Kapitel 4
Jillians Kopf lag auf Jonas’ Brust, sie hatte beide Arme um ihn gelegt und sich fest an ihn gekuschelt, während sie zu den Szenen in dem nun laufenden Liebesfilm ihre ganz eigenen Träume träumte. Sie dachte an niemand bestimmten, auch nicht an Justin. Sie stellte sich vor, wie ihr zukünftiger Freund sein würde. Er sollte genauso sein, wie der Darsteller in diesem romantischen Film – witzig, einfühlsam, romantisch, treu.
Jillian interessierte es herzlich wenig, dass alle sagten, solche Filme wecken unrealistische Erwartungen. Ihr war es egal, dass sie aus ihrem Freundeskreis die einzige zu sein schien, die noch an die richtig große Liebe glaubte. Sie würde die drei kleinen Worte sagen und sie würde sie nur zu einer einzigen Person sagen und zwar genau dann, wenn sie sich ganz sicher war. Sie würde warten und irgendwann würde der Richtige kommen.
Seit sie denken konnte, träumte sie schon von dem einen, mit dem sie durch gute und auch schlechte Zeiten würde gehen können. Plötzlich brannten ihr viele Fragen auf der Zunge. Sie wandte ihr Gesicht dem von Jonas zu, der gespannt in den Fernseher starrte, nicht wissend wie sehr sie das Bild von einem Liebespaar für einen Außenstehenden damit perfektionierte. „Jonny?“
Erschrocken sah Jonas sir an. Irgendwie hatte er angenommen, sie wäre eingeschlafen. Es kam nicht oft vor, dass Jillian so vollkommen still war, nicht einmal bei einem Film. Normalerweise musste sie zu alles und jedem ihren Kommentar abgeben. „Was denn?“
Sie sah wieder in den Fernseher. „Was meinst du, woran man erkennt, dass man sich verliebt hat?“
Jonas dachte nach. „Kribbeln im Bauch, feuchte Hände...“
„Nein.“ Jillian unterbrach ihn lächelnd und dachte nach, wie sie es am besten ausdrücken könnte. „Ich meine... die eine Liebe... du weißt schon. Die eine oder keine. Die, die für immer hält.“
Jonas lächelte. Er wusste nicht wirklich, ob er an so etwas glaubte. Was war denn schon unendlich? Jemand, für den man alles tun, mit dem man alles durchstehen, für den man sterben würde – so etwas gab es doch nur im Film. Das konnte er Jillian natürlich nicht sagen, ihr Kopf war im Moment voller Träume. „Ich weiß es nicht.“, antwortete er deswegen nur.
Jillian überlegte. „Ich denke, dass man es einfach spürt, wenn es soweit ist. Nur ein Blick und du weißt es. Meinst du nicht auch?“
Jonas antwortete nicht sofort. „Hm... und du meinst, dass das bei Justin und dir so ist, ja?“
Sie lachte leise und schmiegte sich noch etwas enger an ihn. „Nein. Nein, auf keinen Fall. Ich mag Justin sehr und ich will sehen, was aus uns wird, aber bei dieser einen Liebe muss man das Gefühl im ersten Moment spüren. Weißt du, was ich meine?“
„Jillian, was ist los? So kenne ich dich gar nicht.“ Jonas war verwundert.
„Solche Filme machen mich nachdenklich.“, gab sie leise zu.
„Wie muss er denn sein? Stell mich deinem Zukünftigen vor!“, forderte er sie interessiert auf.
Jillian schloss die Augen und merkte bei ihrer Beschreibung nicht, was sie schon so lange in den Händen hielt. „Ich muss mich bei ihm sicher und geborgen fühlen können. Er muss mich zu schätzen wissen und respektieren. Es darf keine andere für ihn geben. Er muss mit mir weinen und auch lachen können. Ich möchte jemanden, dem ich grenzenlos vertrauen kann und der mir grenzenlos vertraut. Jemand, der mich so liebt, wie ich bin und es mir sagt, wenn ich Fehler mache.“
„Das ist eine ganz schön lange Liste.“, lachte Jonas daraufhin und er wusste nicht, warum er sich plötzlich so unbehaglich bei ihr fühlte, darum unterdrückte er das Gefühl. „Wie sieht er denn aus?“
„Ich weiß es nicht genau... er hat ganz warme, liebevolle Augen. Er ist größer als ich, damit ich mich sicher fühlen kann.“ Sie schaute wieder zu ihm auf. „Und bei dir?“
Er überlegte nicht lange, bei ihm gab es keine großen Erklärungen. „Wenn ich ihr in die Augen sehe und es bei mir Klick macht. Wenn meine innere Stimme ja sagt, weil es sich einfach nur richtig anfühlt, mit ihr zusammen zu sein.“
„Warum hattest du noch keine Freundin, Jonas?“, fragte Jillian nun.
Im Gegensatz zu anderen Jungs, fand er die Frage nicht peinlich. „Weil es noch nie Klick gemacht hat.“
Jillian lachte warm. Das passte mal wieder zu Jonas. Ehrlich gesagt, fiel es ihr sehr schwer, sich ihn mit einem Mädchen vorzustellen, etwas in ihr sperrte sich dagegen. Sie hatte Angst, dass die Eine sie von ihrem Platz an Jonas Seite verdrängen könnte.
Jonas dachte über Jillians Worte nach. Er bezweifelte, dass sie all das, was sie suchte bei Justin finden würde oder bei sonst wem... sie hatte offenbar ziemlich deutliche und hohe Ansprüche und er wusste, dass Jillian keinen davon herunterschrauben würde.
Der Liebesfilm, der Jillian so nachdenklich werden ließ, war der letzte Film des gemütlichen DVD-Abends. Die vielen Teelichter, die das ganze Zimmer in einen süßlichen Vanilleduft tauchten, brannten langsam aus. Die Müdigkeit benebelte Jillians Augen, sie hatte Mühe, sie noch offen halten zu können und bekam vom Film kaum mehr etwas mit.
Draußen herrschte schwarze Nacht, nicht einmal der Mond konnte die dunkle Wolkendecke durchbrechen. Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien, nur noch die scharfen Windstöße rüttelten an Jonas’ Fenster.
Er warf einen Blick zur Uhr und unterdrückte ein Gähnen. Kurz vor Zwölf. Das Kerzenlicht und das Flackern des Fernsehers trieben die Müdigkeit in seinen Geist. Die Nebel des Schlafes machten ihn träge und er nickte ein.
Drei Jahre zuvor....
Heute wurde sie endlich süße Sechzehn! Für Jillian war das der Beginn einer neuen Ära und dank des Vertrauens und Verständnisses ihrer Eltern, würde sie das auch gebührend und zügellos feiern können. Ihr Vater hatte sich anfangs etwas gegen diese Vorstellung gesträubt, doch letzten endes hatte ihre Mutter mit einem „René, dein Mädchen wird nur einmal sechzehn!“ diese Diskussion für sie gewonnen.
Sie hatten einen Saal gemietet, extra nur für sie. Mit Cateringservice, DJ und allen ihren Liebsten. Sie konnte nicht ausdrücken, wie viel ihr das bedeutete. Sie wollte jede Sekunde dieses Tages in sich spüren als wäre es die Letzte. Sechzehn! Und sie fühlte sich schon so erwachsen. Die Welt erstreckte sich vor ihr als gehöre sie ihr allein. So viele Möglichkeiten, so viel Zeit, so viele Freiheiten. Sie bräuchte nur danach zu greifen. Das Leben war gut zu Jillian Seifert.
Plötzlich legte Jonas seine warmen Hände über ihre Augen und sie lächelte als er sagte: „Wir sind da. Bist du bereit?“
„Aber Jonas, ich weiß doch, was folgt. Ich weiß, wer da sein wird und von dem Saal und…“
„Ich will wissen, ob du bereit bist, Jilly?“, unterbrach er sie sanft und sie nickte stumm. Plötzlich war ihr Mund trocken und ihre Knie weich. Sie fühlte sich mit ihren sechzehn Jahren in dieser einen Sekunde, in der er ihr so nah war, hilflos wie ein kleines Kind. Diese neuen Empfimdungen raubten ihr den Atem. Sie konnte nicht wissen, dass sie damit das erste Mal wie eine Frau fühlte.
Sie traten über eine Schwelle und gedämpft nahm sie das Kichern und Flüstern von den Menschen wahr, die sie liebte. Elektrische Spannung und Vorfreude hingen in der Luft. Es roch süßlich und leise erklang im Hintergrund Musik von ihrer Lieblingsband Sunrise Avenue.
„Und los!“, flüsterte Jonas und nahm die Hände von ihren Augen, welche sich bei dem Anblick all der Leute und des Raumes sofort mit Tränen füllten. Betroffen schlug sie sich die Hände vor den Mund. Das hier hatten sie alle allein für sie arrangiert?!
Ihre ganze Klasse war da, dazu noch die liebsten Leute aus ihrer Parallelklasse, nicht nur Selina, Sofia und Caro, auch all die anderen wundervollen Menschen. Dazu ihre Eltern und Großeltern und Tim mit seinen Kumpels. Und alle hielten sie ein winziges mit rosa Glasur überzogenes Törtchen in den Händen, auf dem hoffnungsbringend eine Wunderkerze flackerte. Das Knistern erfüllte die herzzerreißende Stille. Der Raum war voller Blumen – die Wände, die Tische, sogar von den Decken hingen große weiße Kübel, aus denen sich alle erdenklichen Farben ergossen. Sie wusste, dass dies das Werk ihrer Mutter war.
Dann begannen sie alle im Chor für sie zu singen, während Jonas sich zu ihnen gesellte. „Wie schön, dass du geboren bist. Wir hätten dich sonst sehr vermisst. Wie schön, dass wir zusammen sind! Wir gratulieren dir, Geburtstagskind!“
Der Kloß in ihrem Hals hinderte sie am Sprechen, sodass sie nur stumm den Kopf schüttelte, was ihre Augen zum überlaufen brachte. Als ihre Eltern sie tröstend und stolz in die Arme schlossen, zuckten ihre Schultern in kontrolllosen Schluchzern. „Das werde ich euch nie vergessen.“
„Du hast nur das beste verdient, mein kleiner Engel.“, sagte ihr Vater und sie hörte, dass auch er mit den Tränen kämpfte. Wie immer, wenn er das überspielen wollte, machte er einen schlechten Scherz: „Also los, geh und betrink dich.“
Stunden später schlug René Seifert wohl vom Rande der überfüllten Tanzfläche die Hände über dem Kopf zusammen, weil seine Tochter seinen Vorschlag so schnell und ohne schlechtes Gewissen umgesetzt hatte. Seine Frau amüsierte sich dagegen köstlich und fotografierte wie wildgeworden ihre Tochter, die gerade mit Jonas tanzte.
In einer Ecke knutschten wie wild Jillians beste Freundin Selina und ein Junge aus ihrer Parallelklasse. René räusperte sich und wandte den Blick davon ab. „Also Katrin! Mir ist nicht mehr ganz wohl bei dieser Sache. Ich fühle mich, als würde ich meine Tochter in ein Nest voller Giftschlangen stoßen.“
„So fühlen sich viele Väter, wenn die Töchter erwachsen werden.“, schmunzelte Katrin über ihre Kamera hinweg und René erschrak wie ähnlich sie ihrer Tochter war, woraufhin er nicht mehr wegsehen konnte.
„Sie ist eine junge Frau.“, stellte er traurig fest und Katrin lachte schallend, bevor sie ihm tröstend eine Hand auf die Schulter legte.
„Nicht so schnell.“, sagte sie dann leise und zwinkerte. „Etwas haben wir sie noch bei uns. Aber ja, sie ist eine junge Frau. Wir müssen uns darauf vorbereiten, sie gehen zu lassen. Und glaub mir, sie wird lieber zu uns zurückkommen und sich freier entfalten, wenn wir sie beim Gehen unterstützen, anstatt sie festzuhalten.“
„Du bist zu klug.“ Er seufzte. „Ich hole mir wohl lieber noch ein Bier und ordne mich der Menge unter.“
Schmunzelnd sah Katrin ihm nach, als er mit eingezogenem Kopf in der tanzenden Menge verschwand. Dann wandte sie sich wieder um und hielt mit der Kamera die Momente fest, von denen sie als Mutter wusste, dass Jillian sich irgendwann daran erinnern wollte.
„Jonas warte.“ Jillian war betrunken und hörte, dass sie ständig albern lachte, während Jonas nichts angerührt hatte und sie immer nur geduldig ansah, sie beschützte. „Oh Gott. Alles dreht sich.“
„Wir tanzen ja auch, Jill!“, sagte er, leiser und ernster als sonst. Sie hatte keine Angst. Sie hätte Angst gehabt, wenn er nicht gewesen wäre, aber er war ja da. Sie hatte vorher noch nie getrunken und nun spürte sie eine Zügellosigkeit in sich aufsteigen, von der sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. „Ich falle. Ich falle!!“
„Nein.“ Er hielt sie ganz fest, tanzte eng mit ihr zu dem sanften Lied. „Ich hab dich.“
Da sah sie zu ihm auf. Sah in seine liebevollen, braunen Augen und ein Schwindel erfasste sie, der nichts mit dem Alkohol zu tun hatte. Der Alkohol hatte die Gefühle gelockert und gelöst, da waren sie schon immer gewesen. Sie wusste, er würde sie immer beschützen. Sie fühlte sich unendlich sicher bei ihm. Und in diesem Nebel zwischen Euphorie, Musik und Alkohol erkannte sie, dass sie sich nach ihm verzehrte, auch wenn sie diese Erkenntnis am nächsten Morgen wieder vergessen haben würde.
Jonas sah liebevoll zu ihr herunter und plötzlich machte es irgendwo in seinem Kopf laut und deutlich klick.
Und diesen Moment fing Katrin mit der Kamera ein – die Nähe, der Blickkontakt, die Verwirrung, dann das Verstehen. Erwachsenwerden.
Im Haus der Seiferts war es lange schon still geworden, nur das beständige und leise Tropfen des Wasserhahns war in der Küche zu hören. Die Schatten der Nacht hatten Besitz von jedem einzelnen Zimmer ergriffen, nur das Wohnzimmer wurde vom schwachen Licht des Fernsehers beleuchtet. Tim lag tief schlafend auf der Couch und wand sich mit angespanntem Gesicht vor den Traumbildern in seinem Kopf.
Er stand mutterseelenallein auf dem Flughafen in New York, keine Menschenseele war zu sehen. Wenn er aus den großen Fenstern sah, dann blickte er direkt in die Schwärze der Nacht und es schneite. Er fröstelte und wollte sein Gepäck nehmen, um endlich in die warme Wohnung seines Bekannten zu kommen, aber es war verschwunden. Verwirrt sah er sich nach allen Seiten um, aber nichts war zu sehen und immer noch war er der einzige weit und breit. Er fühlte sich unwillkommen und völlig allein in dem fremden Land.
Unentschlossen durchquerte er die große Halle des Flughafens, wobei jeder seiner Schritte von den hohen Wänden des Gebäudes zurückgeworfen wurde. Unschlüssig trat er nach draußen in die eisige Kälte der Nacht. Er hatte kaum einen Schritt getan, da wurde er von einem scharfen Windstoß zurück in die Halle gestoßen. Er war ganz offensichtlich nicht willkommen.
Plötzlich hallte ein helles Klingeln durch die Halle, es kam einfach von überall her. Es war ein nervenaufreibender Ton, der dunkle Vorahnungen in ihm weckte. Er wollte, dass es aufhörte. Jemand sollte es abstellen. Er rannte durch die Halle. Sie wurde mit jedem seiner Schritte weitläufiger und leerer. „Hallo?“
Verwirrt schreckte er durch seine eigene Stimme aus dem Schlaf hoch und realisierte, dass das Telefon klingelte. Er stieß einen heftigen Fluch aus und ließ sich zurück in das Kissen fallen. Wer auch immer es war, der um diese Uhrzeit bei ihnen zu Hause anrief, er wurde mit Tims Ignoranz bestraft.
Als er sich irritiert im Wohnzimmer umsah, nahm er das schrille Klingeln des Telefons kaum noch wahr. Er überlegte, was er hier unten zu suchen hatte und dann fiel es ihm schlagartig wieder ein. Er hatte seine Bewerbung für New York zu Ende geschrieben, was sicher auch den merkwürdigen Traum erklärte.
Offensichtlich habe ich doch mehr Angst davor, zu versagen, als ich gedacht habe, gestand er sich selbst ein. Er hatte Angst, dass er es allein nicht schaffen würde und dann wieder, ohne etwas erreicht zu haben, nach Hause zurückkehren müsste.
Mit einem leichten Kopfschütteln vertrieb er die unerwünschten Gedanken und versuchte, sich wieder an seinen Abend zu erinnern. Er war also hinunter in die Küche gegangen, um sich etwas zu essen zu machen. Jetzt sah er auch den Teller, der auf dem Tisch neben ihm stand. Wahrscheinlich wollte er nach dem Essen noch etwas fernsehen und ist dann aufgrund der Erschöpfung des anstrengenden Tages an Ort und Stelle eingeschlafen.
Vorher hat Ma noch angerufen., erinnerte er sich jetzt und als er einen kurzen Blick auf die Uhr warf und feststellte, dass seine Eltern noch immer nicht zu Hause zu sein schienen, kehrte der quälende Druck in seiner Brust zurück. Ruckartig stieß er die Decke, in die er sich beim fernsehen eingewickelt hatte, zurück und stand auf. Er war schweißgebadet.
Vor der Tür, die zum Korridor führte blieb er stehen und beschloss, sich etwas leiser zu verhalten. Vielleicht lagen seine Eltern ja schon gemütlich und sicher in ihren Betten und er hatte sie in seinem Tiefschlaf nur nicht kommen hören.
Langsam drückte er die Klinke hinunter und trat in den dunklen Flur hinaus. Er wartete bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann sah er zur Garderobe. Sein Herz machte einen schmerzhaften Satz, die Jacken seiner Eltern waren nicht an ihren gewohnten Plätzen.
Panisch riss er die Tür zu ihrem Schlafzimmer auf und fand ihre Betten leer und noch ordentlich gemacht vor. Angst stieg in seiner Kehle auf wie bittere Galle, als er zurück ins Wohnzimmer zum Telefon stürmte und die Handynummer seiner Mutter wählte. Ein seltsames Piepen drang an sein Ohr. „Der von Ihnen gewünschte Gesprächspartner ist nicht zu erreichen.“
Ganz ruhig, versuchte er sich einzureden. Sie sind im Kino, da muss man das Handy ausschalten. Als ihm jedoch einfiel, dass bei seiner Mutter die Mailbox anging, wenn sie ihr Handy aus hatte, wurde ihm ganz schlecht vor Angst.
Mit zitternden Händen wählte er die Nummer seines Vaters. Als das Wohnzimmer plötzlich von einem lauten Klingeln erfüllt wurde, fuhr Tim erschrocken herum. Sein Vater hatte sein Handy auf dem Wohnzimmertisch vergessen. Er stieß einen verzweifelten Fluch aus und knallte den Hörer aufs Telefon.
Rastlos wanderte er erst durchs Wohnzimmer, dann den Flur entlang bis in die Küche. Er wusste nicht, wonach er suchte. Da klingelte plötzlich das Telefon. Erleichterung überkam ihn und er rannte ins Wohnzimmer zurück.
Mit zitternden Händen nahm er den Hörer ab, seine Stimme wackelte. „H-hallo?“
„Dr. Alexander Lorenz. Spreche ich mit Tim Seifert?“
Der Schreck ließ ihn so sehr zittern, dass er beinahe den Hörer aus der Hand verloren hätte. Er versuchte, sich zu beherrschen, doch es misslang. Schmerz explodierte in seiner Brust und kurz glaubte er, er bekäme eine Herzattacke, bevor die Welt wieder kühl und klar wurde. „Ja... was wollen Sie?“
Es war schon etwas nach Mitternacht und das Haus der Hills war vollkommen ruhig. In Jonas’ Zimmer lief seit Stunden der Abspann von ein und demselben Film. Jillian und er störten sich weder an den blendend grellen Farben, noch an der kitschigen Filmmusik – sie schliefen beide tief und fest.
Auch Jonas’ Eltern, die im unteren Stockwerk schliefen, waren schon lange nicht mehr wach. Es war eine Wohltat für die beiden, an Samstagabenden zeitig ins Bett gehen zu können, um so verärgerte waren sie jetzt, als das schrille Klingeln an der Haustür sie aus dem Schlaf weckte.
Erschrocken tastete Jonas’ Vater im Dunkeln nach dem Schalter der Nachttischlampe und schaltete sie ein. Er blinzelte bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten und sah seine Frau irritiert an, als es nochmals klingelte.
Sie schaute auf die Uhr und stöhnte verärgert auf. „Viertel nach zwölf!“, teilte sie ihrem Mann empört mit, der sich erschöpft wieder in die Kissen sinken ließ.
„Willst du nicht aufmachen?“, fragte sie ihn ungeduldig.
„Das kann nur ein Verrückter sein!“, grummelte Martin Hill verschlafen und zog sich die Decke über den Kopf.
„Du bist ein sturer, alter Esel!“, schimpfte Samantha und stand auf, als es erneut klingelte. „Ich komme ja schon!“, murmelte sie völlig genervt und wickelte sich in ihren flauschigen Morgenmantel ein. Sie hatte keine Ahnung, wer um diese Uhrzeit bei ihnen auftauchen sollte. Einer ihrer Klienten? Oh Himmel, bitte nicht!
Nach einem kurzen, prüfenden Blick in den Spiegel über der Kommode, ging sie in den Flur und öffnete die Haustür. Sie hätte mit wirklich jedem gerechnet, aber nicht mit ihm. „Tim?!“ Völlig verwirrt und anklagend sah sie den Jungen an. „Was...?“
„Es tut mir Leid, dass ich Sie geweckt habe, Frau Hill.“ Seine Stimme klang schleppend und beherrscht.
Erst jetzt nahm Samantha sich die Zeit, sich den Jungen genauer anzusehen. Er zitterte am ganzen Körper, aus seinem Gesicht war jede Farbe gewichen und die Augen waren noch ganz rot vom vielen weinen. Angst stieg in ihr hoch. Sie kannte Tim als einen selbstbewussten und selbstständigen jungen Mann. Es passte nicht zu ihm, mitten in der Nacht so verstört vor ihrer Tür zu stehen.
„Komm erst mal rein.“ Wie ein Kind, ließ er sich von ihr in den Flur ziehen und starrte sie dann mit ausdruckslosen Augen an. „Was ist denn passiert, um Himmelswillen!?“
„Kann ich bitte mit Jonas sprechen?“ Er schluckte und zwang sich zur Ruhe.
„Deine Schwester ist auch oben. Soll ich nicht lieber sie holen?“, vergewisserte sich Samantha besorgt.
„Nein! Auf gar keinen Fall!“, widersprach er heftig. Seine Stimme hatte wieder zu zittern begonnen. „Ich will mit Jonas sprechen!“
Erschrocken nahm Samantha wahr, dass Tim sich am Treppengeländer stützen musste, um sich aufrecht halten zu können. Sie packte ihn am Arm und zog ihn in die Küche. Stumm drückte sie ihn auf einen Stuhl und machte ihm einen starken Kaffee, bevor sie ohne ein weiteres Wort die Treppe zu Jonas’ Zimmer hinaufging, während tausend schreckliche Gedanken durch ihren Kopf wirbelten. Sie glaubte zu wissen, was geschehen ist.
Hektisch klopfte sie bei ihrem Sohn an und stürmte ohne eine Antwort abzuwarten in sein Zimmer. Der Anblick, der sie dort erwartete, warf bleierne Gewichte auf ihr Herz. Jillian und Jonas lagen eng umschlungen auf seinem Bett. Der Kopf des Mädchens ruhte auf Jonas’ Brust, sie sah so friedlich aus.
Jonas blinzelte seine Mutter verschlafen an. „Mutter?“ Verwirrt sah er zu ihr auf.
Sie sprach leise, um Jillian ja nicht zu wecken. „Jonas, ich glaube etwas stimmt nicht mit Jillys Eltern. Tim ist unten, er will dich sprechen.“
Die Nebel des Schlafes verschwanden langsam und Jonas begriff, die Schwere der Worte. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Sanft schob er Jillian von sich und deckte sie dann zu.
„Komm mit.“, sagte seine Mutter sanft und zusammen gingen sie in die Küche, wo Tim auf sie wartete.
Er war benommen, fast schon betäubt von dem endlos langen Telefonat mit Dr. Lorenz. Mit seinen Worten hatte er ihm einen Faustschlag nach dem anderen versetzt und jeder davon hatte getroffen. „… sie sind auf die Landstraße eingebogen und durch den Wald gefahren. Dort hatte sich zu dem dichten Schneesturm zusätzlich noch Nebel und Glatteis gebildet – eine tödliche Mischung. An den Spuren auf der Straße hat die Polizei erkannt, dass Ihr Vater den Wagen wohl ruckartig abgebremst hatte. Offenbar hatte er gemerkt, wie glatt es war und wollte das Tempo drosseln, denn Wildspuren wurden nicht gefunden. Aber der Wagen hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon in der Kurve befunden und so haben beim Lenken und Bremsen die Räder blockiert und sie sind von der Straße abgekommen. Der Graben, in den sie hineinrutschten war so tief und steil, dass sie sich überschlugen und dabei schwere Kopfverletzungen erlitten… wir hatten nicht einmal mehr Zeit, irgendetwas für Ihren Vater tun zu können… ich muss Sie außerdem bitten, zur Identifikation morgen Nachmittag im Krankenhaus vorbeizukommen.“
Ein nüchterner Bericht, eine nüchterne Bitte. Kein Erstfall und somit nichts Besonderes. Ein Polizeibericht von vielen und zwei von Tausenden Verkehrstoten jährlich. So etwas kommt eben vor. Natürlich ist es schwer, aber es geschieht eben. In diesem Ton sagten sie ihm, dass seine Eltern nicht mehr waren und dass er sich ansehen musste, was noch von ihnen übrig geblieben war.
Eine halbe Stunde später stand Jonas mit zitternden Händen vor seiner Zimmertür. Er konnte immer noch nicht glauben, was er soeben erfahren hatte. Jillians Eltern sind tot. Bei diesem Gedanken fuhr es ihm wieder eiskalt den Rücken hinunter.
Seine Hand ruhte immer noch auf der Türklinke. Wie konnte er Jillian jetzt nur wecken und sie aus ihrem Leben reißen? Wie konnte er das tun? Aber Tim hatte darauf bestanden. Er hatte gemeint, dass Jonas es ihr so viel schonender beibringen konnte als er. Aber wie konnte man so etwas jemandem schonend beibringen? Noch nie hatte Jonas eine Familie gesehen, die sich näher stand als es die Seiferts getan hatten und er wusste, wie sehr Jillian ihre Eltern liebte.
Er fühlte sich völlig überfordert. Er hatte ja selbst noch nicht einmal die Zeit gehabt, um das begreifen zu können. René und Katrin Seifert waren für ihn wie eine Ersatzfamilie gewesen, er konnte nicht glauben, dass es sie nun einfach nicht mehr gab.
Und was würde nur aus Jillian werden? Würde es Jillian nach dieser Nacht überhaupt noch geben? Die Jillian, die alle mochten. Aber jetzt ist es sowieso egal, erinnerte er sich. Jillian wird es erfahren, so oder so. Und er würde für sie da sein.
Langsam drückte er die Klinke nach unten und betrat das Zimmer. Sie schlief immer noch tief und fest, ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Musste er es ihr wirklich nehmen? Jonas schaltete den Fernseher aus und blieb unschlüssig vor seinem Bett stehen. Er seufzte schwer und rüttelte sie dann leicht an den Schultern.
Verwirrt schlug sie die Augen auf und sah sich um, bis sie begriff, wo sie sich befand. Sie lächelte als sie Jonas vor dem Bett stehen sah. „Was ist? War ich dir zu schwer? Sorry, ich bin einfach eingeschlafen, weil...“ Sie unterbrach sich selbst, als sie sah, dass in seinen Augen Tränen schwammen. Sofort setzte sie sich auf. „Jonny?“
Atemlos sah sie ihm in die Augen, als er sich vor sie hockte und ihre Hände nahm. Sie begriff nicht, was vor sich ging, vielleicht war alles nur ein verrückter Traum. Aber die Kälte, die sich mehr und mehr in ihr auszubreiten schien war zu real.
Er merkte, dass sie erst noch Zeit brauchte, um klarer im Kopf zu werden und wartete geduldig, auch wenn ihn ihr Anblick beinah umbrachte.
„Ist irgendwas passiert?“, fragte sie endlich.
Jonas atmete tief durch und zwang sich, die Ruhe zu bewahren und Jillian in die Augen zu sehen. „Jilly... deine Eltern hatten einen Unfall.“ Er sah, wie die Verwirrung aus ihren Augen wich und der Panik ihren Platz überließ.
Jillian sprang auf und ihre Stimme klang unnatürlich hoch. „Was? Wo sind sie jetzt? Geht es ihnen gut? Ich will zu ihnen!“
Jonas drückte sie sanft auf sein Bett zurück. „Atme tief durch, Jillian!“, sagte er ruhig.
Sie wusste nicht warum, aber sie gehorchte seiner Anweisung und sah ihn dann fragend an. „Sie sind tot, Jillian. Alle beide.“
Der Schmerz kam nicht langsam, sondern mit einer solchen Wucht, dass sie beinahe zusammengebrochen wäre. Er war auch nicht dumpf und wurde immer stärker, er war von Anfang an messerscharf. Die Verwirrung und das Unverständnis gingen nicht langsam, sondern verschwanden gleich, als Jonas die Worte ausgesprochen hatte. Jillian begriff es sofort, aber verstehen konnte sie es nicht.
„Nein.“, sagte sie monoton und schüttelte abwehrend mit dem Kopf, während der Kloß in ihrem Hals höher und höher stieg. Sie sah Jonas nur noch verschwommen, doch als er ihr übers Haar strich, verstand sie es – sie hatte heute Nacht ihre Eltern verloren.
„NEIN!“, schrie sie protestierend und verfluchte das Schicksal, bevor sie in Tränen ausbrach.
Jonas starrte sie hilflos an. Er hatte Jillian noch niemals weinen sehen. Was war nur passiert? Das konnte doch alles nicht wahr sein. Er wollte es nicht glauben, aber ihr Schmerz war so greifbar nahe, dass auch er langsam verstand. Als müsse er sie vor einem Absturz retten, zog er sie vom Bett herunter und riss sie an sich. Ihr Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, während sie sich wie eine Ertrinkende an ihn klammerte.
„Wie konnte das nur passieren? Wie konnte so etwas denn passieren?“
Jonas hörte aus den Worten nur Tränen und Schmerz heraus klingen. Er hielt Jillian weiterhin fest und sprach leise und beruhigend auf sie ein, während in ihm ein Vulkan tobte. „Es ist auf dem Nachhauseweg vom Kino passiert. Die Straße, auf der sie gefahren sind war noch nicht bestreut und spiegelglatt...“ Da Jillian keinen Mucks mehr von sich gab, außer ihr leises Schluchzen, nahm Jonas an, er solle weiter sprechen. „Der Wagen ist in einer Kurve ins Schleudern gekommen und gegen einen Baum geknallt. Jugendliche, die auf dem Heimweg von einer Party waren, haben sie gefunden. Sie haben gleich einen Krankenwagen gerufen, aber dein Vater war schon tot, deine Ma ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.“
Wieder erklang aus ihrem Mund ein hohes und klägliches Schluchzen. Jonas strich ihr über den Rücken. Ja, es tat weh. Er sah die beiden so klar vor sich, als stünden sie vor ihm.
„Und wenn...“ Jillian hatte Mühe zu sprechen, sie presste die Worte voller Anstrengung heraus: „Und, wenn es sich um eine Verwechslung handelt?“
Jonas hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde und er wünschte sich auch, dass er ihr die Hoffnung nicht wieder nehmen müsste. Sanft schüttelte er den Kopf und sagte dann: „Die Ärzte haben die Geldbörse deiner Mutter in ihrer Jackentasche gefunden... dort waren Passfotos von Tim und dir drin. Und eure Telefonnummer. Sie haben ihn sofort verständigt.“
„Tim!“ Jillian löste sich bei der Erinnerung an ihren Bruder von Jonas und sah ihm ins Gesicht. „Wo ist er?“
„Unten in der Küche. Meine Eltern sind bei ihm.“
„Ich will auch runter!“
„Bist du dir sicher?“ Jonas sah Jillian forschend an. Tränen rannen wie kleine Bäche ihre Wangen hinunter.
„Wenn du mitkommst, ja.“, antwortete sie.
Wortlos nickend stand Jonas auf, half dann Jillian hoch und stützte sie, als sie sein Zimmer verließen und die Stufen hinunter gingen.
Jonas focht einen innerlichen Kampf mit sich aus. Es fiel ihm schwer, so ruhig zu bleiben und nicht seinem eigenen Schmerz nachzugeben, aber er musste jetzt für Jillian da sein, musste für sie stark sein.
In Jillians Innerem wütete ein Orkan aus widersprüchlichen Gefühlen. Panik, Trauer, Hilflosigkeit, Wut, Unverständnis und unendliche Leere. Sie stellte sich vor, sie wäre doch mit ihren Eltern zusammen ins Kino gefahren und fragte sich für eine Sekunde, ob das nicht besser für sie gewesen wäre, als dieser unendlich tiefe Schmerz.