Am Strand von Destiny Beach
Jason schwamm aus Leibeskräften, und in weniger als einer halben Minute hatte er das Luftkissen erreicht, das leer und einsam auf den Wellen schaukelte. Er hielt an und sah sich suchend um. Von einem kleinen Jungen war weit und breit nichts zu sehen, das Meer bewegte sich ruhig im leichten Wind und ließ die Strahlen der untergehenden Sonne wie flüssiges Gold und Silber glitzern. Sie blendeten die Augen, und Jason blinzelte.
Prustend tauchte Tom neben ihm auf.
„Was ist? Siehst du ihn?“, fragte er atemlos.
Jason schüttelte den Kopf.
„Wir gehen runter!“, rief er und war schon zwischen den Wellen verschwunden.
Tom holte tief Luft und folgte ihm.
Sekunden verstrichen, die den am Strand wartenden Passanten und der Mutter des vermissten Jungen wie eine Ewigkeit erschienen.
Händeringend und mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen starrte die junge Frau hinaus aufs Meer, in der verzweifelten Hoffnung, irgendwo dort draußen ihren kleinen Jungen zu entdecken.
Die beiden Rettungsschwimmer tauchten auf, um Luft zu schöpfen und verschwanden gleich darauf erneut in den Fluten, die sich weiterhin im Licht der untergehenden Sonne spiegelten, als sei überhaupt nichts geschehen.
Auf dem Pier
„Toller Sonnenuntergang“, meinte der Unbekannte mit schleppender Stimme und ließ sich neben Alli auf die Bank fallen, nachdem er einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche genommen hatte, die in einer zerknitterten Papiertüte steckte.
Seine Figur wirkte gedrungen, und das abgetragene karierte Hemd spannte über seinem Bauch, während der Rest davon zerknautscht über dem Hosenbund seiner schmutzigen Jeans hing. Das dunkelblonde Haar wirkte struppig und ungepflegt und reichte ihm fast bis auf die Schultern. Sein Atem roch stark nach Alkohol.
„Willst du auch einen?“, fragte er, hielt ihr die Flasche hin und legte seine Hand auf ihr Knie. Angewidert schüttelte sie den Kopf und rückte beiseite.
„Lassen Sie mich in Ruhe! Dort drüben sind noch genügend freie Plätze“, meinte sie abweisend und deutete auf eine der leer stehenden Bänke.
„Bist dir wohl zu fein, mit mir zu trinken, was?“, provozierte sie der Mann weiter.
Alli beschloss, ihn einfach zu ignorieren. Sie wollte diesen phantastischen Sonnenuntergang genießen und weiter ungestört ihren Träumen nachhängen. Das jedoch passte dem Fremden überhaupt nicht. Er stand auf und knallte die Flasche wütend auf den Platz neben ihr. Geistesgegenwärtig fuhr Alli hoch und sprang einen Schritt beiseite.
„Verdammt, ich rede mit dir, Miststück!“, lallte ihr Gegenüber mit schwerer Zunge und hob drohend die Hand. „Antworte mir gefälligst, du…“
Weiter kam er nicht.
Eine eiserne Faust packte ihn am Hemdkragen und wirbelte ihn herum. Dabei stieß er ungeschickt an die Flasche, die daraufhin aus der Tüte kippte und scheppernd zu Boden fiel.
„Hey, was soll das, verdammt…“
„Die Lady möchte sich aber nicht mit dir unterhalten!“ unterbrach ihn eine Stimme in einem ruhigen, aber unmissverständlich drohenden Ton.
Zwei dunkle Augen funkelten ihn warnend an, und bevor er wusste wie ihm geschah, bekam er von seinem Angreifer einen derartig kräftigen Stoß gegen die Brust, dass er nur mit allergrößter Mühe das Gleichgewicht halten konnte.
„Was zum Geier…“, begann er, strauchelte, fing sich wieder und fixierte seinen Angreifer wütend, wobei er in seinem angetrunkenen Zustand Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Ein Blick auf die muskulösen Oberarme des jungen Mannes genügte jedoch, und sein alkoholumnebeltes Gehirn signalisierte ihm, dass es besser sei, den Rückzug anzutreten.
Hier war nichts zu machen.
„Na warte, Früchtchen, wir sehen uns wieder!“, knurrte er verstimmt, bückte sich ächzend nach seiner Flasche und schlurfte wankend und wüst vor sich hin fluchend davon.
Am Strand von Destiny Beach
Die Menschen, die vom Strand aus die dramatische Rettungsaktion verfolgten, hielten allesamt den Atem an.
Da endlich! Die beiden Lifeguards tauchten erneut auf und Jason hielt einen kleinen leblosen Körper in seinen Armen, den er zunächst mit Toms Hilfe auf das Luftkissen hob.
Ein erleichtertes Raunen ging durch die Menge.
Inzwischen waren die Einsatzkräfte vom Nachbarturm, die über Funk alarmiert worden waren, mit einem Rettungsboot zur Stelle. So schnell sie konnten nahmen die Teamkollegen die beiden Lifeguards mit dem verunglückten Jungen an Bord und fuhren mit aufheulendem Motor zurück an Land, eine Welle aufschäumenden Wassers wie ein breites weißes Band hinter sich herziehend.
Jason sprang als erster vom Boot.
„Machen Sie bitte Platz!“, rief er den Umstehenden zu, nahm den bewusstlosen Jungen auf seine Arme und bettete ihn auf ein Strandtuch, das jemand vorsorglich auf dem Boden ausgebreitet hatte.
„Mein Kind!“ Die junge Mutter sank außer sich vor Sorge neben ihrem Sohn auf die Knie. „Ist er tot?“, wimmerte sie mit zitternder Stimme, als sie sah, dass der Kleine sich nicht rührte.
Selina stand immer noch neben ihr und blickte mit angehaltenem Atem auf das schmale, bereits leicht bläulich verfärbte Gesicht des etwa Sechsjährigen.
„Treten Sie zurück!“, forderte Jason die Umstehenden erneut auf und beugte sich über den Jungen. Sofort begann er mit einer Herzdruckmassage, während Tom in regelmäßigen Abständen dazu eine Mund zu Mund Beatmung durchführte.
Die beiden arbeiteten professionell und ohne Pause.
„Wie heißt er, Ma`m?“, rief Jason zwischendurch.
„Kevin...“, erwiderte die junge Mutter mit tränenerstickter Stimme und umklammerte verzweifelt Selinas Hand. „Er heißt Kevin... Oh mein Gott, bitte helfen Sie ihm!“
Von weitem war die Sirene des herannahenden Notarztwagens zu hören.
Geistesgegenwärtig drängte sich Selina durch die Menge der Umstehenden und winkte den Wagen heran.
In diesem Moment begann der Junge laut zu husten. Sein schmächtiger Körper bäumte sich auf, und er erbrach einen großen Schwall Wasser.
„Na also, da haben wir ihn ja wieder“, meinte Jason erleichtert und stützte den Oberkörper des Jungen, als dieser röchelnd nach Luft rang. „Willkommen zurück im Leben, Kevin!“
Auf dem Pier
Scheinbar unbeeindruckt hatte sich Alli wieder hingesetzt. Sie blinzelte ihren „Retter“ gegen das Licht der untergehenden Sonne prüfend an.
„Ähm... Jack Christopher... richtig?“
Er nickte und setzte sich neben sie.
„Richtig... Allison Unbekannt!“
„Alli“, verbesserte sie und deutete auf den über den Pier davontorkelnden Mann. „Was sollte denn dieser Auftritt eben? Was erhoffst du dir davon?“
Jack musterte sie erstaunt.
„Wie wär`s mit... Danke?“
Sie hob belustigt die Augenbrauen.
„Und wofür? Mit dem Typen wäre ich auch allein fertiggeworden.“ Sie wies auf die Brandung tief unten rund um das Ende des Piers. „Ich... und ein bis zwei Rettungsschwimmer!“
Jack lachte und lehnte sich lässig zurück, während er sie abschätzend von der Seite betrachtete. Ihre Augen faszinierten ihn, aber das war es nicht allein. Sie hatte so etwas an sich, Stärke und zugleich Verletzlichkeit, er konnte es nicht deuten, aber es gefiel ihm. Sehr sogar.
„Na klar doch! Ich kann die Szene buchstäblich vor mir sehen“, meinte er gespielt ernst und kniff sie leicht in den Oberarm. „Zeig mal deine Muskeln!“
„Lass das!“ Unwillig schlug sie seine Hand weg und stand auf. „Es sind nicht immer die Muskeln, auf die es ankommt.“
„Hey, nun lauf doch nicht gleich wieder davon!“ Mit zwei Schritten war Jack an ihrer Seite. „Es kann doch kein Zufall sein, dass wir uns hier erneut getroffen haben, findest du nicht auch?“ Er bemerkte ihren skeptischen Blick und lächelte. „Weißt du, Alli, eine der Legenden rund um Destiny Beach besagt...“
„Ich weiß, was die Legende besagt“, fiel sie ihm unwirsch ins Wort. „Du kannst dir also deinen Vortrag sparen.“
„Okay“, nickte er zufrieden. „Dann weißt du ja auch, dass ich derjenige bin, der von nun an dein Schicksal ist!“
„Du?“, fragte Alli erstaunt.
Er grinste.
„Tja... Wie war das doch gleich: Tag und Nacht, die letzten Strahlen der Sonne, ohne Zweifel, es passt alles ganz perfekt. Dann komme ich ins Spiel, immerhin bin ich der erste Mensch, der dir am Ende des Piers begegnet ist“
„Das warst aber nicht du, das war dieser, dieser...“, widersprach sie und wies angewidert in die Richtung, in die der Betrunkene verschwunden war.
„Oh nein, der zählt nicht, der war nicht mehr ganz beisammen“, widersprach Jack schnell und trat näher an sie heran. „Es sei denn, du möchtest ihn unbedingt wiedersehen. Kann ja sein, du stehst auf solche Typen!“
Alli blinzelte ihn genervt an.
„Hör zu, Jack Christopher, du kannst dir deine Stadtlegenden ausdrucken und übers Bett hängen, wenn du willst, aber mich verschone bitte damit.“
Scheinbar ergeben hob er beide Hände, doch sein Lächeln blieb unverändert.
„Okay, schon verstanden. Und - hast du es dir überlegt?“
„Was überlegt?“
„Etwas länger in Destiny Beach zu bleiben.“
Sie zögerte kurz.
„Ich weiß nicht genau. Ein paar Tage vielleicht“, sagte sie vage.
„Schön“, meinte er, sichtlich erfreut über diese unverbindliche Zusage. „Ich hoffe, du hast schon eine Unterkunft gefunden? Wenn nicht, dann hätte ich...“
„Ich habe bereits etwas, danke“, schnitt sie ihm erneut das Wort ab. „Eine sehr nette Lady hat mir eine Adresse gegeben, wo ich vorübergehend übernachten kann, und dort werde ich jetzt hingehen.“
„Soll ich dich begleiten? Nur wegen der Legenden, man weiß ja nie!“
„Danke, nein.“
„Okay." Er zwinkerte ihr vertraulich zu. "Gute Nacht, Alli. Wir sehen uns.“
„Verlass dich besser nicht darauf.“
Zum zweiten Mal an diesem Tag ließ sie ihn stehen und ging davon.
Jack sah ihr nach.
„Natürlich sehen wir uns“, murmelte er zuversichtlich. „Da bin ich ziemlich sicher.“
Am Strand von Destiny Beach
Selina half der jungen Frau aufzustehen.
„Jetzt wird alles gut“, sagte sie beruhigend mit ihrer etwas rauchigen Stimme und registrierte, wie der gutaussehende dunkelhäutige Rettungsschwimmer erstaunt den Kopf hob. Ihre Blicke begegneten sich und sekundenlang, bevor er sich wieder dem Jungen zuwandte, der sich allmählich beruhigte und aufhörte zu husten.
„Bleib ganz ruhig liegen, Kevin, hab keine Angst.“ Er strich ihm das nasse Haar aus der Stirn und kontrollierte mit der anderen Hand sorgsam seinen Puls.
Ein Gefühl der Hochachtung überkam Selina. Hochachtung für diesen Mann, der so viel Energie ausstrahlte und doch gleichzeitig derart liebevoll und beruhigend auf das Kind einwirkte.
Mit einem letzten Aufheulen der Sirenen hielt der Krankenwagen.
Die herbeieilenden Sanitäter legten das Kind nach kurzen Instruktionen der Rettungsschwimmer vorsichtig auf eine Trage.
„Aber es geht ihm doch gut!“, rief die junge Mutter verzweifelt. „Warum nehmen Sie ihn denn jetzt mit?“
„Keine Sorge, Ma`m“, erwiderte Jason freundlich. „Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Immerhin wissen wir nicht genau, wie lange Ihr Sohn ohne Sauerstoff war. Er wird genau untersucht und geröntgt und muss sicher einen Tag zur Beobachtung in der Klinik bleiben. Aber Sie dürfen natürlich mitfahren.“
Die Frau wischte sich die Tränen vom Gesicht und nickte hastig. Eilig raffte sie ihre Strandtasche und die Laken zusammen. Bevor sie zu ihrem Sohn ins Auto stieg, drehte sie sich noch einmal zu dem Mann um, dem sie das Leben ihres Kindes zu verdanken hatte.
„Vielen Dank, Mister...“
„Jason“, erwiderte er mit einem Nicken. „Keine Ursache. Und lassen Sie ihn bitte nie wieder ohne Aufsicht mit dem Kissen ins Wasser!“
Nachdem der Krankentransport davongefahren war, drehte er sich um und suchte erneut Selinas Blick.
„Danke, dass Sie sich so nett um sie gekümmert haben. Sie war ja völlig außer sich.“
„Wundert Sie das?“, fragte sie mit ernster Miene. „Es ging schließlich um ihr Kind. Da war ihre Reaktion nur allzu verständlich, finde ich.“
Jason musterte sie einen Moment nachdenklich.
„Ja, Sie haben vermutlich recht“, meinte er dann zustimmend und reichte ihr spontan die Hand. „Ich bin Jason Stone.“
„Selina Wood“, erwiderte sie und bemerkte überrascht, dass er ihre Hand länger als nötig hielt. Etwas verlegen entzog sie sie ihm schließlich.
„Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen“, sagte sie schnell. „Ich muss jetzt los.“
„Ja, ich auch“, riss sich Jason ernüchtert durch ihre Reaktion aus seiner unverhohlenen Bewunderung. „Also dann, auf Wiedersehen!“
Er ging schnell davon und schalt sich bereits nach drei Schritten einen riesengroßen Esel, dass er sie so einfach hatte stehen lassen. Er drehte sich um und wollte noch etwas sagen, sie fragen, woher sie kam, und ob er sie vielleicht auf einen Drink einladen dürfte, doch Selina hatte sich bereits abgewandt und ging zielstrebig in die andere Richtung davon.
SUN CENTER
Als Jack ins sogenannte SUN CENTER zurückkehrte, das Strandhaus, dessen Name daher rührte, dass er es sich mit mehreren Bewohnern teilte, ging es dort längst nicht mehr so ruhig zu wie vorhin.
Jason und Tom stritten sich, wer von ihnen am heutigen Abend an der Reihe sei, das Abendessen zu bereiten. Jack, dem der Magen knurrte, bereinigte den Streit, indem er vorschlug, zur Abwechslung schnell ein paar Sandwiches bei LeAnn zu holen.
Später saßen sie einträchtig in der Küche zusammen und ließen es sich schmecken, als es plötzlich an der Tür läutete.
„Erwartet noch einer Besuch?“, fragte Jason mit vollem Mund.
„Keine Ahnung...“, Tom ging hinaus um zu öffnen und war ein paar Sekunden später zurück.
„Ihr werdet es nicht glauben, aber... Da ist eine junge Frau, die will zu Mister Bennett!“ Er zwinkerte Jack verheißungsvoll zu. „Ich vermute fast, wir bekommen eine neue Mitbewohnerin – und was für eine!“
Er machte der Dame Platz, die hinter ihm im Türrahmen erschien.
„Hallo zusammen“, hörte Jack eine helle Stimme, die ihm seltsam bekannt vorkam. „Die Lady vom Coffeeshop gab mir diese Adresse. Ich bin Allison Tyler, und ich wollte fragen, ob ich für eine Weile hier wohnen könnte...“
Sie brach erschrocken ab, als sie Jack am Tisch sitzen sah. Er schaute sie ebenfalls sekundenlang überrascht an, so als sähe er sie zum ersten Mal, doch dann lehnte er sich lässig zurück, und sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.
„Na, wen haben wir denn da? Wenn das kein Zufall ist! Ich habe doch geahnt, dass wir uns wiedersehen!“