Medical Center
Selinas erster Weg an diesem Morgen führte sie ins Medical Center. Sie musste unbedingt mit ihrem Verlobten sprechen und versuchen, diesen dummen Streit aus der Welt zu schaffen. Im Hotel hatte sie ihn nicht erreicht, dort wusste man nichts von einem Dr. Stevenson, also nahm sie an, dass er gestern direkt vom SUN CENTER aus in die Klinik gefahren war.
Am Empfangstresen lächelte ihr Schwester Lucy entgegen.
„Oh, guten Morgen, Selina! Es tut mir leid, aber Ihr Verlobter ist momentan leider nicht zu erreichen. Wir hatten vor zwei Stunden einen Notfall, der sofort operiert werden musste. Allerdings vermute ich, dass es nicht mehr lange dauern dürfte.“ Freundlich wies sie auf den nur ein paar Schritte entfernten Patienten-Wartebereich. „Wenn Sie einen Moment Platz nehmen würden, ich werde Dr. Stevenson sofort ausrufen lassen, sobald er abkömmlich ist.“
„Vielen Dank.“ Selina lächelte gequält und sah unschlüssig auf ihre Armbanduhr. Allzu viel Zeit hatte sie nicht, denn sie wollte unbedingt noch in der Redaktion vorbeischauen, bevor sie ihren Auftrag bei den Lifeguards weiterführte.
Während sie überlegte, wie sie sich verhalten sollte, betrat eine junge Frau eilig das Medical Center. Sie winkte Lucy im Vorübergehen kurz zu und war schon fast vorüber, als ihr Blick auf Selina fiel, die noch immer unschlüssig an der Seite stand. Sie stutzte und trat dann mit unverhohlener Neugier auf die junge Frau zu.
„Hi! Sie müssen Selina Wood sein“, meinte sie lächelnd und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin Aileen Ling, Nickis Kollegin.“
Erstaunt sah Selina auf und blickte in zwei dunkle, unergründliche Mandelaugen.
„Hallo“, erwiderte sie höflich und ergriff etwas zögernd Aileens dargebotene Hand. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Dr. Ling.“
„Bitte nennen sie mich Aileen.“ Die junge Ärztin lächelte gewinnend und wandte sich kurz an Lucy. „Ist er da?“
„Noch im OP. Ein Notfall“, gab diese Auskunft.
„Okay“, nickte Aileen und nahm Selina vertrauensvoll am Arm. „Kommen Sie, meine Liebe, Sie können im Ärztezimmer auf ihn warten. Ich werde mich nur rasch umziehen, dann trinken wir einen Kaffee zusammen.“
„Ich... ich habe eigentlich gar keine Zeit mehr“, warf Selina ein, doch Aileen zog sie einfach mit sich fort.
„Es wird bestimmt nicht lange dauern.“
CEC Corporation
„Irgendetwas stimmt in den letzten Tagen nicht mit David.“
Alli lief unruhig im Security-Büro auf und ab.
„Wie meinst du das?“, fragte Jack so arglos wie nur möglich, setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches und beobachtete sie gespannt.
Alli blieb stehen und sah ihn an.
„Du hattest doch auch den Eindruck, dass er seine Kate nahezu vergöttert?“
Er nickte mit erstaunter Miene.
„Natürlich! Das ist kaum zu übersehen. Aber warum fragst du?“
„Nun, allzu weit kann es mit dieser großen Liebe nicht her sein, fürchte ich.“ Sie zog den Notizzettel, den sie vorhin zwischen den Unterlagen gefunden hatte, aus ihrer Jackentasche und reichte ihn Jack. Interessiert las er und blickte Alli dann etwas irritiert an.
„Treffen mit Renee? Bist du sicher, dass David das geschrieben hat?“
„Ich bin mir momentan über gar nichts mehr sicher. Hier...“ Sie holte einen weiteren Zettel hervor.
„Bitte Mister Cordnay anrufen und für Dienstag einen Termin vereinbaren, möglichst am Vormittag“, stand darauf.
„Den hat David mir vor zwei Wochen geschrieben, das waren Anweisungen für mich, als er geschäftlich unterwegs war. Und letzten Freitag dann der hier...“ Ein weiterer Notizzettel kam zum Vorschein. „Allison Schätzchen, bin heute leider erst am Nachmittag zurück. Hoffe, wir sehen uns noch.“
Jack zog die Stirn in Falten und sah Alli fragend an.
„Flirtet er wieder mit dir?“
„Wieder? Wohl eher immer noch“, konterte Alli und warf ihm einen prüfenden Blick zu. „Aber davon rede ich jetzt eigentlich gar nicht.“ Sie trat an seine Seite und wies auf die beiden letzten Zettel mit den dienstlichen Anweisungen an sie. „Vergleich die Schrift. Fällt dir gar nichts auf?“
Jack nickte. Was sollte er auch tun, es war offensichtlich. Etwas, was Dylan trotz aller Vorsicht anscheinend leider nicht bedacht hatte.
„Vielleicht war er bei der einen Nachricht in Eile“, meinte er und kam sich dabei total idiotisch vor.
„Okay, das wäre eine Erklärung, wenn auch eine schlechte“, erwiderte Alli sarkastisch. „Der Ärmste war anscheinend in den letzten Tagen so sehr in Eile, dass er kein einziges der Dokumente, die ich ihm zur Unterschrift vorgelegt habe, unterzeichnet hat.“ Sie zögerte kurz und sah Jack dann prüfend an. „Ich kenne David erst kurze Zeit. Du dagegen bist sein bester Freund. Und da willst du mir erzählen, du hättest nicht bemerkt, wie er sich verändert hat? Jack... Was ist hier los?“
Betreten schwieg er und nagte nervös an seiner Unterlippe.
Sie hatten wirklich an alles gedacht, aber Alli hatten sie dabei unterschätzt. Aus was auch immer für Gründen war sie stets sehr vorsichtig und verfügte darüber hinaus über eine bemerkenswert gute Beobachtungsgabe. Zudem war sie äußerst intelligent. Er konnte sie nicht mit irgendwelchen dummen Sprüchen abspeisen. Und was noch viel wichtiger war, er wollte sie nicht belügen.
„Alli, setz dich bitte“, forderte er sie mit ernstem Gesicht auf.
Erstaunt kam sie seinem Wunsch nach und ließ sich wortlos nieder.
„Du hast Recht“, begann er zögernd, während er vor ihr auf der Schreibtischkante sitzenblieb. „David ist im Augenblick nicht der, für den du ihn hältst. Mehr darf ich dir momentan leider nicht sagen, jedenfalls nicht, bevor ich mit ihm gesprochen habe. Es tut mir leid, aber ich denke, du weißt, was es heißt, ein Geheimnis für sich zu behalten.“
Zu seinem Erstaunen nickte sie widerspruchslos.
„Oh ja, das weiß ich.“
„Schön, dann bitte ich dich, mit niemandem über das, was wir eben hier besprochen haben, zu reden. Ich werde mit David sprechen, und ich denke, bereits heute Abend kann ich dir alles erklären.“ Er reichte ihr die Zettel. „Die hier solltest du zur Sicherheit vernichten.“
„Okay.“ Alli erhob sich. „Dann werde ich jetzt besser wieder nach oben gehen, bevor mich jemand vermisst.“
Jack griff nach ihrer Hand und zog sie zu sich heran.
„Du bist nicht nur schön, sondern auch klug. Eine Kombination, die mich total anmacht“, flüsterte er und küsste sie leidenschaftlich. Sie erwiderte seinen Kuss, löste sich dann jedoch sanft aus seiner Umarmung.
„Da wäre noch etwas, Jack.“
„Ja?“
„Es gibt doch hier im Haus mehrere Überwachungskameras."
„Allerdings. Mehr als genug, wenn du mich fragst."
„Es geht um die Kameras in der Empfangshalle. Sind sie immer aktiv?"
„Natürlich."
„Könnte ich mir gelegentlich die Aufzeichnungen von Freitagmittag mal ansehen?“
Er nickte, wenn auch nicht ohne Erstaunen.
„Klar. Und was genau interessiert dich?“
Sie hob bedeutungsvoll die Augenbrauen und lächelte.
„Tja, wie sagtest du eben so treffend: Ich glaube, du weißt, was es heißt, ein Geheimnis für sich zu behalten.“
Jack hob resigniert die Hände und lachte.
„Okay, ich habe schon verstanden. Ich bringe dir den Stick mit den Aufzeichnungen nachher ins Büro.“
Nachdenklich sah er ihr nach, als sie den Raum verließ.
Dann griff er zum Telefon.
Medical Center
Zögernd folgte Selina Aileen den Flur entlang. Sie betrachtete die junge Frau heimlich von der Seite.
Das war also Jacks ehemalige Freundin! Aileen Ling war eine Schönheit, superschlank, sehr zierlich, mit langem schwarzem Haar, das ihr seidig glänzend über die schmalen Schultern fiel. Exotisch, undurchsichtig, unberechenbar… Das waren die Worte, die Selina bei ihren Beobachtungen spontan einfielen, und irgendwo in ihrem Kopf schien ein unbekanntes Signal auf „Alarm“ zu stehen.
Vorsicht!
Aileen hielt ihr lächelnd die Tür zum Ärztezimmer auf und ließ sie eintreten.
„Machen Sie es sich bequem.“
Selina nahm Platz und schalt sich in Gedanken dumm und überempfindlich. Sicher war Nicks Kollegin von Natur aus einfach nur freundlich. Trotzdem nahm sie sich vor, ihr gegenüber wachsam zu sein. Immerhin hatte sie sich bisher immer auf ihre gute Menschenkenntnis verlassen können.
„Nick erwähnte, dass Sie als seine Vertretung hier sind, solange er auf dem Kongress sein würde?“, fragte sie spontan.
„Ja, das stimmt“, erwiderte Aileen, zog ihren teuer aussehenden hellen Blazer aus, warf ihn achtlos über die Stuhllehne und nahm ihren Arztkittel vom Haken. „Allerdings haben sich die Dinge inzwischen etwas anders entwickelt. Hier in der Klinik wird dringend noch ein Arzt gebraucht, und da habe ich mich entschlossen, etwas länger zu bleiben. Ich war immer sehr gern in Destiny Beach, denn es gefällt mir hier wirklich gut.“ Sie trat zur Kaffeemaschine und füllte zwei Tassen. „Milch und Zucker?“
Selina schüttelte den Kopf.
„Danke, ich trinke ihn schwarz.“
Aileen reichte ihr eine Tasse und nahm gegenüber Platz.
„Unter uns gesagt, habe ich schon tausendmal bereut, dass ich damals diese Stelle hier aufgegeben habe. In San Francisco hat es mir überhaupt nicht gefallen. Aber wie sagt man so schön: Jeder sollte eine zweite Chance im Leben bekommen.“
Selina nickte beifällig.
`Bei Jack wirst du keine zweite Chance bekommen`, dachte sie und nippte verbindlich lächelnd an ihrem Kaffee.
„Nicki hat mir erzählt, dass Sie Reporterin von Beruf sind“, plauderte Aileen scheinbar unbefangen weiter und wies auf die Kamera, die Selina bei sich trug. „Ein wahnsinnig interessanter Beruf.“
„Ein Beruf, wie jeder andere, mit schönen und weniger schönen Seiten.“
„Darf ich fragen, woran Sie momentan arbeiten? Oder ist das geheim?“, forschte die Ärztin neugierig.
„Ich beobachte die Lifeguards bei ihrer Arbeit. Der SENTINEL will darüber eine ganze Serie herausbringen“, erwiderte Selina.
„Oh, das ist interessant!“, rief Aileen begeistert. „Haben Sie schon viele Fotos gemacht?“
„Ja, eine ganze Menge.“
„Dürfte ich sie sehen? Das wäre toll!“
„Klar, wenn Sie möchten.“ Selina wies auf den PC, der auf dem Schreibtisch stand. „Wir schließen die Kamera hier an, dann können Sie die Fotos sofort anschauen. Das heißt, wenn Sie so viel Zeit haben.“
„Natürlich, gerne“, rief Aileen bereitwillig. „Ich bin nämlich selbst begeisterte Hobby-Fotografin, müssen Sie wissen.“
Selina holte das benötigte Kabel aus ihrer Umhängetasche, erhob sich und schloss die Digitalkamera an den PC an.
Interessiert betrachtete Aileen die Bilder, die während der Arbeit der Lifeguards am Strand entstanden waren.
„Die sind wirklich schön geworden“, meinte sie anerkennend. „Sie haben großes Talent, Selina! Oh... sehen Sie nur, dieser fantastische Sonnenuntergang...“ Sie machte eine unbedachte Bewegung und stieß Selina dabei versehentlich an, so dass diese sich mit ihrem Kaffee bekleckerte.
Entsetzt sprang die junge Ärztin auf.
„Oh, wie ungeschickt von mir, das tut mir leid!“
Selina hob lächelnd die Hände.
„Kein Problem, Aileen. Wirklich nicht. Zeigen Sie mir nur, wo der Waschraum ist, ich werde den Fleck schnell auswaschen. Sie können sich in der Zeit die Fotos zu Ende ansehen.“
Als sie das Zimmer verlassen hatte, verschwand das liebenswürdige Lächeln von Aileens Gesicht. Sie setzte sich eilig an den PC und machte sich kurz daran zu schaffen.
„Perfekt!“, murmelte sie und drückte die Enter-Taste.
„Die Fotos sind einfach wundervoll. So natürlich und voller Leben“, schwärmte sie, als Selina nach zwei Minuten aus dem Waschraum zurückkam. „Ich bin sicher, wenn Ihre Artikel dazu nur halb so gut sind, dann wird diese Serie ein voller Erfolg.“
„Danke“, lächelte Selina und blickte besorgt zur Uhr. „Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich kann nicht länger auf Nick warten“, meinte sie bedauernd und packte ihre Kamera wieder ein. „Würden Sie ihm bitte sagen, dass ich hier war und ihn später anrufen werde?“
„Aber natürlich, meine Liebe.“ Aileen begleitete sie zur Tür und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Ich wette, Nicki wird sich mächtig ärgern, wenn er erfährt, dass er Sie verpasst hat!“
`Ich bin sicher, „Nicki“ ärgert sich noch über ganz andere Sachen`, dachte Selina mit einem Anflug von Argwohn, als sie die Klinik verließ, `Vor allem über so eine vertraulich klingende, plumpe Abwandlung seines so geschätzten Vornamens!`
Medical Center
„Selina war hier?“ Nick zog erstaunt die Augenbrauen zusammen. „Was wollte sie denn?“
Aileen thronte mit übergeschlagenen Beinen auf der Kante ihres Schreibtisches und wippte mit ihrem Fuß.
„Glaubst du vielleicht, deine Verlobte bindet mir fünf Minuten, nachdem wir uns kennengelernt haben, bereits eure intimsten Geheimnisse auf die Nase?“ Sie sah den Unmut in seinem Gesicht und lächelte versöhnlich. „Ich nehme an, sie wollte mit dir über gestern Abend reden.“
„Da gibt es nichts zu reden“, brummte er beleidigt. „Sie weiß, was sie zu tun hat, damit sich alles wieder einrenkt.“
„Und was gedenkst du bis dahin tun?“, fragte Aileen schnippisch. „In der Klinik wohnen? Oder etwa bei mir im DESTINY INN?“
„Das DESTINY INN hat ja schließlich noch mehr Zimmer“, erwiderte er gereizt. „Außerdem wirst du dir sowieso etwas Neues suchen müssen, wenn du vor hast, länger hier in der Stadt zu bleiben.“
„Nun“ Sie hob gespielt gleichgültig die Schultern. „Vielleicht ziehe ich sogar wieder ins SUN CENTER. Immerhin ist ja dort seit gestern Abend ein Zimmer frei!“ Sie bemerkte seinen drohenden Blick und lachte. „Mein Gott, Nicki, entspann dich, das war doch nur ein Scherz!“ Sie rutschte von der Schreibtischkante und blickte ihn herausfordernd an. „Im Übrigen habe ich da so eine Idee, was unser kleines Problemchen betrifft.“
„Darf ich fragen, wovon du sprichst, Aileen?“
„Von dir und mir, und von unserem verhinderten Liebesleben mit unseren Wunschpartnern. Wovon denn sonst!“
„Und… Was hast du vor?“
Sie lächelte geheimnisvoll und strich dabei mit den Fingern über die Tastatur des PC, ohne Nick dabei aus den Augen zu lassen.
„Das lass vorläufig meine Sorge sein, Nicki. Mir fällt schon etwas ein, verlass dich drauf.“ Mit einer geübten Bewegung warf sie ihr langes Haar zurück. „Ich lasse es dich wissen, wenn ich deine Hilfe brauche. Das könnte schon sehr bald der Fall sein.“
Nick straffte die Schultern.
„Gut. Je eher, desto besser. Ich verlasse mich auf dich. So, ich muss wieder an die Arbeit.“ Er ging zur Tür und drehte sich dann noch einmal zu ihr um. „Ach übrigens, Aileen... nenn mich bitte nie wieder Nicki.“