Als wir die Wolken um uns herum endlich durchbrochen hatten, erkannte ich, dass der Riesenberg keine Spitze hatte, sondern eine Art Plateau. Der Gipfel war tatsächlich völlig flach und so groß an Fläche, dass ein typischer Kreuzer der Emblischon dort hätte landen können. Außerdem sah das Plateau aus, als wäre es künstlich erschaffen worden, geschliffen und abgetragen sozusagen. Natürlich sprach ich die Hosho darauf an. Diese lachten wieder mal nur. Eine Antwort blieben sie mir allerdings schuldig. Nachdem ich das Plateau ausgiebig erkundet habe und mich an der herrlichen Aussicht über den Wolken genug berauscht hatte, fragte ich sie, was wir hier eigentlich tun wollten. Luibwa, der jüngere Hosho sprach mit mir. Er meinte, dass wir eine Zusammenkunft erleben würden. Das sei etwas ganz Besonderes. Die meisten Hosho erlebten dies nur ein bis zweimal im Leben. Da dachte ich, dass mich meine Übersetzungsfähigkeiten wegen Sauerstoffmangel im Stich gelassen hatten. Denn Luibwa sprach von der Begegnung mit dem Göttlichen und benutzte mehrmals das Wort für Engel, dass ich aus ihren alten Liedern kannte. Als dann Dudolok und Aslawana dazukamen, befragte ich sie ebenfalls. Mein natürlicher Anstand versagte gänzlich zu diesem Zeitpunkt. Die Hosho wollten mir tatsächlich erzählen, dass wir hier auf den höchsten Berg geklettert seien, um Engel zu begegnen. Ich erklärte ihnen detailliert, wie ihre Weltensphäre aufgebaut war. Und außerdem zeigte ich ihnen den Himmel über uns, der durch eine Art Schutzschild vom Kosmos getrennt war. Dann erklärte ich ihnen, dass die moderne Wissenschaft herausgefunden hat, dass Sonnen, Monde und Sternengebilde lediglich Projektionskörper seien, die am Schutzschild schimmerten. Insgesamt hielt ich ihnen einen einstündigen Vortrag, warum es sowas wie Engel nicht geben konnte. Die Hosho waren überhaupt nicht beeindruckt und lachten nur. Ihr Lachen war nicht rau oder herablassend, sondern herzlich, wie immer. Sie hatten auch gut lachen, denn sie wussten etwas, dass ich nicht wusste.
Ich erwartete sowas wie ein Feuer und psychogene Drogen, die uns eine Art übernatürlicher Begegnung suggerieren würden. Aber nichts da. Wir legten uns einfach schlafen. Die Engel kämen erst, wenn wir schlafen würden, hatten die Hosho gesagt. Um der Kälte zu trotzen, wickelte ich mich in ganze drei Hoshofelle. Lange lag ich noch wach in dieser Nacht und dachte über das Gesagte nach. Was soll ich nun schreiben? Die Engel kamen nicht. Nicht in dieser Nacht zumindest. Das bestätigte natürlich meine Vermutung. Es konnte ja auch nicht anders sein.
Aber schon am nächsten Abend bekam mein sorgsam aufgebautes Weltbild einen gewaltigen Knacks. Den ganzen Tag über verhielten sich die drei Hosho sehr zurückhaltend, sie redeten nicht und meditierten offensichtlich. Da mein Anstand wieder zu mir zurückgekehrt war, ließ ich sie einfach gewähren und beschäftigte mich mit der Kartografie der vor mir liegenden Gebirgskette, die ich vom Plateau aus wunderbar zeichnen konnte. Die Wolkendecke hatte sich verzogen und gab einen wunderbaren Blick auf die Landschaft frei. Diese kartografischen Zeichnungen zählen zu den schönsten Arbeiten, die ich je angefertigt habe. Was für ein Ausblick das war.
Als der Abend kam, genoss ich die Wärme des Lagerfeuers, dass die Hosho geschürt hatten. Noch immer waren die Hosho sehr schweigsam. Ich bemühte mich trotzdem, sowas, wie ein Gespräch mit ihnen zu führen. Aslawana war so freundlich und antwortete mir. Ich fragte ihn, ob wir vielleicht von Engeln träumen werden oder eine Art Vision erleben werden. Er verneinte das und alle weiteren Vorschläge, die ich machte, ebenfalls. Ich konnte mir durch meine vielen Erlebnisse durchaus vorstellen, wie man Übernatürliche Begegnungen vortäuschen konnte, aber aus den Hosho wurde ich einfach nicht schlau. Nach einer Weile gab ich frustriert auf und stellte die Fragerei ein. Dann bat mich Aslawana seinerseits, ob er mir ein Paar Fragen stellen dürfe. Ich bejahte das und war ziemlich überrascht. Aus meiner bisherigen Erfahrung auf Hoshobel, waren Hoshokinder, die einzigen, die Fragen stellten. Die Erwachsenen lebten eher in einer fatalistischen und genügsamen Art und Weise ihr Leben. Fragen gab es kaum. Selbst ich als Fremder musste mich selten irgendwelchen Fragen stellen.
Bis heute habe ich die drei Fragen, die mir Aslawana stellte, nicht vergessen. Zunächst wollte er wissen, ob wir Emblischon an Yashawa glauben. Ich versuchte die Frage so ehrlich, wie nötig und gleichzeitig so einfach wie möglich zu beantworten. Von unseren volkstümlichen Traditionen, den legendären Berichten und der allgemeinen Auffassung, dass Gebete in der Not halfen, was bei den Emblischon weit verbreitet war, davon berichtete ich ihnen. Außerdem erzählte ich ihnen von unseren großen Versammlungshallen, in denen auch gebetet wurde. Allerdings konnte ich mir nicht verkneifen, zu erwähnen, dass mittlerweile viele Emblischon ein aufgeklärtes, säkulares Leben führten und trotzdem moralisch, hoch anständig waren.
Die Hosho hörten mir aufmerksam zu, unterbrachen mich nicht und warteten geduldig, bis ich meinen Vortrag beendet hatte. Sie wussten bereits, dass ich zu vielen Worten imstande war. Es schien sie aber nie zu stören. Die zweite Frage war persönlicher Natur. Aslawana wollte wissen, ob ich jemals gebetet hätte in meinem Leben.
Obwohl ich die Antwort natürlich wusste, überlegte ich eine Zeit lang, ob ich ehrlich antworten sollte. Heute bin ich sehr froh, dass ich es getan habe. Ein zögerliches Ja kam über meine Lippen. Ich erinnerte mich an die Momente, in denen ich aus purer Verzweiflung heraus zu Gott geschrien hatte. Kurz und bündig erzählte ich ihnen davon und verstummte dann sehr nachdenklich.
Das Feuer erlosch bereits und die Kälte kam wieder die Knochen hochgekrochen. Das dritte Hoshofell gab mir die Wärme zurück, die ich brauchte. Und mit dem dritten Hoshofell kam auch die Dritte Frage.
Mit so einer direkten Frage hätte ich nicht gerechnet. Aslawana fragte mich tatsächlich, ob ich bereit wäre, heute Nacht meinen Schutzengel zu treffen. Ich schaute der Reihe nach alle drei Hoshos an und versuchte zu ergründen, ob ich ihre Art Humor nur nicht verstand, oder Aslawana es tatsächlich ernst meinte.
Ich war wirklich amüsiert und antwortete überheblich mit; ja klar, warum nicht?
Die Hosho schauten sich gegenseitig an, nickten sich zu und drehten sich zum Schlafen weg. Aslawana meinte noch bevor er einschlief; so sei es.
Höchst fasziniert und doch todmüde schlief ich unter dem herrlichen Sternenzelt ein.