Wir fordern von Springer: daß seine Zeitungen die antikommunistische Hetze gegen die Neue Linke, gegen solidarische Aktionen der Arbeiterklasse wie Streiks, gegen die kommunistischen Parteien hier und in anderen Ländern einstellen; daß der Springerkonzern die Hetze gegen die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt einstellt, besonders gegen die arabischen Völker, die für die Befreiung Palästinas kämpfen; daß er seine propagandistische und materielle Unterstützung für den Zionismus - die imperialistische Politik der herrschenden Klasse Israels einstellt; daß die Springerpresse aufhört, über die ausländischen Arbeiter hier rassistische Lügenberichte zu verbreiten.
Wir verlangen, daß die Springerpresse diese Erklärung abdruckt.
Wir verlangen nichts Unmögliches.
Wir werden unsere Aktionen gegen die Feinde des Volkes erst einstellen, wenn unsere Forderungen erfüllt sind.
Enteignet Springer!
Enteignet die Feinde des Volkes! Kommando 2. Juni
- aus der Erklärung vom 20 Mai 1972 -
19.5.1972, Hamburg
Als sich die Tür ruckartig öffnete und abgehetzte Atemzüge erklangen, schauten alle, die im Wohnzimmer über den Plänen saßen, auf. Ein Mitglied, dessen Name Ingrid unbekannt war, stand in der Tür und blickte in die Runde.
„Eine Schießerei…“, keuchte er, „In Augsburg.“
Irgendjemand sprang auf und schaltete den Fernseher ein, aber Ingrid bekam es gar nicht richtig mit. Hermann war in Augsburg…Zusammen mit Andreas und Jan-Carl. Vor zwei Wochen war ihr Freund in seine Heimat zurückgekehrt, um dort den Kampf vorzubereiten, so wie sie es hier in Hamburg tat. Die Sorge um ihn zerdrückte ihr das Herz, ließ ihren Atem stocken und Schweiß sich in ihrem Nacken ansammeln.
Erst als jemand aufschrie, wandte sie sich um und blickte ebenfalls auf den Fernseher.
„Bei der darauf folgenden Schießerei, bei der die Flüchtigen rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch machten, wurden zwei Polizisten leicht verwundet und einer der drei Männer tödlich getroffen. Seine Identität ist noch nicht zweifelsfrei festgestellt, doch wird vermutet, dass es der aus Augsburg stammende Hermann Schulte ist, der seit zwei Jahren untergetaucht zu sein scheint. Bei einem der entkommenden Schützen könnte es sich zudem um Andreas Baader handeln, einen der Anführer der Terror-Gruppe. Erst vor zwei Tagen wurde Thomas Weisbecker, ein anderes Mitglied der Baader-Meinhof-Bande am Hohen Weg erschossen.“
Der Ton wurde leiser gedreht und jemand sagte leise: „Scheiße!“
Ingrid saß wie erstarrt da. Tränen rannen ihr über das Gesicht und ihre Fingernägel ritzten blutige Muster in ihre Handflächen. Nun hatte der Schießbefehl also auch Hermann das Leben gekostet, nachdem schon Petra und Georg das Jahr zuvor und vor zwei Tagen auch Thomas ihm zum Opfer gefallen waren. Die Genossen Astrid, Manfred und Wolfgang hatte es noch schlimmer erwischt, sie waren Gefangene jenes Staates, der von Polizeigewalt geleitet wurde und seiner Willkür ausgesetzt.
Sie spürte den Zorn in sich, Kälte, die alles bedeckte, was zuvor noch gezweifelt hatte und den Weg, der vor ihr lag, klar offen legte. Hermann vermisste sie jetzt schon, doch war er für einen gerechten, guten Kampf gestorben und das gedachte auch sie zu tun. Es gab keine Alternative. Die Genossen brauchten sie.
„Dafür werden sie büßen“, erklärte Ingrid mit fester Stimme und nickte mit grimmigem Gesichtausdruck. „Wir werden ihnen zeigen, dass sie nicht straflos, welche von uns umbringen dürfen, weil wir dann zurückschlagen und zehnmal mehr töten. Die Revolution ist nicht zu stoppen, denn entlarvt dies nur das Gesicht des Polizeistaates, der gegen uns, die wir für die Freiheit kämpfen, einen Schießbefehl verhängt.“
Jemand, Hannes, drückte ihr ein Glas in die Hand. Sie hob es, schaute den Versammelten in die Augen. „Auf Hermann und die Freiheit, für die er sein Leben gab!“
Bitter rann der Trunk ihr die Kehle hinab, aber sie genoss es, weil es sie härter machte und der Schmerz, den sie fühlte, sie endgültig zu einer wahren Revolutionärin werden ließ.
Ingrid schüttelte die Gedanken an Hermann ab und den Tag vor zwei Wochen, als sie von seiner Liquidierung durch diesen faschistischen Polizeistaat gehört hatte, den sie heute bekämpfen würde.
Ihr Blick wanderte die Fassade des Springer-Hochhauses empor, jenes Gebäude, das wie kein anderes für sie in Hamburg Unterdrückung und Hass bedeutete. Die Springer-Presse war es, die Lügen über die Studentenbewegung veröffentlicht hatte und das Proletariat gegen die guten Ideen der Bewegung aufgehetzt hatte. Und es war die Springerpresse gewesen, die solange gegen Rudi Dutschke gehetzt hatte, bis tatsächlich jemand ihren Aufrufen gefolgt war und den Anführer der APO niedergeschossen hatte. Sie dachte an die Pflegerin in dem Hamburger Krankenhaus, die sich so fürsorglich um Anh gekümmert hatte, doch von der Bildzeitung so verblendet war, dass sie die guten Absichten der Studenten nicht hatte erkennen können. Und es lag in Ingrids Hand, das jetzt und hier zu ändern.
Hannes nickte ihr zu. Er war der Genosse, der dafür eingeteilt war, das Gebäude von außen zu überwachen, während Ingrid zu jenen gehörte, die die Bomben platzieren würden. Sie straffte die Schultern und trat ein in die Eingangshalle des Gebäudes. Menschen, die ihr entgegen kamen, sich unterhielten und so fremd wirkten, wie sie in die Bild starrten und Ingrid mit hochmütigen Blicken musterten.
„Verzeihung?“ Eine Frau beugte sich von einem Tresen zu ihr hinunter. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
Nervös zwirbelte Ingrid eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern und drückte die Mappe an ihre Brust.
„Ich studiere Journalistik und würde gerne bei Ihnen ein Praktikum machen. Um sicherzugehen, dass die Bewerbung auch ankommt, würde ich sie gerne persönlich abgeben.“
Die Empfangsdame nickte, dann sah sie auf die Uhr.
„Wenn Ihr Euch beeilt, könnt Ihr es noch gleich zu Herrn Pohls Büro bringen. Er ist auch für Praktika zuständig.“
„Wo finde ich ihn denn?“ Natürlich wusste sie, durch Erkundigungen schon wo das Büro des Herren war, doch je ausgeklügelter die Verkleidung, desto weniger würden die Bullen sie später identifizieren können.
Die Empfangsdame wandte sich schon wieder ihren Unterlagen zu. „Am Ende des sechsten Stockes.“
Ohne ein weiteres Wort ging Ingrid davon und steuerte einen der Fahrstühle an. Sie hatten einen straffen Zeitplan und je schneller sie fertig war, desto besser. Zwei junge Frauen stiegen mit ihr ein, unterhielten sich leise und warfen immer wieder Blicke auf Ingrid. Sie bemerkte, wie ihre Hände weiß wurden. Hatten sie etwas bemerkt? Spürten sie den Tod, der in der Tasche auf ihrem Rücken tickte? Vergiss die Angst, dachte sie, Der Revolutionär kennt keine Angst. Und dennoch war sie da, unerbittlich.
Doch stiegen die beiden Frauen schon im vierten Stock aus und nur der ältere Herr, der im dritten Stock zugestiegen war, verließ den Fahrstuhl mit ihr im sechsten. Er schenkte ihr ein knappes Nicken, doch sie ignorierte ihn und ging durch den Gang. Als ein Schild das Büro von Herrn Pohl ausschilderte, ging sie weiter und bog in die Damentoilette ein.
Als sie wieder hinaustrat, hatte sie nur noch eine leere Tasche bei sich.
Hannes wartete vor dem Gebäude auf sie.
„Die anderen sind noch drinnen“, erklärte er, „Aber noch liegt alles im Zeitplan.“
„Sehr gut.“ Ingrid nickte. „Ich geh zum Wagen. Viel Glück dir!“
Ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht und er meinte: „Ich bin gut genug, um es auch ohne Glück hinzukriegen.“
Sie zuckte nur mit den Schultern. „Wenn du das sagst.“
Es schien, als ob er noch auf etwas wartete, aber Hannes war nun einmal nicht Hermann und so wandte sie sich mit ausdrucksloser Miene ab.
Im Auto, einem Alfa Romeo, befand sich nur der Fahrer, ein schweigsamer Mann, von dem Ingrid nur den Tarnnamen kannte.
Immer wieder wanderte ihr Blick zur Uhr. Sie hatte die Bombe platziert und damit ihren Job getan, dennoch verdammte sie ihre Untätigkeit. Katja gesellte sich mit einem anderen Mann, dessen Namen Ingrid nicht kannte, zu ihnen und die beiden ließen sich neben ihr auf die Rückbank sinken. Der Zeiger wanderte weiter und überschritt die sechs. Nun war es jeden Moment so weit. Dann um 15.41 erschütterte eine Detonation das Verlagsgebäude. Ein Loch wurde auf Höhe des dritten Stocks in die Außenwand gerissen und Steine prasselten auf den Gehsteig. Menschen, die schrieen und sich duckten, das Loch, die Rauchwolke, all das war Musik in Ingrids Ohren und die Gewissheit, dass Hermann gerächt war, erfüllte sie.
Auf einmal wurde die Beifahrertür aufgerissen und Hannes stürzte herein.
„Diese verdammten Idioten!“, fluchte er, „Ich habe angerufen, sie gewarnt und was machen sie? Evakuieren das Gebäude nicht! Keine Arbeiter haben wir gesagt, keine Arbeiter.“
„Ist doch egal“, entgegnete der Mann neben Ingrid gleichmütig, „Bombe ist Bombe.“
„Systemträger ja, aber keine…“, brauste Hannes auf, aber Ingrid übertönte ihn, als sie den Fahrer anschrie: „Jetzt fahr doch endlich los!“
Ohne etwas zu entgegnen, drückte der Mann auf das Gaspedal und sie verließen den Tatort.
„Was ist mit Ulrike?“, fragte Katja, „Wann kommt sie?“
„Bald“, erklärte Hannes ungehalten und wandte sich erst wieder um, als hinter ihnen eine zweite Detonation das Hochhaus erschütterte.
„Es waren nur zwei Bomben, oder?“, durchbrach Katja die Stille, „Es sind nur zwei explodiert! Aber was ist mit den anderen dreien?“
„Die entscheidende Frage ist doch“, mischte Hannes sich ein, „ob wir das Oberschwein erwischt haben, oder nicht.“
Katja zuckte die Schultern. „Ich hab die Bombe hinter einem Sessel versteckt, nur wenige Meter von seinem Arbeitszimmer entfernt. Wenn sie explodiert ist, muss es ihn erwischt haben. Aber vom Bombenbau habe ich nur wenig Ahnung.“
„Wenn wir Axel Springer gekriegt haben, wäre das ohne jeden Zweifel ein deutliches Zeichen für unsere Sache und würde viele Studenten, die die Hetze Springers miterlebt haben, sich solidarisieren lassen.“ Hannes nickte, offenbar mit sich zufrieden. „Das würde selbst die toten Arbeiter aufwiegen.“
Ingrid war erleichtert, als sie die konspirative Wohnung erreichten, in der sie momentan lebten, denn die Polizeistreifen waren stärker vertreten, als sie gedacht hatte.
Hinter Katja trat sie ein und ließ sich sogleich vor den Fernseher sinken, der eingeschaltet war.
„Es sind nur zwei Bomben explodiert“, erklärte ein Mitglied und zeigte mit einem halben Würstchen in der Hand auf dem Fernseher.
„Wo sind sie explodiert?“, fragte Katja.
„Eine im dritten und eine im sechsten Stock.“
Hannes ließ seine Faust gegen die Wand krachen. „Verdammt!“ Mit zornigem Gesichtsausdruck ließ er sich auf den Boden sinken und starrte auf das Blut, das seine Hand hinabtropfte. Der andere Mittäter war da nicht ganz so entspannt. Er stapfte auf Katja zu und zog sie an den Haaren hoch.
„Was war’n das für ne Arbeit, Miststück?“ Ausdruckslos sah sie ihn an. „Ich erledige Springer schon! Bei so ner Ansage, erwarten wir auch Tatkraft! So was können wir bei uns nicht gebrauchen!“
Ein schmales Lächeln zog sich über Katjas Gesicht, auch wenn der feste Griff wehtun musste. „Schieß dir da mal nicht ins eigene Bein. Du hast doch eine im zweiten Stock versteckt, die ist auch nicht explodiert!“
Für einen Moment musterte er die junge Frau, doch dann ließ er sie nach einem verächtlichen Aufschnauben los. Katja zog nur die Augenbrauen hoch und ließ sich ohne ein weiteres Wort wieder vor den Fernseher sinken.
Die Gemeinschaft versank in Schweigen, bis Hannes sagte: „Nur verletzte Arbeiter, man. Das können wir doch besser! Die in Frankfurt haben einen verdammten Ami erledigt und wir nur Arbeiter, die’s sicher verdient haben, aber eben keine Systemträger sind. Wir müssen besser pl…“
„Pass auf, was du sagst“, mischte Katja sich ein, „Die Gruppe macht keine Fehler, nur der Einzelne, aber das Konzept ist richtig.“
„Natürlich“, erklärte Hannes eilig, der genau wusste, dass Katja es war, die den Kontakt zu Andreas und Jan-Carl aufrechterhielt. „Es war ein Anfang, ein guter Anfang, auf dem wir aufbauen können.“
„Richtig.“ Sie nickte und starrte erneut auf den Fernsehbildschirm, wo soeben Verletzte gezeigt wurden und Menschen sich weinend in die Arme schlossen.
„Was für Memmen“, kommentierte sie und ließ Ingrid von ihrem Buch aufsehen, „Beschwören den Terror bereitwillig auf andere herab, aber wenn sie mit ihm im eigenen Haus konfrontiert werden, stehen sie nur fassungslos da.“
Erneut senkte sich Stille über die Gruppe, denn niemand mochte so wirklich Triumph empfinden, wo sie doch den Springer nicht erwischt hatten und niemand wollte etwas Falsches sagen.
Ingrids Blick fiel wieder auf das Buch in ihrem Schoß, jenes, was ihre Schwester ihr vor zwei Jahren bei ihrer letzten Begegnung geschenkt hatte. Der Lübecker Christenprozeß 1943. Eigentlich hatte sie sich geschworen, es bei der nächsten Gelegenheit fortzuwerfen, doch hatte Maria ein zu spannendes Thema gewählt, als dass sie ihm hätte widerstehen können. Der mutige Widerstand einiger Christen gegen das Nazi-Regime hatte sie schon immer interessiert und bestärkte sie zudem nur in ihrem eigenen Kampf.
„Hör mal.“ Katja tippte sie an und Ingrid sah von ihrem Buch auf. „Da Ulrike sich verspätet, dachte ich, dass du schon mal das Bekennerschreiben vorformulieren kannst. Natürlich wird Ulrike das letzte Wort haben, aber dann hat sie schon einmal eine gute Grundlage, auf der sie arbeiten kann.“
„Sehr gerne!“ Ohne zu zögern, sprang Ingrid auf und warf ihr Buch zur Seite.
Jetzt konnte sie endlich mit Worten ihre Überzeugungen darlegen, damit auch der allerletzte
Student verstand wie ernst es ihrer Gruppe war und für wen sie kämpften.
Sie holte ihre Schreibmaschine aus ihrer Tasche und stellte sie auf den Kückentisch, nachdem sie einen Haufen Blätter zur Seite geschoben hatte. Was sollte sie schreiben?
Nachdenklich griff sie in ihre Hosentasche und erspürte die Kanten des „enteignet Springer“ Ansteckers, den sie seit vier Jahren ständig mit sich rum trug. Ein Lächeln zog sich über ihr Gesicht, ja sie wusste, was sie schreiben wollte. Enteignet Springer! Enteignet die Feinde des Volkes! Das würde ohne Zweifel ein guter Schluss sein. Natürlich galt es zuvor das Bedauern über die verletzten Arbeiter auszudrücken und Springer die Schuld dafür zuzuschieben. Das würde nicht weiter schwer sein, die Springer-Presse war bei den Studenten verhasst genug, so dass sie alles in die Hand nehmen würden, um Springer mit Schmutz zu bewerfen.
Mit einem Lächeln legte sie ein Blatt Papier in die Schreibmaschine und begann zu tippen. Nun fühlte sich ihr Leben endlich sinnvoll, endlich erfüllt an. Wusste sie doch, für was und wen sie kämpfte. Das musste sie sein.
Freiheit.