SENTINEL
Auch den darauffolgenden Tag sollte Selina wieder im Archiv des SENTINEL verbringen.
„Gibt es denn wirklich nichts Wichtigeres für mich zu tun als diesen alten, eingestaubten Kram zu sortieren?“, wandte sie sich verärgert an Dave Sullivan, der sich, nachdem alle anderen Mitarbeiter sein Büro nach der alltäglichen morgendlichen Besprechung bereits verlassen hatten, geschäftig durch einen beträchtlichen Stapel Papiere wühlte.
„Etwas Wichtigeres?“ Er hielt mitten in seiner Bewegung inne und blickte ungläubig auf. „Glauben Sie, dass die Arbeit im Archiv nicht wichtig ist?“
„Ja... Nein...“ Selina biss sich auf die Lippen. „Ich meine, vielleicht sollte das jemand tun, der... na ja, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, etwas weniger qualifiziert ist.“
Sie fing sich einen höchst missbilligenden Blick ihres neuen Chefs ein und befürchtete zu Recht, durch ihre Offenheit soeben gehörig ins Fettnäpfchen getreten zu sein.
„Ich will damit nur sagen, vielleicht könnte ich ja über irgendeine Sache schreiben, oder ich könnte zum Beispiel den Kollegen vertreten, der sich heute Morgen krank gemeldet hat!“
„Roger?“ Sullivan lehnte sich in gespielter Überraschung zurück, wippte ungeduldig mit seinem Stuhl und spielte gereizt mit dem Stift in seiner Hand. „Sie wollen allen Ernstes Roger vertreten? Soll ich Ihnen verraten, was Ihr werter Kollege dazu sagen würde, meine Liebe? Er würde Ihnen wahrscheinlich höchstpersönlich den Hals umdrehen, wenn Sie auch nur daran denken, in seinen Unterlagen herumzuwühlen!“
Bevor Selina etwas erwidern konnte, beugte sich der Chefredakteur wieder nach vorn, warf seinen Stift auf den Tisch und zog die Stirn in Falten, während er seine neue Mitarbeiterin mit unverhohlener Missbilligung musterte.
„Das ist heute Ihr zweiter Arbeitstag, und Sie wollen gleich die Welt einreißen? Lassen Sie sich eines gesagt sein, junge Dame: bei uns bestimmt Mister Carrington die Richtlinien, das war schon immer so, und das wird auch so bleiben. Und wenn er meint, Sie sollten die erste Zeit Akten sortieren, dann tun Sie das gefälligst. Insofern sie den Job hier behalten wollen!“
Selina biss die Zähne zusammen und würgte die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, schnell hinunter.
Sullivan grinste verhalten. So war es gut. Aufmüpfigkeit kam hier gar nicht gut an, und ein Übermaß an Eigeninitiative war ebenso fehl am Platze. Je eher das diese Großstadtreporterin begreifen würde, desto besser.
„Nun sehen Sie es doch mal positiv, meine Liebe“, lenkte er etwas versöhnlicher ein. „Im Grunde genommen sollten Sie froh darüber sein, dass ich Ihnen die Zeit gebe, sich ganz in Ruhe einzuarbeiten.“
„Ja aber, die Konkurrenz schläft nicht“, versuchte Selina einen letzten, halbherzigen Einwand.
Sullivan lachte.
„Welche Konkurrenz? Kindchen, in dieser Stadt haben wir so etwas nicht, zumindest nicht so, wie Sie das gewohnt waren von... Woher kommen Sie doch gleich nochmal?“
„Chicago“, knurrte Selina genervt. Nicht einmal das hatte sich dieser Kerl gemerkt.
„Nun ja, Chicago.“ Sullivan lächelte versonnen, als handle es sich um ein fernes Märchenland. „Klar, da gibt es jede Menge Konkurrenzkampf. Die Reporter fressen sich untereinander auf. Kein gesundes Arbeitsklima. Hier läuft das etwas anders. Der SENTINEL ist die einzige Tageszeitung für Destiny Beach und Surf Side. Die Leute lieben unser Blatt, und das ist gut so. Bei uns geht es zwar mitunter auch hektisch zu, aber alles in allem sind wir ein gutes Team. Also...“ Er stand auf, nahm sie bei ihrem Arm und geleitete sie mit Nachdruck zur Tür. „Genießen Sie die Arbeit im Archiv, bringen Sie dort alles auf Vordermann, so dass man in Zukunft auch findet, wonach man sucht, und ich kann Ihnen versichern, sobald Mister Carrington der Meinung ist, dass Sie beginnen sollten, zu irgendeinem bestimmten Thema zu recherchieren und zu schreiben, dann wird er mich das wissen lassen. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.“
Er erwartete keine Antwort, das Gespräch war für ihn beendet. Die Bürotür fiel geräuschvoll hinter Selina ins Schloss.
Medical Center
Jack durchquerte den Eingangsbereich des Medical Center und trat an den Tresen.
„Hallo Lucy“, grüßte er die rothaarige, etwas mollige Krankenschwester, die sich ihm sogleich freundlich lächelnd zuwandte. Sie kannten sich bereits seit ihrer gemeinsamen Zeit auf dem College. Lucy hatte damals kein Hehl daraus gemacht, wie sehr sie für Jack Bennett schwärmte, doch zu ihrem Leidwesen taten das außer ihr noch eine beachtliche Menge anderer Mädels in ihrem Alter. Inzwischen war sie jedoch glücklich verheiratet und Mutter einer entzückenden dreijährigen Tochter, und aus ihrer einstigen Schwärmerei war eine freundschaftliche Sympathie geworden, die auf Gegenseitigkeit beruhte.
„Hi Jack! Was führt dich denn her? Du machst doch für gewöhnlich einen großen Bogen um Kliniken und Arztpraxen.“
Lachend zwinkerte er ihr zu.
„Ich wollte mal sehen, wie es meiner Lieblings-Krankenschwester geht.“
Sie verzog das Gesicht.
„Ha ha! Jahre zu spät, mein Freund!“
Jack hob gespielt traurig die Schultern.
„Wie heißt es immer so schön: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wie geht es der Kleinen?“
„Sie hält ihre Mum und ihren Dad mächtig auf Trapp, das kannst du mir glauben.“
„Kinder sind doch etwas Schönes“, grinste Jack, beugte sich über den Tresen und schielte interessiert nach Lucys Bestellliste. „Ich habe um 11 Uhr einen Termin bei Dr. Finn. Jährlicher Gesundheits- Check im Auftrag der Firma.“
Lucy nickte.
„Kannst gleich reingehen. Sprechzimmer 2.“
„Du bist ein Schatz!“ Jack warf ihr im Davongehen eine Kusshand zu, die sie mit einem schelmischen Lächeln beantwortete. „Dr. Finns Vertretung wird sich freuen, dich zu sehen.“
Aber diesen letzten Satz hatte er schon gar nicht mehr gehört.
Jack klopfte an die Tür des Sprechzimmers und trat ein. Lucy folgte ihm auf dem Fuße und legte seine Akte auf den Schreibtisch des Arztes.
„Bitte gedulde dich einen Moment. Gleich geht es los. Mach bitte schon mal den Oberkörper frei und leg dich dort drüben auf die Liege“, ordnete sie an und verließ den Raum kurz darauf wieder.
Jack seufzte und fügte sich in sein Schicksal. Diese Untersuchungen waren für ihn nichts als ein notwendiges Übel, das zu umgehen ihm bisher noch nicht gelungen war. Gehorsam begann er Lucys Anweisungen Folge zu leisten.
Er knöpfte sein Hemd auf, zog es aus und hing es über die Stuhllehne. Dann schwang er sich auf die Liege und streckte die Beine aus.
Während er wartend an die weißgestrichene Decke des Ärztezimmers starrte, wanderten seine Gedanken sofort in eine bestimmte Richtung - Alli. Das passierte ihm in letzter Zeit immer öfter, dass er an sie dachte, sobald er auch nur eine Sekunde zur Ruhe kam. Heute konnte er es kaum erwarten, sie nach der Arbeit im SUN CENTER zu sehen. Er musste unbedingt mit ihr reden und den dummen Streit von gestern klären. Vor allem hatte er sich vorgenommen, ihr offen und ehrlich seine Gefühle zu offenbaren. Sie sollte endlich wissen, was er für sie empfand. Allerdings musste er dabei wohl etwas vorsichtiger als gestern vorgehen, er wollte sie schließlich nicht vertreiben.
`Ich werde ihr Blumen kaufen, am besten wilde Orchideen, die passen zu ihr, empfindsam, aber zugleich unbändig und exotisch`, dachte er und musste bei diesem poetischen Vergleich über sich selbst lachen. Er hörte sich wirklich schon schwer verliebt an! So wie David und seine Kate…
Sein versonnenes Lächeln verschwand bei dem Gedanken an David, und sein Gesicht wurde ernst. Besorgt warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Sobald er hier fertig war, würde er Daniel anrufen. Er war gespannt, ob Davids Bruder Neuigkeiten für ihn hatte. Und wenn ja, blieb abzuwarten, ob es Gute waren.
Hinter ihm klappte eine Tür.
Jack atmete auf. Na endlich war Dr. Finn da.
„Machen Sie`s kurz, Doc“, rief er von seiner Liege aus und richtete sich halb auf. „Ich bin gesund wie ein Pferd und werde dringend wieder in der Firma gebraucht.“
„Immer mit der Ruhe“, vernahm er eine helle Stimme, die ihm sehr bekannt vorkam. Der Vorhang wurde mit einem Ruck zur Seite geschoben. Eine kühle Hand legte sich auf seine Brust und drückte ihn energisch zurück auf die Liege.
„Jetzt gehörst du erst einmal mir!“
CEC Corporation
Die für diesen Vormittag angesetzte Vorstandsitzung in der CEC hatte, kurz nachdem der Inhaber von Globle Inc., Mister Jonathan Hunter, eingetroffen war, begonnen. David Edwards strebte eine Fusion der CEC mit dieser vielversprechenden Firma an und war bereit, dafür einiges an Firmenkapital zu investieren. Dazu hatte er auch Jeff Cabott, den Sohn des kürzlich auf mysteriöse Weise tödlich verunglückten ehemaligen Teilhabers Jonathan Cabott eingeladen. Jeff kannte sich in der Immobilienbranche gut aus und vertrat die Interessen seines toten Vaters in gewissen geschäftlichen Dingen, was bei George Carrington ganz offensichtlich auf wenig Gegenliebe stieß.
Alli wäre gerne mit dabei gewesen, um mehr über die Firma zu erfahren, für die sie seit kurzem arbeitete, aber zu ihrem Erstaunen war David bisher nicht aufgetaucht, obwohl er ihr kürzlich angedeutet hatte, dass diese Sitzung von größter Wichtigkeit für die CEC sei.
George, der vor einer Stunde eingetroffen war, hatte ihr auf knappe und irgendwie sarkastisch anmutende Weise mitgeteilt, dass ihr Boss heute nicht anwesend sein würde. Dem zu Folge blieben die Türen zum Konferenzraum für sie als Davids persönliche Assistentin ebenfalls verschlossen.
Notgedrungen konzentrierte sie sich weiter auf ihre Schreibarbeit, die reichlich vorhanden war.
Sie blickte auf, als sie kurz darauf das Geräusch der sich öffnenden Fahrstuhltür vernahm und entdeckte zu ihrer Überraschung, dass ihr Arbeitgeber soeben den Raum betreten hatte.
„David!“, rief sie erstaunt. „Ich hatte Sie heute gar nicht hier erwartet.“
Er blieb vor ihrem Schreibtisch stehen und zog etwas irritiert die Stirn in Falten.
„Nein?“
„Na ja, ich habe mich zwar gewundert, dass Sie nicht an der Vorstandssitzung teilnehmen wollen, aber Mister Carrington meinte, Sie hätten sich ein paar Tage frei genommen.“
David atmete tief durch und nickte dann.
„Tja, dann scheint der gute George anscheinend etwas falsch verstanden zu haben.“ Er zwinkerte seiner Assistentin verschwörerisch zu und deutete hinüber auf die Tür, hinter der die Versammlung vor ein paar Minuten begonnen hatte. „Wir sind spät dran. Folgen Sie mir in die Höhle des Löwen, Allison?“
Sie stand lachend auf und griff nach ihrem Notebook.
„Aber gerne. Gehen wir!“
Medical Center
Dr. Aileen Ling sah mit dem ihr eigenen, unergründlichen Lächeln auf ihren Patienten herab.
„Was machst du denn hier?“, fragte Jack sichtlich verblüfft. „Für diese Untersuchungen ist doch Dr. Finn immer zuständig.“
„Ich weiß“, erwiderte Aileen, griff nach ihrem Stethoskop und ließ sich neben Jack auf der Kante der Liege nieder. „Aber er ist nicht da, und ich bin seine Vertretung. So, dann wollen wir mal. Tief Luft holen!“
„Hör mal, Aileen“, versuchte Jack, dem die Sache etwas peinlich war, einzuwenden. „Wir sollten das Ganze verschieben, bis der Doc wieder zurück ist.“
Aileens dunkle Mandelaugen blitzten belustigt auf.
„Wir werden gar nichts verschieben, mein Lieber. Entspann dich, Supermann, ich werde dir sicher nicht wehtun.“
„Jedenfalls nicht mehr, als du es ohnehin schon getan hast“, erwiderte Jack sarkastisch und ließ sich auf die Liege zurückfallen. Als er sah, dass sie etwas erwidern wollte, schüttelte er entschieden den Kopf.
„Lass gut sein. Am besten wir bringen diese Untersuchung schnell hinter uns. Ich habe noch einen wichtigen Termin.“
Aileen hob seufzend die Schultern und begann, routinemäßig seine Herztöne abzuhören, drückte eine Weile auf seinem Bauch herum, fragte, ob er Schmerzen verspüre und ließ ihre Hände dann plötzlich langsam und sanft nach oben wandern. Dabei musterte sie ihn unverwandt mit diesem verklärten Lächeln, an das Jack sich nur allzu gut erinnern konnte. Oh nein, er vermochte in diesem Augenblick nicht zu leugnen, dass es ihm nach wie vor unter die Haut ging, wenn sie ihn so ansah.
„Aileen“, warnte er und hielt spontan ihre Hand fest. „Lass das, und erzähl mir nicht, das dies neuerdings zum Programm gehört.“
Sie lächelte unbeirrt weiter, beugte sich plötzlich wortlos hinunter und küsste ihn. Dem ersten Impuls folgend öffnete er die Lippen und wollte ihren Kuss erwidern, wollte sich fallen lassen in diesen süßen Strudel der Gefühle, von denen er geglaubt hatte, sie ein für alle Mal verloren zu haben.
Doch im nächsten Augenblick dachte er daran, was für Höllenqualen er erst vor ein paar Wochen ihretwegen erlitten hatte, als sie die Beziehung zu ihm beendete, um nach San Francisco zu gehen. Eiskalt hatte sie ihn in einem vernichtenden Gefühlschaos sitzen lassen.
Inzwischen war alles anders. Er war fertig mit Aileen Ling!
Abrupt schob er sie von sich und stand auf. Mit einer unwirschen Bewegung schob er den Vorhang beiseite und nahm sein Hemd von der Stuhllehne.
„Jack!“ Aileen erhob sich ebenfalls und trat hinter ihn. „Es tut mir leid, wenn ich dich damals verletzt habe. Ich konnte nicht anders, das weißt du. An dieser Klinik in San Francisco zu arbeiten, das war eine einmalige Chance für mich.“
„Und warum bist du dann wieder hier?“, fragte er und knöpfte sein Hemd zu, ohne sich umzudrehen. Sie legte sanft ihre Hände auf seine Schultern.
„Vielleicht habe ich endlich erkannt, dass mich die Arbeit allein nicht glücklich macht. Du fehlst mir.“
Er drehte sich um und trat einen Schritt zurück.
„Ein wenig spät, findest du nicht?“
„Was willst du damit sagen?“
Jack zwang sich ganz ruhig zu bleiben, aber seine blauen Augen funkelten wütend.
„Es war deine Entscheidung, unsere Beziehung zu beenden. Du hast nicht einmal danach gefragt, wie ich mich dabei gefühlt habe. Ich habe dich wirklich geliebt, Aileen. Aber das ist jetzt vorbei. Es hat wehgetan, doch ich habe es geschafft, darüber hinwegzukommen. Mit diesem Abschnitt meines Lebens habe ich abgeschlossen.“
„Das bin ich also für dich? Ein Abschnitt deines Lebens?“ Erbost straffte Aileen die Schultern. „Daran ist nur sie schuld.“
„Wen meinst du?“
„Diese Fremde“, zischte sie wütend. „Sie hat dich in ihren Krallen!“
„Alli hat nicht das Geringste mit uns zu tun. Im Gegenteil.“ Ein versonnenes Lächeln umspielte plötzlich seine Lippen. „Durch sie habe ich gelernt, das Leben wieder zu genießen. Jeden Tag, jede Stunde, ohne an morgen zu denken. Ich habe ihr viel zu verdanken.“
Aileens Augen wurden schmal.
„Liebst du sie?“
Jack sah seine Ex-Freundin sekundenlang stumm an.
„Ist die Untersuchung beendet, Dr. Ling?“, fragte er abweisend. Als sie nicht antwortete, nickte er verstehend. „Lucy soll mich anrufen, wenn Dr. Finn wieder da ist. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag.“
Aileen starrte noch immer noch auf die Tür, obwohl Jack sie schon längst hinter sich geschlossen hatte.
„Wir werden ja sehen, wer dir mehr bedeutet, diese dahergelaufene Fremde oder ich“, murmelte sie und ballte feindselig die Fäuste.
Strandpromenade
An diesem Tag ließ sich Alli auf dem Heimweg von der Arbeit Zeit. Sie musste erst einmal den Kopf freibekommen, bevor sie ins SUN CENTER gehen und dort auf Jack treffen würde. Es waren in den letzten Stunden einfach zu viele Dinge passiert, die sie pausenlos beschäftigten.
Da war diese Sache in der Firma heute…
Kurz nach Davids überraschendem Eintreffen war die Situation zwischen ihm und George Carrington regelrecht eskaliert.
Für sie selbst als Davids Assistentin hatte es den festen Anschein gehabt, als hätte George hundertprozentig mit Davids Abwesenheit gerechnet und diese dazu genutzt, um ein für die CEC äußerst wichtiges Geschäft mit dem eigens dafür anwesenden Mister Hunter von Globle Inc. absichtlich platzen zu lassen. Nie im Leben würde sie Georges fassungslosen Blick vergessen, als David den Konferenzraum betrat, just in dem Augenblick, als sein Teilhaber siegessicher verkündete, Mister Edwards habe seine Meinung bezüglich der CEC geändert, und es gäbe inzwischen andere Pläne für die Firma.
Es folgte ein lautstarker Streit zwischen den beiden Geschäftspartnern, der darin gipfelte, dass David George vor allen Anwesenden Korruption und firmenschädigende Machenschaften vorwarf und eine sofortige Änderung der Firmensatzung und damit eine Abstimmung über eine Neuverteilung der CEC-Anteile forderte. George hatte zunächst nur höhnisch gelacht und gemeint, dazu habe David kein Recht, doch das Lachen war ihm vergangen, als sein Partner ihm die dazu nötigen Paragraphen aus der eigenen Firmen- Geschäftsordnung zitierte.
Weiterhin hatte David die ebenfalls gesetzlich begründete Forderung deutlich gemacht, dass in jede künftige Firmenentscheidung auch Jeff Cabott als neuer gleichberechtigter Teilhaber mit einbezogen werden sollte.
Daraufhin hatte George gedroht, David werde diese Entscheidung ganz sicher noch bereuen und war wütend hinausgestürmt, gefolgt von einer fassungslosen Brenda, die von den gegenwärtigen Ereignissen völlig überfordert schien. George selbst hatte sich den ganzen Tag über nicht wieder in der Firma blicken lassen.
Alli war die folgenden Stunden damit beschäftigt gewesen, die Satzung gemeinsam mit David und einem eilig hinzugezogenen Notar entsprechend zu ändern und Jeff Cabott in Davids Anwesenheit als rechtmäßigen Firmenteilhaber einzutragen.
Die gegenwärtige Situation in der Firma selbst sah sie mit gemischten Gefühlen.
Einerseits war sie stolz auf ihren Boss, wie souverän und selbstbewusst er die brisante Situation heute gemeistert und seinen hinterhältigen Teilhaber mit dessen eigenen Waffen geschlagen hatte.
Andererseits war sie sicher, dass ein Mann wie George Carrington niemals kampflos aufgeben würde, wenn es um seine Interessen ging.
Und was David selbst betraf, so hatte er sich heute irgendwie eigenartig benommen. Wenn sie nicht überzeugt davon wäre, dass er total verliebt in Kate Simmons war, hätte sie schwören können, dass er ganz offensichtlich versucht hatte, mit ihr zu flirten. Als sein Bruder Daniel gegen Mittag im Büro erschien, hatte er sogar darauf bestanden, dass sie die beiden Brüder zum Mittagessen begleitete. Im Restaurant hatte er ihr ständig irgendwelche Komplimente gemacht, und es war ihr fast schon peinlich gewesen, wie er sie dabei ansah. Irgendwie wurde sie auch das Gefühl nicht los, dass Daniel das Benehmen seines Bruders ebenfalls nicht gefiel.
Aber nein, versuchte sie sich wiederholt einzureden, das konnte gar nicht sein. Sicher hatten ihr ihre eigenen überreizten Nerven nur einen Streich gespielt. David hatte sich durch seinen einstweiligen Sieg über George wahrscheinlich beflügelt gefühlt und war einfach nur freundlich gewesen. Basta!
Was sie außerdem noch beschäftigte, war der Streit mit Jack gestern Abend. Bisher hatte sie keine Gelegenheit gehabt, weiter darüber nachzudenken, doch nun war es an der Zeit, sich dem Problem stellen.
Alli seufzte und setzte sich auf eine Parkbank an der Strandpromenade. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick auf den sagenumwobenen Pier.
„Die Stadt der Liebe“ hatte LeAnn Destiny Beach genannt.
Alli lächelte. Es könnte alles so einfach sein.
Aber das war es nicht.
Nichts war einfach!
Und je mehr sie sich zu Jack hingezogen fühlte, umso schwieriger wurde die Situation. Sie merkte bereits, dass sie in bestimmten Situationen nicht mehr so vorsichtig auf ihre Sicherheit achtete, wie sie es hätte tun sollen. Das aber war gefährlich, denn sie wusste, dass ein falscher Schritt sie das Leben kosten konnte. Vor allem nach dem, was John ihr gesagt hatte.
John... Sie musste ihn unbedingt anrufen. Er war ihr Fels in der Brandung, er wusste immer, was zu tun war! Außerdem hatten sie verabredet, dass sie sich jeden zweiten Abend bei ihm melden würde.
Sie sah sich um. Nein, hier gab es weit und breit niemanden, der sie belauschen konnte.
Entschlossen griff sie nach ihrem Handy und wählte die Nummer, die nur sie allein kannte…