Der Bluttest. Was hatte er ergeben? Ich hob den Kopf, linste über Tokalahs Schulter zu seiner Mutter. Diese zog stirnrunzelnd eine Spritze auf. Misstrauisch starrte ich auf ihre Hand, als sie zu uns trat. Ich hasste Nadeln seit der Kindheit. Der Arzt, der mich damals geimpft hatte, war ein Freund meines Vaters und nicht gerade für seine Sanftheit bekannt. Rücksicht war für den Mann ein Fremdwort.
„Ich bin noch immer der Meinung, dass deine Großmutter als unser Clanoberhaupt es Chumani erzählen sollte.“ Die Frau seufzte leise. „Aber du hast recht. Wir dürfen sie nicht länger hinhalten.“ Sie desinfizierte eine Stelle am Oberarm und setzte die Nadel an. „Schön lockerlassen, Chumani. Dann tut es hinterher nicht so weh.“ Ich nickte, biss die Zähne aufeinander. Tokalah drückte meinen Kopf sanft gegen seine Schulter. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich einzig auf den verlockenden Geruch des Mannes, dem ich blindlings vertraute. „Schon vorbei.“ Sie sprühte einmal etwas über die Einstichstelle. Wieder bekam ich kein Pflaster. Meine Gedanken wanderten ab. Wie weit waren die Menschen hier den Ärzten auf der Erde mit ihrem Wissen voraus? Waren sie in der Lage, Krankheiten wie Krebs und Multiple Sklerose vollständig zu heilen? Ich schüttelte bedauernd den Kopf. Was kümmerte es mich? Selbst wenn ich einen Weg nach Hause fand, wem sollte ich von den Erkenntnissen berichten? Wer würde den Worten eines Mädchens Glauben schenken? Papa würde mich eh für Wochen, wenn nicht sogar Monate einsperren.
„Lasst uns mal in die Kantine gehen. Mit etwas im Magen redet es sich leichter.“ Kimimila warf einen Blick auf meine nackten Füße und runzelte die Stirn. „Erst besorgen wir Chumani allerdings Schuhe, damit du sie nicht die ganze Zeit tragen musst.“
„Hört sich gut an, Uncisi“, stimmte ich ihr sogleich zu. Tokalah atmete scharf ein. Ungläubig sah er von mir zu seiner Mutter, die ihm breit lächelnd zunickte. Wieso wurde ich das Gefühl nicht los, dass es mit dem Namen zusammenhing? Ich beschloss, den Mann, der mich nun noch stärker an seinen Körper presste, zu einem anderen Zeitpunkt nach der Übersetzung zu fragen. Etwas an der Sache kam mir seltsam vor.
Kurz darauf lief ich mit meinen neuen Schuhen neben Tokalah her, dessen Wangen rot glühten. Ich schmunzelte bei dem Gedanken an den Moment nur wenige Augenblicke zuvor. Fast hatte er mich aus Reflex hochgehoben und erneut getragen. Nur mit Mühe hatte ich ihn davon abgehalten, ihn darauf hingewiesen, dass ich kein Kleinkind war. So sehr es mir gefiel, so wenig durfte ich mich daran und an seine Nähe gewöhnen.
„Ich bin froh, dass du die Sache mit Chenoa abgehakt hast.“ Kimimila klang erleichtert. Ich schaute verstohlen zu ihr. Ein verschmitztes Lächeln zierte ihre Lippen.
„Ich weiß, Mutter. Du und Großmutter habt recht. Es gibt Mädchen, die besser geeignet sind, an meiner Seite für unser Volk zu sorgen.“ Viel zu beiläufig für meinen Geschmack. Ich runzelte die Stirn. Opferte er, so wie ich für meine Familie, seine eigenen Interessen für die Seine? Oder hatte er es so schnell abgehakt?
„Was sagst du dazu, Chumani? Wie weit gehst du für die Menschen, die du liebst?“ Die Frau sah mich erwartungsvoll an. Ich schluckte. Würde sie mich dafür auslachen, wenn ich ihr von meinem Leben auf der Erde erzählte? Fremdbestimmt von Papa. Andererseits, erging es Tokalah nicht ähnlich? Sein Volk, das für ihn wie eine riesige Familie war, hatte für ihn Vorrang. So wie die drei kleinen Teufel für mich. Ich begann zu erzählen, wie meine Kindheit sich mit der Geburt der Zwillinge verändert hatte. Die große Schwester, die für die Jüngeren sorgte, die Mutter entlastete.
„Da wären wir“, warf Tokalah in einer Atempause ein. Ich folgte seinem Blick auf eine Menschentraube, die sich vor dem breiten Eingang zu einem Raum versammelt hatte. Zu viele Menschen. Ich biss mir auf die Lippe, griff reflexartig die Hand meines Begleiters. Statt sie wegzuziehen, streichelte er mir mit dem Daumen über den Handrücken, ein leichtes Kribbeln zur Folge. Er zog mich vorwärts, an den Wartenden vorbei. Einige riefen ihm in seiner Muttersprache lachend etwas zu, was er ernst beantwortete. Zu schade, dass ich die Worte nicht verstand. Es reizte mich, mehr über die Kultur, die Herkunft und die Sprache zu erfahren. Selbst wenn es nur dazu da war, mich vom Warten abzulenken. Tage, Wochen. Wie lange würde es dauern, bis wir einen Weg zur Erde fanden? Die Lakota kannten viele Planeten, doch meiner schien ihnen unbekannt. Lag er zu weit entfernt? Zweifel schüttelten mich. Was würde in dem Fall mit mir geschehen?
„Mache dir keine Sorgen.“ Der Mann an meiner Seite drückte sanft meine Hand. Ich schaute hinunter auf unsere verschränkten Finger, dann hoch zu seinem Gesicht, versank für einen Moment in seinen dunklen Augen.
„Tokalah, wenn du dich schon mit deiner Freundin vordrängelst, halte dann bitte nicht den Verkehr auf.“ Eine Frau, deren einst schwarzen Haare fast vollständig ergraut waren, drohte meinem Begleiter mit einer gefährlich aussehenden Fleischgabel. Ich unterdrückte ein Kichern, tarnte es als Hustenanfall und versteckte meinen Mund, dessen Mundwinkel stetig nach oben zuckten, in der Armbeuge. Den Lakota vor all den Menschen offen auszulachen, empfand ich als unhöflich. Warte! Was hatte die Indianerin gesagt? Freundin? Ich hustete erneut. Diesmal nicht zur Tarnung, sondern weil ich mich vor Schreck verschluckte. Jemand klopfte mir auf den Rücken.
„Bestellst du bitte für Chumani mit? Ich bringe sie schon mal zu unserem Tisch.“ Widerstandslos folgte ich Kimimila zwischen einigen Stühlen hindurch, die ich durch meine verschwommene Sicht kaum wahrnahm. „Setze dich doch bitte.“ Sie schob mich auf eine Sitzbank, von der man mit Sicherheit unter normalen Umständen den ganzen Raum überblickte. Ein weißer Stoff flatterte vor meiner Nase herum. Ein Danke krächzend nahm ich das Tuch an, wischte mir über die tränenden Augen. Neugierig sah ich mich um, senkte schnell wieder den Blick. Unzählige Augenpaare musterten mich ebenfalls voller Neugierde. Wen wunderte es? Ich stach mit der hellen Haut und meinen Haaren heraus wie ein bunter Hund. Zu Hause war ich dagegen kaum aufgefallen. Zu ruhig, zu unscheinbar, zu langweilig. Ich schluckte schwer, knetete den Stoff zwischen den Fingern und starrte auf die Tischplatte.
„Hier, ich habe für uns Wraps geholt.“ Tokalah stellte das Essen und drei Becher vor uns ab. Ich schnappte mir einen, äugte misstrauisch hinein. Die Flüssigkeit schien durchsichtig zu sein und verfügte über keinen Eigengeruch. Vorsichtig nahm ich einen Schluck, der meinen vom Husten strapazierten Hals kühlte.
„Was ist das?“ Ich zeigte auf einen Streifen im Wrap, den ich für Fleisch hielt.
„Bisonfleisch.“ Kimimila biss herzhaft hinein, was ich zum Anlass nahm, zu probieren. Auf der Erde hatte ich mal gehört, dass es ähnlich wie Rindfleisch schmeckte. Dennoch war es eher ein vorsichtiger Happen, eher ein Anknabbern. Ein leicht säuerlicher, überwiegend herber Geschmack, der prima mit den unterschiedlichen Gemüsesorten harmonierte, von denen einige mich an Karotten und Süßkartoffeln erinnerten. Weitaus besser als das Fertigfutter, das ich zwar geliebt hatte. Doch bei dem ich gleichzeitig realisiert hatte, wie ungesund meine Familie lebte. Andererseits fand ich chinesische Nudeln, Pizza und Burger verdammt lecker. Ich ließ den Blick zu den anderen Tischen wandern. Überall nur Nahrhaftes. Entweder Wraps mit Bisonfleisch und Gemüse, dampfende Eintöpfe oder gebratenes Fleisch mit etwas, das wie Wurzelgemüse aussah.
Nach dem Essen erschienen auf Kimimilas Stirn Sorgenfalten. Eine Vorahnung beschlich mich, dass es mit dem bevorstehenden Gespräch über die Ergebnisse vom Bluttest zusammenhing. Wieso sträubte sie sich so, mir davon zu erzählen? Der Wrap lag mir mit einem Male wie ein Ziegelstein im Magen. Schwer, ungelenk, rotierte er dort, versetzte alles in Aufruhr. Schnell ergriff ich den Becher, trank den letzten Schluck Wasser.
„Vielleicht sollten wir doch lieber woanders sprechen“, murmelte die Frau mit einem Seitenblick auf die Anwesenden. Ich ballte die Fäuste. War das wieder eine Verzögerungstaktik? Alles in meinem Innersten schrie danach, eine Antwort zu erhalten.
„Das halte ich für eine gute Idee.“ Tokalah zog mich von der Bank hoch, schlang einen Arm beschützend um meinen Rücken. Still ließ ich mich zu den Fahrstühlen führen. Passiv, wie ein Stück Vieh, schoss es mir durch den Kopf. Wieso hatte Papa mich nur immer kleingehalten, sodass mir nun die Widerworte fehlten? Hilflos, aufgeschmissen. Ganz so, wie er mich erzogen hatte.
„Da wären wir.“ Eine Tür glitt auf, enthüllte dreckige Sneakers, die mitten im Raum standen. Das mir zugewiesene Quartier. Ich atmete erleichtert durch.
„Nimm doch bitte Platz.“ Kimimila wies auf das Bett. Voller Erwartung befolgte ich ihre Aufforderung. Endlich Antworten. Ich setzte mich, legte die Hände in den Schoß und beobachtete, wie die Frau sich einen Stuhl heranzog. Tokalah lehnte sich an die Wand, die Augen auf einen unbestimmbaren Punkt im Zimmer gerichtet. „Wie fange ich am besten an?“ Die Ältere sah hoch zur Zimmerdecke, als ob sie auf Beistand von oben hoffte. Ich rutschte unbehaglich auf meinem Platz hin und her.
„Sage es Chumani einfach, Mutter“, durchbrach Tokalah die entstandene Stille. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, doch er ignorierte es völlig. Seine Kiefer mahlten.
„Du hast recht, mein Sohn. Nur ein wenig muss ich schon ausholen.“ Die Frau sah mir direkt in die Augen. „Du musst verstehen, aufgrund unserer Vergangenheit, haben wir von allen Völkern, die wir kennen, Blutproben und können somit eindeutig deren Herkunft bestimmen. Ursprünglich war es dazu gedacht, eine Vermischung untereinander zu vermeiden. Ganz so, wie es die Kinder der Sonne forderten.“ Ich nickte. Das klang einleuchtend. Tokalah hatte zuvor mir gegenüber erwähnt, dass er durch seinen auf die Schnelle durchgeführten Test erfahren hatte, dass ich nicht von seinem Planeten stammte. „Ab dem Zeitpunkt, seitdem wir durch das Weltall reisen, nehmen wir von allen Wesen, nicht nur von Humanoiden, ebenfalls Proben. Die anderen Völker gehen ebenso vor. Dadurch konnten wir eine riesige Datenbank aufbauen, um Bewohner, die weitab ihrer Welten leben, einwandfrei zuzuordnen.“ Sie räusperte sich, schaute hilfesuchend zu ihrem Sohn, der die Augen geschlossen hielt. Kimimila seufzte, wandte sich erneut mir zu. „Du stellst uns alle vor ein unlösbares Problem, Chumani. Wir wissen nicht, woher du stammst. Daher können wir dich nicht zu deinem Heimatplaneten bringen, denn er liegt weder in dieser noch in den Nachbargalaxien.“
„Was?“ Bedeutete das etwa? Ich schlug die Hände vors Gesicht. Unkontrollierte Schluchzer waren die einzigen Geräusche im Raum. Jemand zog mir die Schuhe aus, verfrachtete meinen zitternden Körper vollständig aufs Bett.
„Ich bleibe besser bei ihr, Mutter.“ Sogleich senkte sich die Matratze hinter mir und spürte ich die Wärme, die von dem Mann ausging. Kimimila lief zur Tür. Erst nachdem ihre Schritte verhallt waren, drehte ich mich zu Tokalah um, versteckte mein tränennasses Gesicht an seiner Brust. Sanft streichelte er mir über den Rücken, versuchte, mich zu beruhigen. Doch wieso sollte ich? Ich war heimatlos. Die Befürchtung, die ich die ganze Zeit über hegte, war eingetroffen. Eine Fremde, gefangen auf diesem Raumschiff, ohne Hoffnung, eines Tages nach Hause zurückzukehren.