SUN CENTER
Erstaunlicherweise wachte Alli nach dem schlimmen Albtraum am nächsten Morgen ruhig und ausgeschlafen auf. Sie musste sich einen Augenblick lang besinnen, als sie merkte, dass sie nicht allein war. Doch bereits Sekunden später stahl sich ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht und trotz aller widriger Umstände, die zurzeit ihr Leben bestimmten, durchflutete sie ein wundervolles Hochgefühl.
Vorsichtig richtete sie sich auf, um Jack nicht zu wecken und betrachtete liebevoll sein schlafendes Gesicht. In der kurzen Zeit, in der sie beide sich kannten, hatte er es durch seine unkomplizierte, direkte und zugleich charmante Art geschafft, dass sie bereits mehr für ihn empfand, als vielleicht momentan gut für sie war. Darüber hinaus begann sie ihm zu vertrauen. Zumindest soweit ihre Situation das zuließ.
Doch sie spürte auch, dass sie ihn mit ihren Geheimnissen verletzte und damit seine Gefühle für sie auf eine harte Probe stellte.
`Vielleicht werde ich dir eines Tages alles erzählen, Jack`, dachte sie und strich ihm liebevoll eine Haarsträhne aus der Stirn. `Irgendwann, wenn ich sicher sein kann, dass ich unser beider Leben damit nicht in Gefahr bringe.`
CEC Corporation
„Was zum Teufel macht dieses fremde Weibsstück da draußen in meinem Vorzimmer?“, donnerte George Carrington und warf geräuschvoll David Edwards Bürotür hinter sich ins Schloss.
David lehnte sich seelenruhig in seinem Computersessel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Dir auch einen guten Morgen, George“, grinste er betont gelassen. „Und was die junge Dame in unserem Vorzimmer angeht - mal abgesehen davon, dass sie deine netten Worte eben ziemlich sicher gehört hat - ihr Name ist Allison Tyler, und sie ist ab sofort meine persönliche Assistentin.“
„Persönliche... Was? Wozu brauchst du denn so etwas?“ Ungläubig setzte George seinen Aktenkoffer ab und starrte seinen jüngeren Geschäftspartner über dessen Schreibtisch hinweg erbost an. Als er nach ein paar Sekunden immer noch keine Antwort erhielt, versuchte er schließlich mit einem etwas hilflos wirkenden Achselzucken einzulenken. „Ich gebe ja zu, Brendas Kompetenzen sind zuweilen etwas beschränkt, aber immerhin waren sie bisher ausreichend für unsere geschäftlichen Belange!“
„Nun, ich denke, wir wissen beide, dass Brenda wohl mehr für deine Belange zuständig ist“, erwiderte David ungerührt. „Und was ihre sogenannte Kompetenz betrifft, so habe ich leider die Erfahrung gemacht, dass diese über Kaffeekochen, Fingernagelpflege und die Bedienung der Wechselsprechanlage kaum hinausreicht. Ich brauche jedoch eine Mitarbeiterin, die mich bei meiner Arbeit unterstützt.“
George schluckte. Dann ging er zu dem kleinen Barschrank hinüber und öffnete ihn. Umständlich goss er sich einen Drink ein.
„Auch einen?“ fragte er beiläufig, doch David verneinte.
„Danke, aber um diese Tageszeit behalte ich gern einen klaren Kopf.“
„Eben drum“, brummte George und schüttete den Inhalt des Glases mit einem Zug hinunter.
„Okay“, versuchte er schließlich einzulenken. „Ich weiß selbst, dass Brenda keine Intelligenzbestie ist, aber sie ist zuverlässig. Wozu um alles in der Welt brauchst du dann dieses Girlie da draußen? Ich meine, okay, sie sieht umwerfend aus und ich würde sie nicht von der Bettkante stoßen, aber für interne Firmenangelegenheiten...“
„Was ist eigentlich dein Problem, George?“, unterbrach ihn David ungeduldig. „Andere Firmen stellen auch ab und zu neues Personal ein, und finanziell kann ich mir durchaus eine persönliche Assistentin leisten, die mir die Arbeit etwas erleichtert. Außerdem haben wir doch in der Firma nichts zu verbergen. Oder?“
George blieb ihm zunächst die Antwort schuldig und begann stattdessen, unruhig im Zimmer auf und ab zu laufen. Sein smartes, gepflegtes Gesicht wirkte angespannt. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn sicherlich auf den ersten Blick für einen recht ansehnlichen, interessanten Mann im besten Alter, doch wem es gelang, hinter die makellos scheinende Fassade zu blicken, der entdeckte einen Menschen mit weniger schönen Charaktereigenschaften: egoistisch, aalglatt, ohne jeden Skrupel und absolut kompromisslos, wenn es um seine Interessen ging.
„Schläfst du mit ihr? Ist es das?“, knurrte er schließlich.
David lachte laut auf.
„Nein, ganz bestimmt nicht. Außerdem ist Alli bereits vergeben.“
„Und an wen, wenn man fragen darf?“
„Ich bin ihr Arbeitgeber, nicht ihr Beichtvater.“
„Ist sie qualifiziert?“
„Qualifizierter als Brenda.“
„Verdammt, David!“ George blieb abrupt stehen und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Erst marschiert Jonathans Sohn Jeff hier herein, erhebt mir gegenüber grundlos die absurdesten Anschuldigungen und markiert den großen Boss. Und dann stellst du auch noch irgend so eine Tippse ein. Was zum Henker ist hier los?“
„Jetzt halt mal die Luft an, George.“ David beugte sich vor und sah seinem Partner fest in die Augen. „Wir können gute Leute gebrauchen, wenn wir in ein paar Wochen mit dem Bau der Ferienanlage beginnen. Vor allem jetzt, wo Jonathan so plötzlich nicht mehr da ist. Und wir können verdammt froh sein, dass Jeff bereit ist das Erbe seines Vaters anzutreten. Genauso gut hätte er seine Firmen-Anteile einfach an den nächsten meistbietenden Fremden verkaufen können. Und dann, mein Lieber, dann hätten wir ein echtes Problem.“ Er unterbrach sich selbst und zog misstrauisch die Augenbrauen hoch. „Oder wäre dir das am Ende vielleicht sogar Recht gewesen?“
Die beiden starrten sich sekundenlang fast feindselig an und die Stille im Raum wirkte irgendwie bedrohlich.
Dann richtete George sich auf und fuhr nervös mit der Hand über seine Stirn.
„Natürlich nicht. Wie kommst du denn darauf?“
„Keine Ahnung.“
David stand auf und ging langsam um den Schreibtisch herum, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Dicht vor seinem Partner blieb er stehen.
„Du hast mir alles beigebracht, was man in dieser Branche wissen muss, George“, sagte er gefährlich leise. „Und ich habe gelernt. Auch das, was zwischen den Zeilen stand oder was ich in deinen Augen las. Also mach nicht den Fehler mich zu unterschätzen, Partner. Lass uns stattdessen lieber mit offenen Karten spielen, denn falls du versuchen solltest, mich reinzulegen oder in irgendeiner Weise zu hintergehen, dann werde ich mich wehren und dich schlagen - mit deinen eigenen Waffen.“
CEC Corporation
Pünktlich auf die Minute hatte Alli ihren Dienst bei der CEC angetreten, und David wusste bereits nach wenigen Stunden, dass es ein Glücksgriff gewesen war, sie als seine persönliche Assistentin einzustellen. Sie war fleißig, umsichtig und besaß eine überaus leichte Auffassungsgabe. Es würde eine Freude sein, mit ihr zusammenzuarbeiten.
Brenda war da allerdings ganz anderer Meinung.
Mit finsterer Miene hockte sie hinter ihrem Schreibtisch und betrachtete „die Neue“ mit unverhohlenem Missfallen, fühlte sie sich doch in ihrem Arbeitsrevier beeinträchtigt und in ihren Gewohnheiten empfindlich gestört. Nagelfeile und Lippenstift blieben heute in der Handtasche und würden vorerst sicherlich nur im Waschraum der Damentoilette das Tageslicht erblicken.
Zu allem Überfluss hatte George ihr vorhin unmissverständlich mitgeteilt, dass sie in Zukunft unbedingt und noch mehr als gewohnt Diskretion zu wahren habe. Vor allem jene „firmeninternen Absprachen und Gepflogenheiten“ , wie er Brendas gelegentliche, und von ihm selbst angeordnete Spionageaktionen bezeichnete, solle sie von nun an streng für sich behalten, damit ihre neue Kollegin nichts davon mitbekam.
Als Erstes hatte sie heute Morgen auf seine Anweisung hin in fliegender Eile sämtliche „roten“ Akten in einen gesonderten Schrank gepackt, zu dem nur sie selbst und ihr Boss Zugang hatten.
Amüsiert beobachtete Alli Brendas verzweifelte Versuche, die Grenzen im Vorzimmer genau abzustecken. Außerdem rannte die Vorzimmerdame halbstündlich zur Toilette, um ihr Makeup zu überprüfen.
Irgendwann nutzte Alli eine solche Gelegenheit und warf einen Blick in Georges Terminkalender.
„Ah, da wäre ja tatsächlich am Nachmittag noch etwas frei“, murmelte sie zufrieden. Sie hatte Selina versprochen, so bald wie möglich ein Vorstellungsgespräch für sie bei George Carrington zu arrangieren. Und genau das würde sie jetzt tun.
Sie ging hinüber zu seiner Bürotür, klopfte an und trat ein.
„Mister Carrington?“
Er saß in seinem Chefsessel, hatte sich mit dem Rücken zur Tür gedreht und telefonierte. Anscheinend hatte er weder das Klopfen noch Allis Anrede gehört, denn er sprach unbeirrt weiter.
„... natürlich bin ich daran interessiert, dass es bald geschieht! Je eher ich ihn loswerde, desto besser... Das ist mir egal, ich will nur nicht, dass dabei irgendein Verdacht auf mich fällt, haben Sie verstanden? ... Vergessen Sie es, die Zahlung erfolgt, sobald Sie Ihren Auftrag ordentlich erledigt haben!“
Alli verzog das Gesicht. Es war ihr unangenehm, mitten in ein Telefonat geplatzt zu sein, und da er sie sowieso nicht bemerkt zu haben schien, zog sie es vor, leise wieder nach draußen zu verschwinden. Leider verursachte die Bürotür beim Schließen ein unangenehm lautes Geräusch, so dass George erschrocken herumfuhr.
Misstrauisch starrte er auf die Tür.
„Warten Sie einen Augenblick“, befahl er seinem Gesprächspartner in barschem Ton. Schnell stand er auf, horchte einen Moment lang an der Tür und riss diese dann mit einem Ruck auf.
Im Vorzimmer war alles ruhig.
Alli saß hinter ihrem Schreibtisch und schrieb eifrig etwas auf. Als sie George bemerkte, hob sie den Kopf und lächelte freundlich.
„Mister Carrington, kann ich etwas für Sie tun?“
„Wo ist Brenda?“, fragte er irritiert.
„Auf der Toilette, Sir.“
Ungläubig zog er die Augenbrauen zusammen.
„Immer noch?“
„Nein Sir. Schon wieder.“
CEC Corporation
Als Selina am Nachmittag pünktlich zu der mit Alli vereinbarten Zeit die Büroräume der CEC betrat, legte Brenda ihren Stift weg und blickte ihr ohne große Begeisterung entgegen. Diese Dame war aber wirklich sehr hartnäckig!
„Möchten Sie nun doch einen neuen Termin bei Mister Carrington?“, fragte sie herablassend. Selina unterdrückte mühsam ein Grinsen.
„Danke, ich habe bereits einen Termin bei ihm.“
„Wann?“, entfuhr es Brenda.
„Jetzt.“
„Das kann gar nicht sein. Die Termine vergebe nämlich ich!“
„...oder ich“, fiel ihr Alli lächelnd ins Wort. „Miss Wood hatte angerufen, als Sie gerade nicht anwesend waren, Brenda. Also habe ich mir erlaubt, Mister Carrington um einen freien Termin für ein Bewerbungsgespräch zu bitten. Ihr Boss war so freundlich, Miss Wood für heute Nachmittag einzuladen.“ Sie wandte sich an Selina. „Einen Moment bitte, ich begleite Sie hinein.“
Mit ungeahnter Geschwindigkeit schoss Brenda hinter ihrem Schreibtisch hervor.
„Danke, aber das ist ja wohl meine Aufgabe“, erklärte sie hastig und drängte sich an Selina vorbei in Richtung Georges Bürotür. „Ich werde sehen, ob er jetzt Zeit hat.“
Selina folgte ihr und zwinkerte Alli im Vorübergehen heimlich zu.
„Mister Carrington? Eine Miss... Wood ist da und möchte Sie sprechen“, sagte sie mit aufgesetztem Lächeln, in der Hoffnung, George würde zu beschäftigt sein, um die Dame zu empfangen und sie unwirsch abweisen.
Das Gegenteil war der Fall.
„Miss Wood!“ Er stand auf und trat hinter seinem Schreibtisch hervor, um Selina freundlich zu begrüßen. „Sie sind also die Reporterin aus Chicago. Freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen! Bitte kommen Sie herein.“
Er geleitete sie zu der bequemen Sitzgarnitur, die extra für Besucher in seinem Büro stand. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Nein, vielen Dank, Mister Carrington“, lehnte Selina bescheiden ab und setzte sich.
George drehte sich um und sah, dass seine persönliche Assistentin noch immer mit offenem Mund in der Tür stand und keine Anstalten machte, ihn mit seiner Besucherin allein zu lassen.
„Danke, Brenda“, sagte er sehr nachdrücklich und blitzte sie böse an.
„Oh... Entschuldigung“, murmelte sie und schloss eilig die Tür.
Draußen beobachtete Alli amüsiert, wie sie hinter ihrem Schreibtisch in ihrer Tasche wühlte und dabei unablässig etwas vor sich hin murmelte.
„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte sie besorgt.
„Es geht mir bestens!“, fauchte Brenda und begann ihren Frust an einem Schokoriegel abzubauen, indem sie gierig hineinbiss. Schokolade verdarb zwar die Figur, aber sie war gut für die Nerven. Und Nervenfutter brauchte sie jetzt ganz dringend, denn heute war definitiv nicht ihr Tag!
Indessen versuchte sich George einen ersten Eindruck von seiner Besucherin zu verschaffen.
Eine junge, dynamische und noch dazu gutaussehende Reporterin aus der Großstadt. Genau das, was er für den SENTINEL brauchte. Allerdings hoffte er, dass sie nicht allzu selbstbewusst an die ihr übertragenen Aufgaben herangehen würde, denn George war bekanntermaßen ein Mensch, der bei seinen Mitarbeitern zwar ein gewisses Maß an Selbstständigkeit voraussetzte, jedoch dabei sehr gerne den Überblick behielt und in die Entscheidungen aller wichtigen Dinge mit einbezogen werden wollte.
Wer bei ihm aus der Reihe tanzte, flog.
„Sie waren also beim DAILY MIRROW als Redakteurin tätig, Miss Wood?“, fragte er interessiert und nickte anerkennend, nachdem er eine Weile eingehend ihre Unterlagen studiert hatte. „Erstklassige Referenzen.“
Selina lächelte.
„Danke Sir. Ich war Reporterin im Außendienst und im letzten Jahr Chefredakteurin der Lokalabteilung“, sagte sie nicht ohne Stolz. Diesen Posten hatte sie sich hart erkämpft, und es tat ihr noch immer in der Seele leid, dass sie ihn wegen ihres Umzuges wieder hatte aufgeben müssen.
George blätterte in der Mappe mit der von ihr verfassten und vom DAILY MIRROW veröffentlichten Artikeln. Dann blickte er auf und sah sie prüfend an.
„Sie hatten ein erhebliches Maß an Verantwortung zu tragen.“
„Ja Sir. Aber die Arbeit hat mir auch sehr viel Freude gemacht.“
„Nun ja.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Ich nehme an, es dürfte Ihnen sicher schwerfallen, sich jetzt wieder unterzuordnen.“
„Nein, überhaupt nicht“, erwiderte Selina voller Überzeugung. „Ich kann mich sehr gut unterordnen. Ich vertrage auch eine Menge Kritik, wenn sie berechtigt ist, und ich arbeite gern im Team.“
„Das hört sich gut an“, nickte George. „Sie müssen nämlich wissen, dass jeder, der bei meiner Zeitung arbeitet, erst einmal ganz unten anfängt, als einfacher Reporter. Sie würden Aufträge für kleinere und auch manchmal umfangreichere Artikel bekommen. Diese Aufträge beinhalten alles Mögliche, Sachen aus dem Weltgeschehen oder dem täglichen Leben. Verteilt werden die Themen von unserem Chefredakteur. Wäre das ein Problem für Sie?“
„Nein Sir.“
„Gut.“ George erhob sich und reichte ihr die Hand. „Dann melden Sie sich am besten gleich nebenan bei ihm in der Redaktion. Sein Name ist Dave Sullivan. Er wird Ihnen ein Thema geben, das Sie übers Wochenende bearbeiten, damit ich in der Lage bin, mir gemeinsam mit Sullivan ein aktuelles Bild über ihren Schreibstil und Ihre Ausdrucksweise zu machen.“
Selina strahlte.
„Vielen Dank, Mister Carrington.“
Draußen atmete sie tief durch.
Der erste Schritt zu ihrer erneuten Karriere als Reporterin war getan.
Redaktion des DESTINY SENTINEL
In der Redaktion erhielt Selinas Enthusiasmus den ersten Dämpfer, nachdem Dave Sullivan, ein aufs Übelste gestresst wirkender, schwammiger Mittfünfziger mit schütterem Haar ihr das Thema für ihren ersten Zeitungsbericht genannt hatte:
Ausgerechnet über die Rettungsschwimmer von Destiny Beach solle sie schreiben, da dieses Thema Gegenstand des Strandfestes am vergangenen Wochenende gewesen war und bei den Leuten sehr gut angekommen zu sein schien.
„Machen Sie ein Interview mit diesem Lifeguard, wie hieß er doch gleich... Der Bursche, der das Strandfest organisiert hat…“
„Stone“, half ihm Selina schnell auf die Sprünge. „Jason Stone!“
„Ja genau... Jason Sowieso“, knurrte Sullivan und kramte in seinen Unterlagen. Sein Schreibtisch sah aus, als wäre er dem Gebläse des Staubsaugers der Putzfrau bei der letzten Büroreinigung zum Opfer gefallen. Zettel, Zeitungsartikel und Illustrierte lagen wahllos durcheinander, dazwischen stapelten sich diverse Ordner und zwischendrin ein übervoller Aschenbecher. Das berühmte perfekt organisierte Chaos.
„Ah, da ist sie ja.“ Er reichte Selina eine kleine Digitalkamera. „Schießen Sie ein paar nette Fotos von dem Mann in den orangefarbenen Badeshorts und fragen Sie ihn alles, was die Leser interessieren könnte. Arbeit, Privatleben, einfach alles! Glauben Sie mir, die Leute lieben solche Typen.“
Selina nickte betreten. Oh ja, die Sympathie der Leute konnte sie durchaus verstehen. Aber trotzdem, einem Interview ausgerechnet mit Jason sah sie mit sehr gemischten Gefühlen entgegen.
„Und was ist, wenn ich diesen Rettungsschwimmer übers Wochenende nicht erreiche?“, fragte sie vorsichtig. „Ich meine, es könnte ja immerhin sein...“
„Kindchen!“, schnaufte Sullivan und plumpste wie ein nasser Sack in seinen Drehsessel, unter dem die Dielen gefährlich ächzten. „Dann lassen Sie sich gefälligst was einfallen! Ich denke, Sie kommen aus der Branche!“
„Okay“, erwiderte Selina schnell und schaltete alle Skrupel aus. Sie wollte diesen Job, und sie würde ihn bekommen!
„Mein Bericht liegt pünktlich am Montagvormittag auf Ihrem Schreibtisch.“
SUN CENTER
Nick hatte seine Tasche gepackt und wartete nun gemeinsam mit Selina auf das Taxi, das ihn zum Flughafen bringen sollte.
„Was soll ich nur eine ganze Woche ohne dich anfangen?“, seufzte sie. „Noch dazu, wo das Wochenende vor der Tür steht.“
Nick nahm sie lächelnd in den Arm.
„Amüsier`dich, Liebling, geh zum Strand, mach einfach, wozu du Lust hast! Nach der stressigen Zeit beim DAILY MIRROW hast du dir ein bisschen Erholung mehr als verdient.“
„Es ist todlangweilig, immer nur am Strand zu liegen.“
„Das kann ich nun wirklich nicht verstehen. Ich wäre froh, wenn ich den ganzen Tag tun und lassen könnte, was mir in den Sinn kommt.“
„Das glaubst du doch selbst nicht“, murmelte Selina und verdrehte genervt die Augen.
Sie wusste, es hatte keinen Sinn, mit ihrem Verlobten über dieses Thema zu streiten. Er konnte ihren Standpunkt einfach nicht verstehen. Von dem Job, den sie sich beim DESTINY SENTINEL erhoffte, hatte sie ihm noch nichts erzählt. Die Tatsache, dass sie vielleicht bald wieder als Reporterin arbeitete, würde nur zu neuen unnützen Diskussionen führen und vielleicht noch kurz vor seiner Abfahrt einen neuen Streit heraufbeschwören.
Vor dem Haus hupte das Taxi.
„Es ist soweit.“ Nick nahm seine Tasche. „Begleitest du mich nach unten?“
„Ich wünsche dir eine schöne Woche in San Francisco!“
Selina küsste Nick zum Abschied und winkte dem Taxi nach, bis es hinter der Kurve verschwunden war.
„Na, hast du deinen Verlobten in die Wüste geschickt?“
Erschrocken drehte sie sich um.
Jason stand, die Hände in den Taschen seiner Jeans, lässig in den Türrahmen gelehnt und musterte sie mit spöttischem Lächeln. „Hat` s wohl in unserer netten Wohngemeinschaft nicht mehr ausgehalten, was?“
Sie hatte schon eine bissige Antwort auf der Zunge, doch dann fiel ihr der Auftrag ein, den sie für den SENTINEL zu erledigen hatte, und sie fand, dass es äußerst unklug wäre, Jason jetzt zu verärgern. Also beherrschte sie sich und versuchte es stattdessen mit einem verbindlichen Lächeln.
„Er reist zu einem Ärztekongress nach San Francisco.“
„Ich weiß.“, erwiderte Jason grinsend. „Eine ganze Woche ohne meinen nörgelnden, besserwisserischen, arroganten Chef und Mitbewohner.
Himmlisch!“
Selinas Gesicht verfinsterte sich.
„Du tust ihm unrecht“, wies sie ihn zurecht. „Nick ist in Ordnung. Er liebt nun mal seinen Job über alles, und er macht ihn gewissenhaft.“
Jasons Lächeln verflog ebenfalls und seine dunklen Augen sahen sie herausfordernd an.
„Liebt er dich genauso wie seinen Job?“
Ohne eine Antwort abzuwarten drehte er sich um und ging zurück ins Haus.
Sprachlos starrte Selina ihm nach.
Was bildete der Kerl sich eigentlich ein, ihr solch eine indiskrete Frage zu stellen? Sie würde ihn keines Blickes mehr würdigen!
Aber halt... Das ging ja gar nicht. Da war dieses verflixte Interview, das sie mit ihm führen musste, damit sie George Carrington am Montagmorgen einen richtig guten Bericht für die Zeitung vorweisen konnte!
Sie würgte ihren Ärger hinunter und straffte die Schultern.
„He Jason! Warte doch mal!“