Gedankenverloren starrte ich auf die Kleidung, die ausgebreitet auf dem Bett lag. Tokalah hatte mich gebeten, ihn auf einen fremden Planeten zu begleiten. Die Lakota planten, in der Zwischenzeit die Wasserspeicher aufzufüllen. Wie es sich anfühlte, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben? Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich mich schon auf dem Raumschiff aufhielt. Zeit war relativ im Universum. Der stete Tropfen aus einer nie versiegenden Quelle. Ohne Wechsel von Helligkeit und Dunkelheit gingen die Tage fließend ineinander über. Was war hier eine Stunde? Was eine Woche? Das ließ sich ohne Zeitmessung unmöglich bestimmen.
Es gab Uhren, die die genaue Uhrzeit anzeigten. Doch war dies diejenige ihres neuen Heimatplaneten. Für die Kommunikation mit den Menschen dort, damit man sie wegen ein wenig Smalltalk nicht kurz nach Mitternacht aus dem Tiefschlaf riss. Um genau zu sein, gab es mehrere Zeitmesser für die unterschiedlichen Zeitzonen. Dazu kamen Chronometer für die Kontakte zu bekannten Planeten, wo andere Überlebende der alten Erde ein neues Zuhause gefunden hatten. Doch für das Leben an Bord benötigte man sie nicht. Es gab keine strengen Vorschriften, keinen Dienstplan. Man arbeitete, wenn es etwas zu erledigen gab. Man ruhte, wenn alle Arbeit erledigt war oder jemand sie übernahm. Etwas Anderes, das auf dem Raumschiff nicht genutzt wurde, war ein Zahlungsmittel. Wer Hunger verspürte, holte sich einfach eine Kleinigkeit aus dem riesigen Gemeinschaftsvorrat. Tokalah schleppte mich dazu auch gern in den Garten, wo wir Beeren direkt von den Büschen naschten. Kleidung, Rüstung, Waffen, alles wurde gestellt.
Ich seufzte, ließ den Blick über die Sachen vor mir gleiten. Reißfeste Stoffe, Brust- und Rückenpanzer, Beinschützer, ein Helm, ein Messer und eine Pistole. Letztere für den Fall, dass uns eines der einheimischen Raubtiere angriff. Der Gedanke, auf ein Tier zu schießen, gefiel mir nicht. Überhaupt einem zu begegnen, war mir nicht geheuer. Nie hatte ich es für möglich gehalten, je eine Waffe in die Hand zu nehmen. Doch seitdem feststand, dass ich bei den Lakota blieb, nutzte Tokalah seine freie Zeit nicht nur, um mir die verschiedenen Bereiche des Raumschiffs zu zeigen und mir seine Kultur zu erklären, sondern auch, um mich mit Verteidigungspraktiken vertraut zu machen. Seine Überzeugung in meine Lernfähigkeit war schier unbegrenzt. Ausgerechnet ein fremder Mann, der mir mehr Vertrauen und Zuversicht schenkte, als mein Vater es je für nötig gehalten hätte. Der Gedanke an meine Familie auf der Erde versetzte mir einen schmerzhaften Stich. Obgleich Papa meinetwegen auf den Mond auswandern konnte, vermisste ich Mama und die drei kleinen Teufel. Wie es ihnen wohl erging? Ob unser Vater seit meinem unfreiwilligen Verschwinden von den Zwillingen erwartete, dass sie im Haushalt mithalfen? Oder betraf es nur meine kleine Schwester? Einzig aus dem Grund, weil sie ein Mädchen war und Hausarbeit seiner Meinung nach von Frauen bewältigt werden sollte.
Wenn ich dagegen die Situation zwischen den Geschlechtern hier auf dem Raumschiff verglich. Früher gab es ebenfalls eine Aufgabentrennung, verursacht durch die herumziehende Lebensweise. Vor technischen Errungenschaften. Danach hatte sich das Bild immer weiter gewandelt. Frauen führten in Friedenszeiten das Volk an. Sie gebaren neues Leben, daher achteten sie sorgfältig darauf, dass niemand zu schaden kam.
Ich zog die Schultern hoch, ließ sie gleich im Anschluss mit einem tiefen Seufzer wieder sinken. Es schmerzte unangenehm im oberen Rücken und Nacken. Ich drehte mich um, schaute sehnsüchtig Richtung Bad. Eine heiße Dusche wäre eine Wohltat für meine verspannten Muskeln, doch das bedeutete, Tokalah unnötig warten zu lassen. Ich war eh schon spät dran. Ohne weitere Zeit zu verplempern, zog ich mich um und legte die Rüstung an.
Wenig später klammerte ich mich panisch an den Mann, der sein schwebendes Motorrad, eine bessere Bezeichnung fiel mir dafür nicht ein, quer durch einen fremden Dschungel jagte. Das Gefährt schien einen gleichmäßigen Abstand zum Boden einzuhalten, was mich aber kaum beruhigte, da wir in einer Art Slalom zwischen den Bäumen hindurch fegten. Wenn es sein Plan war, mir zu imponieren, ging der gewaltig schief. Ich nahm mir vor, ihm später deutlich die Meinung zu sagen.
Mit der Zeit wurde es merklich kühler und dunkler. Tokalah bremste die Maschine ab, hielt endlich bei einem Felsen. Verwirrt schaute ich mich um, bis mein Begleiter mir zu verstehen gab, abzusteigen. Was ich sah, widersprach allem, was ich gelernt hatte. Wieso waren die Blätter von Büschen und Pflanzen am Boden blau? Ich gestikulierte in Richtung eines Strauches. Tokalah nahm den Helm ab und grinste mich breit an. Das bedeutete dann wohl, dass ich hier normal atmen konnte. Daher folgte ich seinem Vorbild. Ich nahm einen tiefen Atemzug. Die Luft war kühl und würzig, erinnerte an den Harzgeruch in Nadelwäldern. Ein angenehmer Geruch. Doch das kümmerte mich wenig. Was hatte es mit diesen blauen Blättern auf sich?
„Wunderst du dich über die Farbe?“ Tokalah zog mich an seine Seite, lief mit mir zu einem Busch, den Arm fest um meine Taille geschlungen. „Wir haben uns zuerst ebenfalls darüber gewundert. Es scheint mit dem dichten Blätterdach der Bäume zusammenzuhängen. Dadurch gelangt zu wenig Licht auf den Waldboden. Nanu?“ Es raschelte direkt vor uns. Ein leiser langgezogener Klagelaut, gefolgt von einem Fauchen. Ich schaute auf den Boden. Bläulich schimmerndes Fell. Tiefgrüne Augen starrten uns voller Neugier und gleichzeitig ängstlich an. Die feinen Schnurrhaare zuckten mit der kleinen Nase um die Wette. „Wir sollten uns mal lieber zurückziehen“, raunte Tokalah. „Die Mutter ist sicher nicht weit.“ Vorsichtig liefen wir einige Schritte rückwärts. Die junge Raubkatze folgte uns voller Begeisterung. Sie sprang übermütig über das Moos, das hier scharenweise wuchs.
„Wo ist nur das Muttertier? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihren Welpen so lange aus den Augen lässt. Dafür ist er noch zu klein.“Tokalah starrte angestrengt auf das Gebüsch, während er mich immer weiter von dort wegzog. Unvermittelt hielt er inne. Etwas kitzelte meine Hand, leckte einmal darüber.
„Äh, Tokalah. Was ist das hinter mir?“ Er drehte sich halb um. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie er regelrecht erstarrte. Dann sank er zu Boden, umarmte die große Raubkatze, die ihn verspielt anstupste und ihm das Gesicht abschleckte. Ich verschränkte die Arme. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten?
„Setz dich. Sie tut dir nichts.“ Wie auf Kommando schnurrte sie, die Augen halb geschlossen, während mein Begleiter sie unter dem Kinn kraulte. „Na meine Hübsche. Lange nicht gesehen.“ Mir blieb der Mund offenstehen. Etwas zerrte an meinem Hosenbein. Ich schaute hinunter. Das Jungtier sah unschuldig wie ein Kätzchen zu mir hoch. Wer konnte da schon widerstehen? Kaum saß ich, kletterte es mir bereits auf den Schoß.
„Wieso sind die so zutraulich?“, flüsterte ich, unfähig den Blick von dem Kleinen zu nehmen.
„Der Welpe? Keine Ahnung. Die Mama habe ich mit aufs Raumschiff genommen, weil einer der Krieger aus Versehen ihre Mutter getötet hatte. Da war sie wenige Wochen alt. Nachdem sie erwachsen war und für sich selbst sorgen konnte, haben wir sie hier wieder ausgesetzt. Ich habe sie noch einige Tage beobachtet, dann verschwand sie.“ Er schwieg einen Moment. „Ich habe mich immer gefragt, ob es ihr gut geht. Aber da habe ich mir wohl unnötig Sorgen gemacht.“ Er lehnte sich an die Raubkatze, die weiter tief schnurrte. Still betrachtete ich die beiden. Tokalah überraschte mich immer wieder aufs Neue. Er war etwas ganz Besonderes. In meinem Bauch kribbelte es, als wenn dort hunderte Schmetterlinge durcheinander flogen. Wieso merkte der Mann nur nicht, was ich für ihn empfand?