Androel schaute noch lange, lange ins Angesicht dessen, der ihn nun auf eine ungewisse Reise schickte. Eine Reise so unbequem wie auch ungewöhnlich gleichermaßen. Seine feinen lichtausstrahlenden Gesichtszüge, die die Herrlichkeit des Einen widerspiegelten, in dessen Gegenwart er sich nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit aufhalten durfte, verloren allmählich ihre Strahlkraft. Langsam aber stetig verschwammen der Thron, der, der darauf saß und all die Herrlichkeiten drumherum. Wie lange würde er seinen Herrn nicht wiedersehen dürfen? Eine Kälte erfasste seine Gliedmaßen und kroch ihm den Rücken hoch. Noch nie hatte er solch eine Kälte gespürt. Sie erschütterte ihn bis ins Mark und breitete sich bis zu seinem Herzen aus. Dann passierten drei Dinge, die ihn noch mehr erschütterten. Während er noch versuchte, sich alle Einzelheiten des immer mehr verblassenden himmlischen Bildes einzuprägen, stieg zum ersten Mal seit dem Fall der schwarzen Sterne aus dem Himmel wieder sowas, wie Verzweiflung in ihm hoch. Außerdem sammelte sich Flüssigkeit am unteren Rand seiner Augen. Er begriff, dass das Tränen sein mussten und es waren sicherlich keine Freudentränen. Die Tränen flossen wie ein Sturzbach seine Wangen herunter und sammelten sich an seinem hervorstehendem bartlosen Kinn, bevor sie endgültig herab perlten und seine weiße Robe benetzten. Hat auch schon jemand einen weinenden Engel gesehen, wie ihn? War er jetzt überhaupt noch Einer? Er wusste es ehrlich nicht mehr genau. Irgendwie ja und irgendwie auch nein. Die dritte Sache, die ihn sichtlich am meisten mitnahm, war sein donnernder Herzschlag, den kein Engel haben sollte. Sein Herr hatte ihn mit Fleisch bekleidet und seine Lichtgestalt damit tief in ihm vergraben. Der Schock, die Tränen, der Herzschlag, die Kälte, der Verlust, die Verzweiflung aber am Schlimmsten war die Tatsache, dass er sich scheinbar im Nichts befand. Sonst war er Himmel und Herrlichkeit um sich herum gewöhnt, doch nun war da einfach gar nichts mehr. Nur Kälte und Leere und Schwärze. Sein Herr hatte ihm gesagt, dass nun die größte Aufgabe seines Lebens bevorstand und viel mehr davon abhing, als er sich vorstellen könne. Er, dessen Pläne unerreicht perfekt und unergründlich tief waren, wusste genau, was zu tun war. An diesem Gedanken hielt sich Androel eisern fest und das nicht zum letzten Mal in den nächsten Äonen von Zeiten. Er schaute auf seine, wie Leder wirkende Haut an seinen Händen. Echtes rotes Blut floss durch seine Adern und wurde durch unzählige Abzweigungen in jede Einzelne seiner brandneuen Zellen transportiert. Allerdings spürte er auch die Schwäche seines Fleisches. Die Tränen trockneten langsam auf seiner Haut und hinterließen winzige Salzkristalle. Nur eine kleine Zeit, sagte er sich selbst, dann würde er die Herrlichkeit wiedersehen dürfen. An dieser Hoffnung würde er einfach festhalten müssen. Denn über die Dauer seines Aufenthalts hatte Gott ihn seltsamerweise im Unklaren gelassen. Aber auch das konnte ihm nur zu seinem Besten dienen. Er streckte seine Arme aus, um die Beweglichkeit seines neuen Körpers etwas zu testen. Dabei stieß er gegen eine unsichtbare Barriere, die scheinbar seinen ganzen Leib wie ein Kokon umgab. Außerdem spürte er eine Bewegung. Der Kokon schien auf ein Ziel zuzufliegen. Obwohl Androel sich alle Mühe gab, konnte er außer der Schwärze des Alls keine Objekte wahrnehmen. Seine neuen Augen hatten sich sicherlich noch nicht an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt. Der Kokon nahm jetzt deutlich an Fahrt auf. Und dann sah er es endlich, den Anfang seiner Reise. Die Formation der Welt erkannte er sofort wieder. Oftmals hatte er sie sich aus himmlischer Perspektive angesehen und ihre einfache Schönheit bestaunt. Doch jetzt flog er direkt auf sie zu und tauchte in sie ein. Das war etwas Überwältigendes für ihn. Er war nun wirklich in der Welt der Sterblichen angekommen. Eine Art Schmerz oder Druck breitete sich in seinem Brustkorb aus und sein Herz schlug immer wilder in ihm. Irgendwas stimmte nicht. Seine Lippen fingen an zu bibbern. Und dann erschlug in die Erkenntnis fast, als sie ihn traf. Er musste jetzt atmen, denn das tun Sterbliche andauernd. Vor schreck sog er die Luft so stark in sich ein, dass der erste Atemzug seines Lebens schmerzhaft, heiß und sauer war. Dies hatte starke Auswirkungen auf seinen ganzen Organismus. Das Herz beruhigte sich und der Druck in der Brust nahm sichtbar ab. Er atmete aus, auch wieder viel zu schnell, sodass es wehtat. Daran musste er sich jetzt wohl gewöhnen und Gott sei Dank, hat sein Körper eine eingebaute Überlebensfunktion. Sie sorgte dafür, dass er weiteratmen würde, selbst wenn er gar nicht darüber nachdenken würde. Die nächsten Atemzüge waren schon viel angenehmer und so langsam kam er in einen gewissen Rhythmus hinein. Das beruhigte ihn etwas. Seine Muskeln entspannten sich und er konnte sich wieder auf den schönen Anblick vor ihm einlassen. Mit der Hand wischte er sich den Mund und die Nase ab, da getrocknete Tränen und andere Sachen daran klebten.
Sein Mund stand offen vor Staunen. Er musste sich mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit fortbewegt haben. Die Sterne und vorbeifliegenden Lichtobjekte zogen lange dünne Linien, die sich hinter seinen Sichtbereich zu verkriechen schienen. Plötzlich, als er dachte, es ginge nicht mehr schneller, hielt er so abrupt an, dass sein Inneres sich beinahe nach Außen gekehrt hätte. Seine Augen schlossen sich kurz und er ging in die Hocke, um die Orientierung wieder zugewinnen. Um ihn herum waren weiße Wolken, die ihn an seine himmlische Heimstatt erinnerten. Sie hüllten ihn für Sekunden völlig ein, nur um ihn einen Moment später auf ein blaues Meer herab zu spucken. Mit den Armen schirmte er sein Gesicht ab, drehte sich weg und bereitete sich auf einen harten Aufprall vor. Kokon hin oder her, das sah übel aus. Als drei Sekunden später noch immer nichts geschehen war, machte er seine Augen wieder auf und entspannte sich. Er schwebte in seinem Kokon, dessen Ränder er jetzt deutlicher sehen konnte etwa eine Handbreit über dem Wasser und bewegte sich nun horizontal auf ein Lichtspektakel von einer Stadt zu. Ab da wusste er auch genau, in welche Stadt er geschickt wurde.