Auf zum Riesenberg Teil 1
Es gibt ein Ereignis, dass mich nicht mehr loslässt, seitdem ich es erlebt habe. Um es völlig unmissverständlich auszudrücken, dieses einschneidende Erlebnis hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt und tut es bis heute. Obwohl es nun mehr über fünfzig Jahre her ist und man meinen müsste, dass ich als Chronist längst einen ausführlichen Bericht darüber angefertigt haben müsste, kam ich in Wirklichkeit nie über ein paar Zeilen hinaus. Denn jedes Mal, wenn ich versuchte die Geschichte niederzuschreiben oder zu diktieren oder auch einfach nur einen Augenzeugenbericht darüber ablegen wollte, was damals auf dem Riesenberg tatsächlich vorgefallen ist, dann kamen mir derart die Tränen, sodass ich abbrechen musste. Stundenlang bin ich dann immer aufgewühlt und ruhelos. Wer mich etwas besser kennt, weiß, dass ich eigentlich ein steter, stiller und nicht aus der Fassung zu bringender Emblischon bin. Wenn ich aber meinen Gedanken auch nur einen Augenblick lang erlaube, zu den Ereignissen zurückzukehren, die vor so vielen Jahren auf Hoshobel geschehen sind, werde ich aufs Neue erschüttert bis in die Seele.
Jetzt bin ich alt und weiß geworden, fast erblindet und trage eine Gedankenschreibmanschette, um überhaupt noch etwas notieren zu können. Deshalb ist dies nun mein letzter Versuch, bevor ich von der Welt gehe, die Erlebnisse auf dem Riesenberg wenigstens zu erwähnen, sprich zu umreißen. Das bin ich der Nachwelt, meinen eigenen Abkömmlingen und allen, die das hier lesen einfach schuldig.
Wie immer bezeuge ich Kemlin Lo Rasor, ein Emblischon und Vierfron-Chronist des großzügigen Lords Achdorn von Ith, dem Ersten, dass ich die Wahrheit schreibe und nichts als die Wahrheit. Lord Achdorn ist mittlerweile der vierte Lord aus dem Hause Ith, dem ich dienen darf. Was er wohl noch für eine Verwendung für so einen alten halbblinden Narren, wie mich hat? Vielleicht ist es nur die Güte seines verstorbenen Vaters Lord Obeloron, die mich in seinen Diensten hält. Oder eine wie auch immer geartete Nostalgie, an die der Lord durch mich, den letzten vorhandenen Vierfron-Chronisten überhaupt noch festhält. Ich weiß es nicht, aber es interessiert mich auch nicht sonderlich. Es ist, wie es ist und solche Dinge hinterfragt man als Vierfron auch nicht.
Ich war gerade dabei alle gesammelten Daten und Aufzeichnungen, die gefundenen Knochen und Amulette, sowie die Gesteinsproben samt den wenigen Kopien der heiligen Molkleder Schriftrollen, die ich machen durfte zum Transporter bringen zulassen, als ich unerwartet von Aslawana aufgehalten wurde. Aslawana ist der Älteste Hosho der Shuluzhöhle, in der ich die meiste Zeit der letzten drei Jahre verbracht habe.
Mein damaliger, gütiger Lehnsherr Lord Obeloron von Ith gestattete mir ein weiteres Studienjahr auf Hoshobel, nachdem er bereits anderweitigen Pflichten seines Standes nachgehen musste. Da ich noch etwas mehr als zwei Monate zur Verfügung hatte, erklärte ich mich einverstanden damit Aslawana ein letztes Mal auf eine Reise zu begleiten. Er war sehr wortkarg und kurz angebunden, was den Zweck der Reise anging. Nur Andeutungen und wage Aussagen konnte ich aus ihm herauskitzeln. Allerdings versicherte er mir, dass ich es nicht bereuen würde ihn zu begleiten. Er nannte die Reise eine Pilgerfahrt. Es musste also ein heiliger Akt sein, dem ich beiwohnen würde. Obwohl ich damals weder besonders religiös oder spirituell war, gestand ich den Hosho durchaus zu, dass sie irgendwie eine gewisse Verbindung zum Übernatürlichen hatten, also zur Unsichtbaren Welt. Zum Schöpfer Yashawa, wie sie ihn nannten. Als Mann der Wahrhaftigkeit und des treuen Zeugnisses, würde ich mich auf keine spirituellen Spinnereien einlassen, allerdings trotzdem Kultursensibel und mit berufsethischer Offenheit an diese Pilgerreise herangehen. Das hatte ich mir damals zumindest geschworen, bevor ich mich in dicke Hoshofelle gewickelt auf den zweiten Schlitten setzte. Die tatsächliche Eiseskälte der rauen Natur Hoshobels richtig zu beschreiben, fällt mir nach all den Jahren immer noch schwer. Es klingt abgedroschen, aber man muss es einfach erlebt haben.
Die ersten drei Tage fuhren wir zusammen mit zwei jüngeren Hosho, Luibwa und Dudulok, bis zum Messerspitzen Kristallsee. Diesen schönen Ort durfte ich damals bereits zum fünften Mal betrachten. Herrliche Kristallformationen türmten sich über der sonst eher kargen Schneewüste auf. Direkt vor uns gab es ein Gebilde, das tatsächlich, wie eine Messerspitze aussah, die nach Süden zeigte. Dorten machten wir das erste Mal richtig Rast, bauten ein Iglo und ließen die Schneevargwas frei jagen. Das Vertrauen der Hosho in ihre zotteligen Zugtiere fand ich immer wieder erstaunlich. Doch sie kamen wirklich immer wieder zurück. Die Rast dauerte genauso lang, wie die Vargwas für ihre Jagd brauchten. Noch mehr erstaunlich war die Tatsache, dass die Vargwas vier größere Brocken Fleisch für jeden von uns in ihren Maultaschen mitbrachten. So konnten wir frische Vitamine und Stärke für die Weiterreise tanken. Mein Magen hatte sich bereits an das rohe Hosho-Essen gewöhnt. Es gab auch keinen Ekel mehr in mir, dass das Fleisch zuvor im Maul eines Vargwas gelegen hatte. All das war mir mittlerweile schon zur Gewohnheit geworden.
Mir fiel auf, dass die drei Hosho ungewöhnlich ruhig waren. Es gab so gut, wie keine Gespräche zwischen ihnen oder mit mir. Etwas schien sie zutiefst im Inneren zu bewegen. Etwas, dass sie nicht auszusprechen wagten.
Insgesamt fuhren wir siebzehn Tage und Nächte, machten viermal Rast und trotzten der bitteren Kälte noch drei weitere Tage versteckt in einer kleinen Höhle während eines Schneesturms. Erst danach erkannte ich das wahre Ziel unserer Reise wieder. Der Riesenberg, der seinen Namen nicht von ungefähr hatte. Ein wahres Monstrum von einem Berg. Er türmte sich vor uns auf, wie eine Urgewalt. Die Spitze lag hinter einer dicken Wolkenschicht verborgen. Und genau dahin wollten wir.
Ich fragte mich unweigerlich, mit welcher Kletterausrüstung wir das schaffen sollten und natürlich auch, was mit den Vargwas geschehen würde, während wir den Berg bestiegen. Aslawana winkte nur ab und versuchte mich mit einer einfachen Hosho Weisheit zu beruhigen. Sorgen sind unnütz. Die jüngeren Hosho lachten, während sie die Schlitten entluden. Es sollte sich später herausstellen, dass meine Sorgen tatsächlich unnütz waren. Denn die Vargwas warteten geduldig am Fuße des Berges auf uns. Und um die Spitze des Berges zu erreichen, brauchten wir keine Ausrüstung. Es gab einen verborgenen Pfad. Zugegebenermaßen war ich als Emblischon gegenüber den großen und starken Hosho im Nachteil beim Aufstieg, jedoch besaßen sie die Freundlichkeit mich von Zeit zu Zeit zu tragen. Manchmal machten wir auch längere Pausen, damit ich wieder zu Kräften kam. Den Hosho war keine Müdigkeit anzumerken, falls sie überhaupt müde waren. Im Gegenteil, sie versprühten eine Vorfreude und Aufregung, die ich selten zuvor bei ihnen wahrgenommen habe.
Der für mich mühselige Aufstieg dauerte weitere sieben Tage und sechs Nächte.