Personen,die sich größtenteils als männlich identifizieren, aber nicht ausschließlich
Jamael
Jamael starrte aus dem Fenster des Flugzeugs, das Wetter war einfach nur neblig grau. Das Reiseziel lag laut der Dame am Flughafen Frankfurt irgendwo mitten in Alaska. Laut Google Maps lag das irgendwo dicht am Meer Seine Reisepartnerin hatte mehr Gewicht an Schminke im Gesicht, als sein Koffer wog. Wirklich hübscher war sie davon allerdings nicht, sie sah mehr aus wie ein Clown, wenn man ihn fragte. Er drehte das Kabel seiner Kopfhörer in den Fingern und sah nur kurz hoch, als das Mittagessen geliefert wurde. In seinem Fall war das eine Art Hühnerfrikassee mit Reis und Gemüse. Schmecken tat es zumindest halbwegs, besser als der Fraß, den ihm seine Mutter zuhause vorsetzte. Es war zumindest halbwegs gut gewürzt.
„Kannst du eigentlich Englisch?" Seine Mitreisende, deren Namen er schon wieder vergessen hatte, hatte ihm die Frage gestellt. Er nickte gedanklich abwesend, er hatte schließlich der zweiten Klasse ziemlich guten Englischunterricht gehabt. Französisch war quasi seine zweite Muttersprache. Seine Großeltern mütterlicherseits kamen aus Frankreich. Sie waren nach Deutschland gezogen, wo seine Mutter und sein Onkel geboren worden waren. Er konnte dadurch ziemlich gut Französisch. Das würde ihn allerdings wahrscheinlich da nicht weiterbringen. Auch wenn sie eher im englischen Raum unterwegs waren. „Kannst du es denn?" Konterte er schließlich und sie schüttelte den Kopf: „Das ist ziemlich schlecht." Er wandte den Blick wieder ab und konzentrierte sich auf sein Mittagessen. Das brachte allerdings auch die Erinnerungen an sein zuhause zurück, das eigentlich kein wirkliches Zuhause für ihn war.
Der Flieger setzte auf der Landebahn in Fairbanks, Alaska auf. Er stand auf und schnappte sich seinen Rucksack, dann quetschte er sich an seiner Mitreisenden vorbei. Es war nicht besonders warm draußen auf dem Rollfeld und er war froh, das Flughafengebäude zu betreten. Zuhause waren noch 12 oder 13 Grad Celsius, hier waren vielleicht maximal fünf Grad. Er fröstelte, während sie durch die Sicherheitskontrollen gingen und dann zur Gepäckabgabe kamen. Für Jamael gab es nur einen großen Koffer abzuholen. Die Tussi von seiner Reisebegleitung hatte gleich drei davon. „Nur damit das klar ist", zischte er mit einem Blick auf die Koffer: „Ich nehme dir davon nichts ab. Wir fahren 14 Tage hierher, da braucht man keine halbe Tonne Kleidung." Damit waren wohl die Reviere abgesteckt.
Ein dunkelhaariger Mann in der Eingangshalle hielt ein Schild mit der Aufschrift ‚Jamael Fischer and Marisa Dunkelmann' hoch. Dann hieß die Tussi wohl Marisa. Sie steuerten den Mann an, der sie freundlich begrüßte. „Hey, ich bin Marius, ich bin euer Gastvater für die nächsten 14 Tage." Er sprach offenbar bewusst langsam und deutlich, damit sie ihn verstanden. „Hi, ich bin Jamael", er gab Marius die Hand und wartete, bis sich Marisa in stockendem Englisch vorgestellt hatte. „Wollen wir los zum Auto?" Ihr Gastvater sah sie forschend an: „Dann stehen wir hier nicht so doof herum." „Sehr gerne", Jamael lächelte ihn an und Marisa stimmte auch ein wenig zögerlich zu. Sie machten sich auf den Weg aus dem Gebäude und zu einem großen etwas älteren Range Rover.
Auf der Fahrt zu ihrem künftigen zu Hause für die nächsten 14 Tage war eher schweigsam. Ihr Gastvater stellte ab und zu ein paar Fragen. Aber Jamael war generell eher introvertiert und Marisa wollte wohl ungern ihr schlechtes Englisch demonstrieren. Dementsprechend waren ihre Antworten generell eher kurz. Ihr Gastvater schien es irgendwann aber auch irgendwann aufzugeben und fuhr schweigend über die Amerikanischen Highways. „Wie kommt es, dass du so gutes Englisch sprichst?" Wandte sich Marius schließlich irgendwo mitten in der Pampa an ihn. „Naja, ich habe seit der zweiten Klasse ziemlich guten Englischunterricht gehabt." Erklärte er ihm und übersetzte es dann gedämpft ins Deutsche für Marisa, die ziemlich verloren dreinblickte. „Das ist doch hervorragend", sein Gastvater lächelte in den Rückspiegel: „Also gehst du zur Schule?"
„Ich ja", Jamael übersetzte für Marisa, die die Augen verdrehte. „Ich gehe doch nicht in die Dreckshölle voller Tussis!" Er verkniff sich den Kommentar, dass sie selbst die größte Tussi war und übersetzte es für ihren Gastvater, der darauf aber nur seufzte und sich auf den Verkehr konzentrierte. Der war allerdings hier kaum vorhanden. Es kam vielleicht alle zwanzig Minuten mal ein Auto vorbei. Dann aber endlich bogen sie auf eine schmale Straße ab und fuhren an mehreren Bauernhöfen vorbei. Ganz am Ende der Straße stand noch ein weiterer Hof, auf dessen Gelände sie fuhren. Die Gebäude waren aus rotem Backstein gebaut, hölzerne Stützen hielten die Häuser fest. Sie erinnerten Jamael an die alten Fachwerkhäuser in seiner Heimat im Herzen von Bayern, Marisa hatte aber nichts dafür übrig.
„Das ist doch alles einfach nur altmodisch und hässlich." Beschwerte sie sich auf Deutsch bei Jamael, dem das ganze reichlich unangenehm war. Vorallem seinen Gastgebern gegenüber, die Deutsch immerhin nicht verstanden. „Ich finde es hübsch." Jamael hockte sich hin und ließ die grau melierte Katze an seiner Hand schnuppern, die um seine Beine strich. „Hier ist es wenigstens ruhig und die Landschaft ist auch ganz nett." „Aber hier ist kein Netz." Maulte seine Mitreisende dann weiter und er verdrehte die Augen: „Sind doch nur zwei Wochen. Außerdem haben die doch safe Wlan hier." Er schnappte sich seinen Koffer aus dem Kofferraum des Land Rovers und lief seinem Gastvater hinterher. Der lief zu einem dreistöckigen Gebäude mit vielen Fenstern, das war dann wohl das Wohnhaus.
Vor dem Gebäude stand eine Frau im Alter von Jamaels Mutter. Das war dann wohl ihre Gastmutter. Sie hatte lange weißblonde Haare und dunkle Augen. Irgendwie erinnerte sie ihn an einen Eisbären auf zwei Beinen. Den Kommentar verkniff er sich natürlich, als sie sich vor die Frau stellten. „Guten Morgen und herzlich willkommen in Alaska." Sie gab ihnen die Hand und sie stellten sich beide nacheinander auch vor. „Wie war der Flug?" „Gut, danke", erwiderte Jamael, Marisa gab ihr keine Antwort. Stattdessen wandte sie sich jetzt an ihn. „Wo sollen wir denn jetzt hier Party machen, dass ist doch die größte Pampa." Er zuckte mit den Schultern. „Dann frag sie gefälligst." Zischte sie daraufhin zurück und er sah nur ihre Gasteltern fragend an.
Marius schloss die Haustür auf: „Herzlich willkommen bei den strengsten Eltern der Welt." Jamael erstarrte an Ort und Stelle. Er kannte die Serie von RTL II die man auch auf YouTube sehen konnte. Aber eigentlich war er wie keiner der Jugendlichen aus diesen Serien. Er trank nur an Silvester und Geburtstagen Alkohol, aber auch nur in gemäßigten Mengen. Um Drogen machte er schon immer einen großen Bogen, genauso um Zigaretten, abgehauen war er auch noch nie. „Setzt euch bitte", ihre Gastmutter, deren Namen er noch nicht wusste, deutete auf das Sofa. Er ließ sich auf der große Sonnengelbe Sofa sinken, Marisa war aber einfach nur stur in der Haustür stehengeblieben. „Du setzt dich bitte auch, Marisa." Die Stimme ihrer Gastmutter war scharf geworden.
Marisa und die Gastmutter lieferten sich einen stummen Anstarrwettbewerb. Am Ende gewann allerdings die Gastmutter und sie setzte sich widerwillig auf einen der beiden Sessel links und rechts vom Sofa. Ihre Gastmutter setzte sich zu ihm auf das Sofa, ihr Gastvater ließ sich auf den zweiten Sessel sinken. „Ihr fragt euch sicherlich warum ihr hier seid." Ihre Gastmutter lehnte sich vor und stützte sich auf ihren Oberschenkeln ab. Jamael übersetzte leise für Marisa. „Nö", schnaubte die einfach nur: „Mich interessiert es nicht, ich will hier weg. Dieser ganze Erziehungsblödsinn ist doch nur Show." „Siehst du hier irgendwo Kameras?" Zischte er auf Deutsch zurück: „Das hier ist keine Show das ist bitterer Ernst, wie sind sicher nicht ohne Grund hier!" Ihn regte die Tussi einfach nur auf.
Marius sah sich das Theater ein paar Minuten an. Dann hob er die Hände: „Bevor das hier noch eskaliert, erklären wir euch mal warum ihr hier sind. Jamael bei dir ist es kurz aber reichlich kompliziert. Wir wissen nicht warum dich deine Mutter für das Projekt hier angemeldet hat. Sie hat nur dazu geschrieben, dass wir dir hier mal zeigen sollen wie das Leben wirklich funktioniert." Unbändige Wut stieg in Jamael auf: „Aber ich kann Ihnen sagen, warum sie mich hergeschickt hat." In Gedanken wiederholte er die Worte auf Deutsch. „Ich bin nicht der Junge, den sie sich gewünscht hat, ich bin schwul und ein Demiboy. Sie schickt mich her, damit ich wieder in ihrem Sinne normal werde! Damit ich eine Freundin kriege und nicht nur Jungen hinterherschaue.
Auf seine Worte folgte Schweigen. Marius schaute ihn aber die ganze Zeit an: „Wir haben kein Problem damit, dass du Schwul bist." Er sprach betont langsam: „Solange du uns hier damit keinen Ärger einbringst, alles kein Ding. Aber bitte keine fremden Leute hier einschleppen, vorallem nichts, was in nicht jugendfreien Handlungen enden könnte. Was bei euch beiden, mit deinem Outing wohl nur Jungs anbetrifft." Jamael übersetzte für Marisa, die ihm daraufhin einen unnötig bösen Blick zuwarf. Er seufzte nur: „Soll ich erklären was Demiboy bedeutet?" „Kannst du gerne machen", seine Gastmutter warf ihm einen aufmunternden Blick zu. „Das ist eigentlich ganz einfach und kurz. Ich fühle mich meistens als Junge, aber das ist aber auch nicht wirklich immer, manchmal eher wie nicht-binär oder so."
„Ist in Ordnung", Marius nickte: „Ihr habt sowieso einzelne Zimmer, heißt du musst dich nicht unwohl fühlen oder so. Du solltest eventuell nochmal vorstellen." Wandte er sich dann an seine Frau. „Das stimmt", sie sah an: „Ich bin Kate, beruflich bin ich als Architektin tätig, ich übe das aber auch nur halbtags aus, den Rest helfe ich meinem Mann mit der Farm. Für die nächsten beiden Wochen, werdet ihr das aber übernehmen." Marisa sagte nichts und Jamael nickte nur, dann kam aber auch schon Kates Vortrag über Marisas Verhalten. Es war auf dem Niveau der RTL II Sendung, das war schon eindeutig nach zwei Sätzen. Alkoholexzesse, Drogen, Rauchen, tagelanges Verschwinden von zuhause. Er hatte Mühe es wirklich zu übersetzen, was die Mutter von Marisa geschrieben hatte.
Aber dann endlich konnten sie nach oben in den ersten Stock, wo dann wohl ihre Schlafzimmer waren. Seines war ganz am Kopf des Flurs. Hier wohnten wohl auch Angestellte auf der Farm. Ihm konnte es aber egal sein, während er seinen Koffer auspackte und das Bett bezog. Gerade als er auf der Matratze probe lag, klopfte es und ein weißblonder Junge trat ein: „Dann bist du wohl mein Nachbar, hi ich bin Alex!"