm gehen, wenn du ihr Blut abgenommen hast. Dann bekommt sie eine erste Gelegenheit, sich mit unseren Bräuchen vertraut zu machen.“ Schlich sich da ein kleines Lächeln auf seine Lippen? Ich betrachtete aufmerksam meine Hände und pulte etwas Dreck unter den Fingernägeln hervor.
„Das halte ich für eine ausgezeichnete Idee, da sie vorläufig bei uns bleiben wird. Gehe danach bitte mit ihr, sobald ich Resultate habe, zu unserer Clanführerin. Wir sollten sie zügig von unserem Gast in Kenntnis setzen.“ Die Frau staute mir mit Hilfe eines Bandes das Blut im Arm, füllte daraufhin drei kleine Blutbehälter, die ich von Ärzten auf der Erde kannte, mit der roten Flüssigkeit. „Das sollte reichen.“ Sie sprühte einen Spray auf die Stelle, statt ein Pflaster zu nehmen, dann verarztete sie meine Hände und die Stirn. „Geht schon mal. Ich gebe Bescheid, wenn ich etwas weiß.“
„Sehr wohl, Mutter.“ Tokalah hob mich von der Liege, machte Anstalten, mich abermals zu tragen. Ich war doch kein kleines Kind mehr!
„Hey, ich kann selber laufen“, maulte ich leise. Wenn ich ehrlich war, gefiel es mir, so an seine Brust gedrückt zu werden. Andererseits kannte ich ihn kaum und hatte er mich aufgesammelt, wie ein Stück Fallobst, nachdem ich seinetwegen mit dem Boden Bekanntschaft geschlossen hatte. „Wie hast du mich eigentlich erwischt? Ich dachte, ich schaffe es bis zu den Felsbrocken.“
„Das erkläre ich dir später.“ Er stellte mich auf meine Füße. „Jetzt muss ich erst einmal eine Angelegenheit aus der Welt schaffen, obwohl es mir schwerfällt. Andererseits heißt es, wenn eine Tür sich schließt, öffnet sich eine neue.“ Ich runzelte die Stirn. Was er damit wohl meinte? Still lief ich neben ihm durch unzählige Gänge, bis wir vor einer Tür hielten. Tokalah atmete tief durch, betätigte dann einen Knopf an der Wand. Die Tür glitt zur Seite. Gespannt folgte ich meinem Begleiter nach drinnen.