Auf den Klippen
Mit einem Taschenmesser, das sie aus ihrer Hosentasche hervorholte, durchtrennte sie den Gurt am Fahrersitz und zog den noch sehr jung aussehenden Mann unter größter Anstrengung, aber mit fachmännisch aussehendem Griff aus dem Unfallwagen.
Nachdem sie ihn unter Aufbietung aller Kraft ein Stück vom Wagen weggebracht hatte, legte sie ihn flach auf die Erde und öffnete sein Hemd, um die Vitalfunktionen genauer zu überprüfen. Puls und Atmung waren zwar schwach, aber deutlich vorhanden, und die Pupillen schienen ebenfalls nicht erweitert.
Alli lief zum hinteren Teil des noch immer bedrohlich qualmenden Wagens und öffnete den Kofferraum. Zu ihrer Erleichterung fand sie dort eine Decke und einen Erste- Hilfe- Kasten. Sie eilte zurück und lagerte mit Hilfe der Decke, die sie fest zusammenrollte, die Beine des Unfallopfers hoch, um seinen Kreislauf so schnell wie möglich zu stabilisieren. Dann zog sie das nötige Verbandsmaterial aus dem Sanitätskasten, streifte die darin befindlichen Einweghandschuhe über und begann zielbewusst mit der Versorgung der Kopfwunde.
Zwischendurch kontrollierte sie immer wieder den Puls des Verunfallten.
„Na los, nun kommt schon endlich“, murmelte sie angespannt, denn sie bemerkte, dass dieser deutlich schwächer wurde. Aber noch war er spürbar und das war entscheidend.
Als sie dann endlich nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, das Signal des Notdienstes aus der Ferne vernahm, atmete sie erleichtert auf.
So fanden sie die beiden Sanitäter, die den Krankenwagen am Unfallort stoppten und zu Hilfe eilten. Mit wenigen Worten schilderte Alli den Zustand des jungen Mannes.
Dann blickte sie sich erstaunt in Richtung Straße um.
„Habt ihr keinen Notarzt dabei?“
„Der kommt gleich nach“, erwiderte der ältere von beiden eilig und nickte Alli anerkennend zu. „Sie haben gute Arbeit geleistet, Lady!“
Während die Männer die weitere Versorgung des Unfallopfers übernahmen, trat Alli zur Seite, um sie nicht bei ihrer Arbeit zu stören, beobachtete jedoch das weitere Geschehen genau.
Der jüngere Sanitäter, offensichtlich ein Latino und kaum älter als der Verunglückte, wirkte sehr unsicher und blickte immer wieder fragend zu seinem Kollegen.
„Puls kaum noch spürbar!“, hörte ihn Alli sagen. „Blutdruck fällt.“
Der ältere, ein etwa Vierzigjähriger mit beginnender Stirnglatze, begann Brust und Bauch des Unfallopfers auf eventuelle Knochenbrüche abzutasten.
„Bauchtrauma“, stellte er fest und fügte mit einem Blick auf den Jüngeren erklärend hinzu: „Der Bauch ist bretthart. Muss nachher dringend geröntgt werden.“
„Blutdruck fällt weiter“, ließ sich der Mexikaner wieder vernehmen. Panik klang in seiner Stimme. „Ich hätte nicht mitkommen sollen, ich bin noch nicht soweit!“
„Ganz ruhig, Junge“, erwiderte der Ältere und kontrollierte nun seinerseits Kreislauf und Pupillen des bewusstlosen Mannes. „Halt einfach die Klappe und tu, was ich dir sage.“
Alli biss sich auf die Lippen und warf einen Blick auf das Blutdruckmessgerät.
„Solltet Ihr nicht sicherheitshalber eine Infusion legen, bevor er in einen Schock fällt?“
Die beiden Sanitäter hielten kurz inne und sahen Alli erstaunt an. Dann nickte der Ältere, wenn auch widerwillig.
„Wer oder was auch immer Sie sind, Lady, Sie haben recht.“ Er wandte sich an seinen jungen Kollegen: „Na los, tu was sie sagt! Ich hole zur Sicherheit den Defi aus dem Wagen!“
„Haben Sie das schon mal gemacht?“, fragte Alli den jungen Sanitäter, als sie sah, dass seine Hände zitterten.
Mit zusammengepressten Lippen schüttelte er den Kopf.
„Als Übung schon oft, aber nicht so. Ich bin heute zum ersten Mal mitgefahren. Es war niemand anderer da.“
Kurzentschlossen nahm ihm Alli die Kanüle aus der Hand und legte mit geübtem Griff die Infusion.
„Okay.“ Mit einem Seitenblick auf den anderen Sanitäter, der soeben zurückkam, raunte sie: „Das bleibt aber unter uns, verstanden?“
„Ja, klar!“ Der junge Mexikaner atmete sichtlich auf. „Danke.“
„Kontrollieren Sie weiter Herz und Kreislauf!“
Sie stand auf und trat wieder zurück, um dem älteren Sanitäter Platz zu machen.
Dieser ließ sich neben dem Unfallopfer nieder und überprüfte die Infusion.
„Na also, geht doch“, lobte er seinen jungen Kollegen. Sein zufriedenes Lächeln verschwand jedoch schlagartig, als der andere erschrocken aufblickte.
„Herzstillstand!“
Er riss ihm das Stethoskop aus der Hand und führte selbst eine Herzkontrolle durch. Mit einem Blick zu, der nichts Gutes verhieß, sah er Sekunden später auf.
„Verdammt! Wo zum Teufel bleibt der Doc?“
Am Strand
Jason führte Selina zum Lifeguards-Turm hinüber, wo eine junge Frau in der Uniform der Rettungsschwimmer eben begann, verschiedene Farbeimer neben eine große Sperrholzplatte auf einen Tisch zu stellen.
„Trisha, das ist Selina. Sie möchte uns gerne helfen“, stellte er seine Begleiterin vor.
Die junge Frau reichte ihr freundlich die Hand.
„Okay“, nickte sie zufrieden. „Du rettest meinen Tag, ich selbst bin nämlich völlig überfordert mit dieser Aufgabe. Ich hole dir etwas zum Anziehen, damit du dein vornehmes Kleid nicht bekleckerst, und Jason kann dir in der Zwischenzeit erklären, was zu tun ist.“
„Also dann.“ Jason wies auf die Sperrholzplatte, in der sich mehrere unterschiedlich große Löcher befanden. „Das wird eine Ballwand für die Kinder. Die Kleinen bekommen Bälle und müssen versuchen, diese durch die Öffnungen zu werfen. Und damit das nicht so langweilig aussieht, wollen wir die Platte bunt anmalen. Möchtest du... ähm...“ Er verbesserte sich schnell „...möchten Sie das übernehmen?“
Selina lachte fröhlich.
„Gerne, allerdings unter einer Bedingung!“
„Und die wäre?“
„Das wir beim „du“ bleiben!“
Er stutzte einen Augenblick und lächelte dann.
„Schön, aber dann sollten wir das nach altem Brauch besiegeln!“
„Was für einen alten Brauch denn?“, fragte sie etwas unsicher.
„Na diesen hier...“ Er trat dicht an sie heran und küsste sie sanft auf die Lippen, bevor er lächelnd erklärte: „Das tut man so in Destiny Beach. Jetzt dürfen wir für alle Zeiten „du“ zueinander sagen.“
Sprachlos sah Selina ihm nach, als er sich umdrehte und über die Treppe nach oben in sein Büro verschwand.
An der Tür wäre er fast mit Trisha zusammengeprallt. Diese lachte schelmisch.
„Interessant, Mister Stone”, meinte sie breit grinsend und kniff ihn kräftig in den muskulösen Oberarm. “Das ist also hier so Brauch? Eigenartig, mich hat keiner geküsst, als ich bei euch angefangen habe.“
„Mich auch nicht“, feixte Tom, der unbemerkt hinzugetreten war. „Aber wir sehen ja auch nicht annähernd so gut aus, wie dieses Model da unten!“ Mit einer diskreten Kopfbewegung wies er auf die unter dem Turm wartende Selina. „Kein Wunder, dass Jason jedes Mal zu sabbern fängt, wenn nur in der Nähe ist. Dabei war er nicht einmal der Erste, dem sie aufgefallen ist.“
„Halt die Klappe, Tom“, knurrte Jason und schloss unter dem Gelächter seiner Kollegen geräuschvoll die Bürotür hinter sich.
Medical Center
„Schnell, die Trage an den Eingang! Dr. Finn kommt mit dem Unfallopfer rein!“, wies Lucy die Pfleger ein, die herbeigeeilt kamen.
Dr. Nick Stevenson folgte ihnen unmittelbar nach.
„Was liegt an?“, fragte er gewohnheitsgemäß, als sich die Türen des Krankenwagens öffneten und der Verletzte vorsichtig herausgeschoben wurde.
„Ein Mann Anfang Zwanzig, hat wahrscheinlich die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und ist mit voller Wucht frontal gegen einen Baum geprallt. Verdacht auf Schädel-Hirn-Trauma, stark blutende Platzwunde oberhalb der linken Schläfe, Bauchraum verhärtet. Wurde nach kurzem Herzstillstand erfolgreich reanimiert. Dr. Finn hat ihn noch vor Ort intubiert und beatmet. Puls und Herzschlag schwach, aber inzwischen wieder regelmäßig“, informierte einer der Rettungssanitäter den Chefarzt pflichtgemäß kurz und präzise. Dieser prüfte kurz die Pupillen des Verunglückten.
„Bringt ihn erst einmal in die Notaufnahme, ich übernehme dort alles Weitere.“
Er wandte sich an Gregor Finn, der ebenfalls ausgestiegen war. „Außerdem noch Besonderheiten?“
„Nun, es wäre wichtig, den Patienten so schnell wie möglich zu röntgen, da die Gefahr innerer Blutungen besteht. Außerdem schlage ich vor, auf Grund des Aufpralls und der Kopfverletzung ein Schädel-CT zu machen“, erwiderte dieser. „Wir müssen sicher gehen.“
Der neue Chefarzt nickte zustimmend.
„Wer hat die Erstversorgung gemacht?“, fragte er, während die beiden Ärzte eiligen Schrittes der Trage mit dem Verletzten folgten.
„Die Sanitäter“, erwiderte Finn. „Die beiden haben erstklassige Arbeit geleistet.“
„Gut, dann übernehme ich jetzt.“ Nick wandte sich an eine der Schwestern. „Piepen Sie meinen Praktikanten an, er soll sich sofort hierher bewegen!“
„Ist das nötig?“, fragte Finn etwas ungläubig. „Ich meine, wir sind doch jetzt zu zweit, und Dr. Alvarez ist auch noch im Haus.“
„Das spielt keine Rolle“, erwiderte Nick streng. „Dieser Jason will schließlich Mediziner werden und so ein Notfall ist besser als jedes Lehrbuch. Außerdem er muss als zukünftiger Arzt lernen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Also soll er seinen Hintern gefälligst hierher bewegen!“
Kantine des Medical Center
Die beiden Rettungssanitäter, die eben den Verletzten an die Klinikärzte übergeben hatten, gönnten sich nach ihrem Einsatz eine Pause in der Cafeteria.
Verschwörerisch steckten sie die Köpfe zusammen.
„Das war nicht richtig, glaub mir!“ Der junge Mexikaner rührte nervös in seinem Kaffee und musterte seinen Kollegen unsicher.
„Ach was“, widersprach der Ältere. „Was hätten wir denn tun sollen! Schließlich konnte ich nicht ahnen, dass sich mein Partner wieder einmal ein paar Drinks zu viel gegönnt hatte. Alleine durfte ich nicht rausfahren. Du hast immerhin deine Ausbildung gerade erfolgreich beendet.“
„Ja schon, aber ich war noch nie allein mit bei so einem schweren Unfall!“
„Tja mein Junge, es gibt immer ein erstes Mal. Behalt nächstes Mal gefälligst die Nerven und respektiere den Wunsch der unbekannten Lady, nicht erwähnt zu werden.“
Der junge Sanitäter nickte zwar, aber ganz wohl war ihm nicht in seiner Haut.
„Trotzdem war es eine glatte Lüge. Der Mann hätte schlechte Chancen gehabt, wenn sie nicht so eine gute Erstversorgung gemacht hätte! Du hättest sehen sollen, wie schnell sie die Infusion gelegt hat.“
Der Ältere blickte erstaunt auf.
„Das war sie? Ich dachte, du hast…“
Der Jüngere biss sich auf die Lippen.
„Nein, das hat sie getan. Ich konnte es nicht, meine Hände haben wie verrückt gezittert.“
„Idiot!“, zischte ihn sein Kollege an. „Wieso zum Geier kann sie so etwas?“
„Vielleicht ist sie Ärztin?“, vermutete der Mexikaner.
Sein Kollege verzog skeptisch das Gesicht.
„Sie schien aber noch ziemlich jung zu sein. Und außerdem, wenn sie Ärztin wäre, warum ist sie dann so eilig verschwunden, kurz bevor Dr. Finn die Unfallstelle erreichte?“
„Das hat mich auch gewundert. Sie hat uns geholfen, solange der Mann in akuter Lebensgefahr war, und als sie das Signal des Notarztwagens hörte, war sie mit einem Mal wie vom Erdboden verschwunden...“ Er schüttelte erneut ungläubig den Kopf. „Eine Ärztin hätte es nicht dabei belassen, den Rettungssanitätern ihre Diagnose mitzuteilen, sondern gewartet, bis ein Kollege vor Ort gewesen wäre!“
Der ältere nickte zwar, sah aber seinen Partner dann eindringlich an.
„Sie wird wohl ihre Gründe gehabt haben. Glaub mir, Mann, wir haben das einzig Richtige getan, was man in dieser Situation tun konnte. Die Frau wollte anscheinend nicht gesehen werden, also werden wir ihr diesen Gefallen tun und sie nicht erwähnen! Sie hat nie existiert, und wir beide haben nur unsere Arbeit getan. Basta!“
SUN CENTER
Als Alli ins SUN CENTER zurückkam, war niemand da. Froh darüber, einen Moment ungestört zu sein, ging sie ins Bad und zog sich aus. Sie steckte ihre Sachen in die Waschmaschine und atmete tief durch, als die Trommel sich zu drehen begann. Fast schien es so, als hätte sie sich eben von einer schweren Last befreit. Dann schlüpfte sie in bequeme Kleidung und begann mit aller Kraft ihre Hände abzuschrubben, gerade so, als würde noch Blut von dem Verunfallten daran kleben. Dabei hatte sie doch Handschuhe getragen!
Als sie aufblickte und ihr Gesicht im Spiegel sah, hielt sie inne. Gedankenverloren starrte sie auf ihr Spiegelbild, auf diese ihr fast fremd gewordenen Augen und ließ das vor einer Stunde Geschehene in ihrem Gedächtnis noch einmal Revue passieren...
Jeder Handgriff saß wie immer, während sie die Erstversorgung bei dem Unfallopfer durchgeführt hatte. Es war, als sei es erst gestern gewesen, dass sie ihre Arbeit tat.
Alli lächelte.
´Egal, wieviel Zeit vergeht, so etwas verlernt man nie wieder...´, hörte sie in Gedanken Andys Stimme. Für einen Augenblick schien sie im Spiegel nicht ihr eigenes Gesicht zu sehen, sondern seines und sie nickte ihm aufatmend zu.
„Du hattest verdammt recht!“