Wir haben uns entschieden, dass wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen. Das heisst, wir werden Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat für den jetzt notwendigen Prozess einstellen.
Aus der RAF-Erklärung vom 10.4.1992
5.9.1993, Lübeck
Achtzehn Jahre später stand Maria erneut vor dem grauen, tristen Gebäude der Justizvollzugsanstalt Lübeck. Achtzehn Jahre des Wartens, die heute ein Ende finden würden. Denn heute, heute war der Tag, an dem man Ingrid entlassen würde. Noch immer wusste Maria nicht genau, was sie davon halten sollte. Eigentlich hätte ihre Schwester noch zwei Jahre absitzen müssen, doch war sie frühzeitig begnadigt worden.
Wem würde sie gegenüberstehen? Einer Fremden oder jener Schwester, die ihr einst versprochen hatte, dass sie immer zusammen gehen würden?
Der Kontakt zu Ingrid war nicht regelmäßig gewesen. Immer wieder hatte ihre Schwester den Kontakt abgebrochen und wieder aufgenommen.
Gesehen hatten sie sich nach der Besetzung der deutschen Botschaft erstmals Ende August 1977. Diese Begegnung schien eine Wiederholung des vorigen Treffens zu sein. Jede Menge Anklagen, Geschrei und erneut eine Abschiedserklärung Ingrids. Und wieder war diesem Treffen eine schreckliche Tat der RAF nachgefolgt. Der Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer wurde entführt und auch diese Tat sollte erneut der Freipressung inhaftierter Mitglieder dienen – auch Ingrids Freilassung war gefordert worden.
Als die Bundesregierung nicht auf die Forderungen eingegangen war, hatte ein befreundetes Kommando von Palästinensern ein Flugzeug – die Landshut - entführt. Zum Glück wurden alle Geiseln von der deutschen Eliteeinheit GSG 9 befreit und die RAF-Freipressung scheiterte wiederum. Noch in derselben Nacht beging die RAF-Spitze Suizid in Stuttgart-Stammheim, was vom Unterstützerfeld selbstverständlich sofort als Staatsmord bezeichnet worden war. Kurz darauf wurde die Leiche Hanns-Martin Schleyers gefunden.
Im September 1981 fand das nächste Treffen statt, kurz nach dem Anschlag auf das US-Hauptquartier der Landstreitkräfte in Ramstein. Wieder beherrschten laute Diskussionen das Gespräch – und doch hatte Ingrid sich verändert. Sie hatte weder Zweifel an der Ideologie, noch Reue an ihren Taten gezeigt, doch waren für ihre Schwester genug Zeichen auf eine veränderte Meinung zu erkennen gewesen. Liquidierung und Staatsmord waren weiterhin beständige Begriffe ihres Wortschatzes und die Diskussionen weiterhin lautstark gewesen, aber es hatte vereinzelte Momente gegeben, wo die Atmosphäre sich gewendet hatte. Momente, in denen Ingrid etwas wie „Wir kämpfen für, nicht gegen das Volk“, „Der Preis meiner Freiheit soll nie der Tod von Kindern sein“ oder „Die Befreiung des Proletariats war unser ursprünglichstes und reinstes Ziel“ gemurmelt hatte. Schließlich hatte Maria verstanden, dass ihrer Schwester die Flugzeugentführung 1977 missfallen hatte – weil die Passagiere einfache Zivilisten gewesen waren.
Für Maria war das ein Anfang gewesen, der Hoffnung machte. Ihr nächstes Treffen war Anfang August 1985, erneut nach einem Anschlag der RAF, dieses Mal auf die Rhein-Main Air Base. Auch hier hatte eine Tat Ingrids Rechtsempfinden und ihre Moralität, die sie auf eine verquere Art und Weise immer noch besaß, erschüttert. Den Mord an dem US-Soldaten Edward Pimental einen Tag vor dem Anschlag, nur um an seinen Ausweis zu gelangen. Wieder hatte sie keine direkte Kritik an ihrer Gruppe geleistet, doch hatte sie Argumente weitaus weniger leidenschaftlich vorgetragen als früher, so als ob sie müde sei.
Nach dieser Zeit war der Briefkontakt zwischen ihnen rege gewesen, doch erst 1992 hatte Ingrid um ein weiteres Treffen gebeten. Für ihre Verhältnisse aufgeregt hatte sie Maria von der Kinkel-Initiative erzählt. Der Bundesjustizminister Klaus Kinkel hatte den RAF-Häftlingen Haftentlassungen angeboten, sofern die Illegalen von weiteren Anschlägen und Operationen absahen. Sie hatte es nicht ausgesprochen, doch Maria hatte ihr angesehen, dass sie darauf eingehen wollte. Tatsächlich hatte die RAF darauf auf weitere blutige Taten verzichtet – nur gegen die JVA Weiterstadt war im März dieses Jahres ein Sprengstoffanschlag verübt worden. Menschen waren dabei nicht verletzt worden, das Wachpersonal der noch nicht in Betrieb genommenen JVA wurde nur gefesselt und gewaltsam aus dem Gebäude gebracht, bevor die Sprengladungen explodierten.
Bisher war das die letzte Tat der RAF gewesen und Maria hoffte, dass dem auch so blieb.
Ein letztes Mal betrachtete sie sich im Außenspiegel des Wagens und strich sich eine Haarsträhne zurück, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. Du bist erwachsen, Maria. Du musst dich nicht klein machen, um ein wenig Liebe von deiner Schwester zu erhalten. Franks Worte, die ihr durch den Kopf schossen. Als ihr Ehemann ihr die Worte entgegengeschleudert hatte, war sie davon gelaufen, hatte die Tür zugeknallt, sich die Leine ihrer Schäferhündin geschnappt und war hinaus. Dann hatte sie verstanden, dass es die Wahrheit war. All die Jahre hatte sie sich gewünscht, von ihrer Schwester zu hören, dass sie Maria liebte und `68 nicht wegen ihr gegangen war. All die Jahre hatte sie gehofft, dass Ingrid noch einmal jene magischen Worte in den Mund nahm, die sie gebrochen hatte und die Maria immer noch festhielt: Wir werden immer zusammen gehen.
Doch jetzt wusste sie, dass es nicht darauf ankam, was Ingrid sagte oder über sie dachte, sondern wie sie selber auf ihre Schwester zuging. Es ging darum, Liebe zu geben und nicht sie zu verlangen. Aber auch darum selbst gesunde Grenzen zu setzen, um sich nicht zu verlieren. Das hatte Frank ihr all die Jahre hatte sagen wollen und nun hatte sie es endlich verstanden.
Zum ersten Mal fühlte sie sich wirklich bereit, ihrer Schwester gegenüber zu treten.
Dann standen sie sich gegenüber. Sie kam alleine und blickte Maria an. Die Jahre im Gefängnis hatten Ingrid kaum altern lassen. Ihr Körper war immer noch schlank und die Haut straff. Keine einzige graue Strähne zeigte sich in ihrem Haar und wenn man nicht den veränderten Blick sehen würde, könnte man meinen, dass keinerlei Zeit vergangen war. Wachsamkeit und Misstrauen mischten sich mit Angst und Müdigkeit.
Wenn Maria es mit einem Wort beschreiben sollte, so würde sie sagen, dass der Blick ihrer Schwester sich verdunkelt hatte. Es war keinerlei Hoffnung oder Freude darin, nur Bitterkeit. Ingrid war erst dreiundvierzig, aber ihre Augen waren die einer alten Frau, die des Lebens überdrüssig war.
„Bist du alleine gekommen?“
Maria nickte.
Frank hatte gemeint, dass sie selbst erst entscheiden müsse, welche Rolle Ingrid zukünftig in ihrem Leben spielen solle, bevor er sich darüber Gedanken machte. Seine einzige Bedingung war gewesen, dass die Kinder vorerst ihrer Tante nicht begegneten. Nicht bevor sie sich über Ingrids jetzige Position zur RAF und zum Terrorismus bewusst waren. Darin waren sie beide sich einig gewesen.
Schweigen.
Dann räusperte sich Ingrid und fragte: „Wie alt sind deine Kinder jetzt?“
„Michaela ist vierzehn“, begann Ingrid, während sie über den Parkplatz liefen. „Sie ist schon so erwachsen und überzeugt mit ihren Argumenten fast jeden. Wenn sie sich einmal etwas vorgenommen hat, dann zieht sie das auch durch.“ Sie sagte nicht, dass ihre Älteste sie manchmal mit ihrer Zielstrebigkeit an ihre Schwester erinnerte, auch wenn sie viel rationaler war als Ingrid.
Maria schloss den Wagen auf und fuhr fort: „Matthias ist jetzt elf und sehr viel ruhiger und nachdenklicher. Wenn er sich zu Wort meldet, hat er das ganze Gespräch schon im Voraus durchdacht und nimmt dir die Argumente von den Lippen. Er zeichnet sehr gerne.“ Mit einem Lächeln dachte sie an ihren geliebten Sohn, der ihr als Kleinkind mit seinen Krankheiten und Problemen immer die meisten Sorgen bereitet hatte.
Sie blickte ihre Schwester an, die auf dem Beifahrersitz saß. Die braune Mappe, die sie schon beim Rauskommen in der einen Hand umklammert hatte, hielt sie immer noch fest.
„Du musst dich anschnallen“, bemerkte Maria und deutete auf den Gurt. „Es gibt jetzt eine Anschnallpflicht.“
Ohne ein Wort ließ Ingrid den Dreipunktgurt einrasten und nachdem Maria sich selbst angeschnallt hatte, startete sie den Motor.
„Manuela ist mit sieben das Nesthäkchen.“ Sie setzte den Blinker und verließ den Parkplatz der Justizvollzugsanstalt Lübeck. Ihre Schwester sah nicht zurück.
„Sie ist lebensfreudig und hält es nie lange an einer Stelle aus. Neugierig geht sie auf alles und jeden zu und probiert alles Mögliche aus. Sie kommt jetzt in die zweite Klasse und ist sehr aufgeregt.“
Ingrid nickte nur und sah aus dem Fenster, während sie durch die Straßen Lübecks fuhren. Wie mochte sich die Welt in den zwanzig Jahren, die sie hinter Gittern verbracht hatte, für Ingrid verändert haben? Meistens war der Wandel so schleichend gewesen, dass man ihn kaum richtig bemerkte, doch für Ingrid musste es ein Schock sein.
Maria mochte Lübeck, besonders die historische Altstadt mit den engen verwinkelten Gassen, den beeindruckenden Kirchen und den Fachwerkhäusern. Frank war hier geboren und aufgewachsen. Vor zwanzig Jahren hatten sie an der Untertrave am Hafen gesessen und Frank hatte ihr seinen Heiratsantrag gemacht. Mit einem Lächeln dachte sie an seine zitternden Hände zurück, durch die ihm fast der Ring ins Wasser gefallen wäre. Dennoch hatte sie angenommen und ihre Entscheidung seitdem nie bereut.
„Lübeck wurde 1987 zum UNESCO-Welterbe ernannt und die Bauwerke sind seitdem geschützt.“
Ihre Schwester nickte nur.
„Dort drüben wurde Willy Brandt geboren“, meinte Maria, „Meierstraße 16.“
„Ich hörte, dass er letztes Jahr gestorben ist“, erklärte Ingrid schließlich mit leiser Stimme. „Es tat mir leid. Er war ein mutiger Vordenker und Reformer. Wenn er auch einigen nicht radikal genug war, so habe ich ihn für seinen Widerstand in der NS-Zeit immer bewundert.“
„Ja.“ Maria nickte, auch wenn sie sich nicht immer hinter den Politiker gestellt hatte, wie es viele ihrer Generation getan hatten.
Ingrid räusperte sich
„Du hast mir 1970 ein Buch geschenkt“, meinte sie leise, „Der Lübecker Christenprozeß 1943. Ich besitze es immer noch und es hat mir immer Kraft gegeben, die Briefe der Märtyrer zu lesen, auch im Gefängnis. Für mich war Lübeck immer mit der Geschichte dieser vier Männer verbunden“
Es freute Maria, dass ihre Schwester dieses Buch noch immer besaß. Als sie es damals gekauft hatte, hatte sie gehofft, dass der geschilderte und mutige Kampf der vier Christen gegen den Tod, den Hitler brachte, ihre Schwester zum Umdenken bringen würde. Anscheinend hatte es die Positionen ihrer Schwester nicht umgekehrt, doch dass sie sich damit überhaupt beschäftigt hatte und es anscheinend noch immer tat, war ein Hoffnungsschimmer.
„An der Lutherkirche, wo Karl Friedrich Stellbrink bis zu seiner Verhaftung wirkte, müssten wir gleich vorbeikommen.“
Kurz darauf starrte ihre Schwester das Bachsteingebäude an, als ob sie noch die Gestalt des Märtyrers sehen und seine Schritte hören konnte. Als die Lutherkirche im Rückspiegel verschwand, wandte sich Ingrid zu ihrer Schwester: „Lass uns ein Spiel spielen, kleine Schwester“
Maria hoffte, dass Ingrid das idiotische Lächeln nicht bemerkte, das ihr Gesicht bei den letzten beiden Worten überzog.
„In Ordnung.“
„Welcher preußische General zog sich 1806 nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt nach Lübeck zurück?“
„Blücher“, entgegnete Maria, ohne zu zögern. „Apropos Blücher. Ich habe eine sehr interessante Biographie, geschrieben von Tom Crepon, über ihn gefunden. Aber wann war nun die Schlacht von Lübeck?“
„Das ist zu einfach!“, rief Ingrid enttäuscht aus und Maria freute sich diebisch über das Lächeln auf ihrem Gesicht.
„Frage ist Frage“, entgegnete sie.
„Sechster November 1806“, erklärte Ingrid, was ihre Schwester mit einem Lächeln quittierte. „Und durch den Fehler welchen Generals gelang den Franzosen die Einnahme der Stadt?“
Maria tat einen Moment so, als müsse sie überlegen, obwohl sie die Antwort ganz genau wusste: „Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig-Oels, der entgegen seiner Befehle die Artillerie nicht vor den Toren zurückließ, sondern sie in die Stadt zurückholte. Somit ließen sich die Tore nicht rechzeitig schließen und die Franzosen erstürmten die Stadt“
Ingrid nickte.
„Wie hieß der Mann, der in einem Brief an eine Verwandte Napoleons über die Ereignisse nach der Einnahme Lübecks berichtete?“
„Charles de Villers“, erklärte ihre Schwester nach kurzem Zögern, doch fügte sie keine Frage hinzu, sondern starrte aus dem Fenster.
Es war so einfach gewesen, die Vergangenheit bei diesem Fragespiel auszublenden, das aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Einer Zeit, als sie noch nicht gewusst hatte, wozu ihre Schwester fähig war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Hände, die unscheinbar und unschuldig im Schoß ihrer Schwester ruhten, das Leben eines Menschen ausgelöscht hatten.
„Wohin fahren wir?“
„Hamburg.“ Maria hatte erwartet, dass ihre Schwester etwas entgegnen, etwas fragen würde, doch sie schwieg.
Die Fahrt dauerte etwas mehr als eine Stunde und sie unterhielten sich über Belanglosigkeiten, mieden Themen wie die RAF, Politik und das Gefängnis.
Als Maria die Fahrzeugtür zuschlug und den Wagen abschloss, fragte Ingrid leise: „Was erhoffst du dir hiervon?“
Leise. Ingrids Stimme war leiser geworden, die einstige Stärke war kaum noch zu erkennen.
„Gemeinsame Erinnerung“, erwiderte ihre Schwester mit fester Stimme. „Erinnerst du dich noch an die Fahrt über die Elbe, wo du dich ständig übergeben hast und die Möwen Mutters Brötchen geklaut haben?“
Zu ihrer Freude ging Ingrid darauf ein. „Als wir am Hafen waren, wurde dein Hut ins Wasser geweht. Ein alter Mann hat ihn von seinem Fischkutter rausgefischt.“
„Stimmt!“ Maria lachte auf, während sie in eine kleine Gasse einbogen „Es war mein liebster Hut, denn er hatte eine rosa Schleife.“
Für einen Moment wusste sie nicht, was sie sagen sollte, doch es schien, als ob ihre Schwester kein Gespräch wollte. Mit glänzenden Augen sah sie sich in den Hamburger Straßen um, sog die Gerüche ein und starrte schamlos den Menschen hinterher. Als ein Kind auf dem buckligen Pflaster stolperte und hinfiel, war Ingrid noch vor der Mutter da, um ihm wieder aufzuhelfen. Doch dann schien irgendetwas geschehen, etwas schien sie zu erschrecken und die Ex-Terroristin wich zurück. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und kehrte zu Maria zurück. Doch beachtete sie ihre Schwester mit keinem Blick, sondern starrte nur ihre Hände an.
Die Mutter nahm das Mädchen in den Arm und verschwand, aber Ingrid starrte immer noch erschüttert auf ihre Hände.
Ohne etwas zu sagen, nahm Maria Ingrid wie ein kleines Kind an die Hand und führte sie bis zu einer Bank, die verlassen unter Linden stand. Sie setzten sich.
Nach einer Weile meinte sie leise: „Man fühlt sich nie wieder rein, nicht wahr? Man hat Angst, etwas so Reines wie ein Kind anzufassen, weil man es beschmutzen könnte. Ich…“ Ich habe niemanden ermordet, hatte sie sagen wollen, doch sprach sie es nicht aus. „Ich kann es verstehen.“
„Ich habe in Jordanien gesehen, wie sie Kinder mit Sprengstoffgürteln losgeschickt haben, nicht älter als dieses Mädchen. Diesen Kindern war jegliche Unschuld genommen worden.“ Warum musste ihre Schwester nur jeden kostbaren Moment zerstören, in dem sie wieder so etwas wie Nähe empfand?
„Und doch habt ihr euch dort ausbilden lassen.“
Das die RAF Verbündete im Nahen Osten hatte, war schon lange kein Geheimnis mehr. Spätestens seit der Entführung der Landshut durch Palästinenser war auch dem letzten Hinterwäldler bewusst geworden, dass der bewaffnete Kampf sich internationalisiert hatte. So war der Anschlag auf die Rhain-Main Air Base am 8.8.1985 von Terroristen der RAF und der französischen Action Directe gemeinsam durchgeführt worden.
Ihre Schwester zuckte mit den Schultern und ließ scheinbar gelassen die Beine baumeln. „Die DDR hat auch Menschen an den Grenzen erschossen, dennoch haben wir ihre Flughäfen benutzt. Der Feind meines Feindes ist mein Freund.“
Maria beugte sich vor, um ihrer Schwester direkt in die Augen zu blicken.
„Und was hast du gedacht, als du erfahren hast, dass die DDR euch nicht nur die Flughäfen zur Verfügung gestellt hat, sondern auch zehn RAF-Mitgliedern das Untertauchen mit neuen Identitäten ermöglicht hat?“
Wie sie berechnet hatte, ging Ingrid sogleich darauf ein. Nur kurz zögerte sie, als ob sie erahnte, dass ihre Schwester etwas plante. „Ich habe mich darüber aufgeregt. Man entscheidet sich mit seinem ganzen Sein für den Kampf und das Leben im Untergrund. Solche Memmen wie die Maier-Witt oder die Albrecht hätten nie in die RAF eintreten dürfen. Ein feines Leben war das in der DDR fern des Kampfes, dem sie sich verschrieben hatten. Die Albrecht hatte Kind und Mann, aber für mich wäre das nie eine Option gewesen. Es war Verrat an der Gruppe“ Sie schwieg kurz. „Die Albrecht habe ich sogar kurz kennen gelernt, als ich ’72 hier war. Schon damals erschien sie mir als zu willensschwach und schüchtern. Ich habe von der Hausbesetzung in der Ekhofstraße gehört, an der sie teilgenommen hat. Da waren zweihundert Menschen dabei, die etwas bewegen wollten, aber nicht den Mut hatten, eine klare, endgültige Grenze zu ziehen. Sie waren noch zu stark in ihrer bürgerlichen Identität verankert und haben deshalb versagt.“
„Dennoch habt ihr die Albrecht aufgenommen.“
Ingrid zuckte mit den Schultern. „Ich saß damals schon hinter Gittern, aber ich kann die Entscheidung der Gruppe durchaus verstehen. Wir brauchten sie, um die…Operation Big Money durchzuführen. Sie kannte die Familie und es war nur konsequent, dass sie zuvor Mitglied der RAF werden musste, um uns Zutritt zum Haus zu verschaffen“
„Spreche es aus“, forderte ihre Schwester mit bebender Stimme, „Sag den Namen des Mannes, den ihr damals ermordet habt“
Ingrid schnaubte. „Ich saß damals im Gefängnis.“
„Doch beharrt ihr bei den Prozessen immer darauf, dass alles von der Gruppe getan wurde und dass es keine Einzeltaten gibt“, führte Maria aus.
Ihre Schwester nickte. „Punkt für dich.“ Scheinbar gleichgültig fügte sie hinzu. „Und der Name des Mannes war Jürgen Ponto, ein Bankier, der die Kriege in der dritten Welt finanzierte und W…“
„Und doch hast du gerade gesagt, dass er ein Mann, ein Mensch ist. Du hast ihm Menschlichkeit zugesprochen, obwohl die RAF ihn in der Erklärung als Dreck bezeichnet. Wenn du Jürgen Ponto jetzt als Menschen ansiehst, musst du es auch immer gewusst haben.“
Für einen Moment starrte Ingrid sie nur an. Eine Maske von Überraschung auf dem Gesicht, die sich jedoch rasch mit Hohn mischte.
„Ah.“ Ein schmales Lächeln umspielte ihre Lippen. „Dein Mann, der Landtagspolitiker, hat dich das Diskutieren und die Argumente gelehrt. Sag, wie lebt es sich so auf Kosten des Staates?“
„Mit euren Anschlägen habt ihr viel mehr Kosten verursacht als der Abgeordnetengehalt meines Mannes“, entgegnete Maria ruhig, „Damit habt ihr dem Steuerzahler gewiss keine Freude gemacht. Allein bei dem Anschlag gegen Weiterstadt waren es 90 Millionen D-Mark, die der Steuerzahler aufgrund seines „Freiheitskampfes“ tragen musste.
„Die Freiheit“, knurrte Ingrid, „kann man nicht mit Geld aufwiegen. Und der Anschlag gegen Weiterstadt war eine Rückkehr zu den Wurzeln. Die RAF wird neu aufgestellt werden. Es ist ein Neuanfang.“ Sie musste in der Zwischenzeit vor Wut kochen.
„Erkenne endlich die Realität an, Schwesterherz.“ Marias Stimme war ohne jedes Zittern, aber die Worte waren scharf gesprochen. „Die RAF ist am Ende. Es ist vorbei.“
Zu ihrem Erstaunen diskutierte ihre Schwester nicht. Stattdessen entkam ein tiefer Seufzer ihren Lippen und leise erklärte sie: „Ich weiß.
Überrascht musterte Maria ihre Schwester. Doch Ingrid wich ihrem Blick aus und schloss die Augen.
„Ehre und Frieden macht es mich, Anteil an dem beendigten Kriege zu haben, die größte Zufriedenheit aber besteht darin, an dem abgeschlossenen Frieden keinen Teil zu haben.“
Es erzürnte Maria, dass Ingrid dieses Zitat, das ein Teil ihrer Jugend gewesen war, so beiläufig benutzte, um ihre Position zu untermauern. Die gemeinsame Geschichtsleidenschaft war immer etwas gewesen, das die Schwestern verbunden hatte und über die Maria immer wieder eine Brücke zu Ingrids Herz hatte schlagen können. Früher hätte sie Ingrid darauf hingewiesen, dass sie dieses Zitat komplett aus dem Kontext gegriffen hatte und dass sie diese Aussage Blüchers zum Wiener Kongress 1814/15 kaum mit der Kinkel-Initiative vergleichen könne. Doch jetzt wusste sie, dass diese Entgegnung die Fronten zwischen ihnen nur noch mehr erhärten würde.
„Viele sagen, dass sich die RAF am Ende zu sehr von ihren ursprünglichen Zielen entfernt hat“, wagte sie sich vorsichtig auf gefährlicheres Terrain.
Ihre Schwester ließ die Augen geschlossen, aber sie nickte.
„Ich habe mir die Bekennerschreiben der letzten Anschläge angehört. Die Rechtschreibung und die Formulierungen sind…einfach unschön, wenn man sie mit der wohlgefeilten Sprache der ersten Konzepte vergleicht.“
„Ulrike Meinhof war Journalistin“, ging Maria darauf ein. Auch wenn sie noch weit von dem entfernt waren, wo sie eigentlich hinwollte, war allein die Tatsache, dass sie über die RAF redeten, ohne sich anzuschreien, schon ein Fortschritt. „Sie wusste wie man mit Sprache umging.“
„Es ist nicht nur das. Auch Gudrun konnte schreiben und formulieren. Die Ideale der Studentenbewegung und der Gründer sind verloren gegangen. Die Mitglieder der dritten Generation und auch die meisten der zweiten Generation haben Gudrun, Andreas und Ulrike nie kennen gelernt. Sie sind einen Weg gegangen, von dem sie dachten, dass sie damit ihr Erbe weiterführen würden, ohne zu verstehen, dass sie sich damit von ihnen entfernt haben.“
„Was genau meinst du?“ Spreche es aus, Schwester! Lass die Vorwürfe, die Gedanken, die du all die Jahre mit dir herumträgst, endlich hinaus.
Abrupt öffnete Ingrid die Augen und hob nachdenklich ein heruntergefallenes Blatt vom Boden auf. Mit den Fingern begann sie es zu zerreißen. Ihre Schwester hatte noch nie stillsitzen können, wenn sie innerlich aufgewühlt war.
„Die Ermordung von Edward Pimental und die Flugzeugentführung hätten so nie durchgeführt werden dürfen. Sie...“ Das Blatt fiel zu Boden und Ingrid Atemstöße kamen nur noch ruckartig. „Sie…waren konträr zur Hauptlinie. Auch im Interesse der Öffentlichkeit hätten diese beiden Operationen nie so durchgeführt werden dürfen.“
„Du meinst, weil viele linke sich nach diesen beiden Taten von der RAF abgewandt haben?“
„Ja!“ Ihre Schwester nickte. „Genau das meine ich. Es war ein taktischer Fehler.“
„Und was ist mit dem Anschlag auf das Springer-Verlagshaus? Auch dort wurden Zivilisten verletzt.“ Jetzt waren sie an einem kritischen Punkt gelangt. Zuvor hatte es Ingrid zwar emotional berührt, doch an den Anschlägen, die sie bisher erwähnt hatten, war Ingrid nicht beteiligt gewesen. Anders beim Springer-Verlagshaus. Ingrid war bisher als einzigste Beteiligte identifiziert worden. Es betraf sie direkt – und war deshalb gefährliches Terrain.
Für einen Moment schwieg Ingrid. Kurz sah sie zu ihrer Schwester, doch dann sah sie rasch wieder weg.
„Genauso wie bei den anderen. Im Sinne der Öffentlichkeit hätte darauf verzichtet werden müssen. Es wurde zwar eine Warnung gegeben, die nicht beachtet wurde, doch im Nachhinein betrachtet, war diese Maßnahme ungenügend. Man hätte es so wie bei den Kaufhausbrandstiftungen machen sollen, so wie bei Weiterstadt.“
„Warum hast du es damals nie deiner Gruppe gesagt? Nie ausgesprochen, dass ihr auf Menschen schießt?“
Ingrid hielt es nicht mehr länger auf der Bank aus und sprang auf. Mit bebenden Fingern griff sie in die Jackentasche und zündete sich eine Zigarette an. Hastig nahm sie einen Zug und pustete den Rauch aus.
Sie bemerkte den missbilligenden Blick ihrer Schwester und erklärte seufzend: „Ich weiß, ich sollte es mir abgewöhnen“
Maria ging nicht auf Ingrids Ablenkungsversuch ein. „Lass uns ein Stückchen gehen“, schlug sie stattdessen vor. „Hier in der Nähe befindet sich ein Park mit wunderschönen Teichen.“
Ingrid nickte und gemeinsam setzten sie sich in Bewegung.
Nachdem sie ihrer Schwester einige Zeit gelassen hatte, fragte sie: „Warum hast du dich der RAF angeschlossen? Was war dein persönlicher Grund? Es muss doch etwas gegeben haben! Ich weiß, dass du in diesen Hermann verliebt warst, doch wäre ein Mann nie deine Hauptintention gewesen.“ Sie hatte die vorige Frage, die sie gestellt hatte, nicht vergessen. Jedoch sah sie, dass Ingrid noch nicht bereit war, eine Antwort zu geben und wollte das Gespräch nicht erlöschen lassen.
Aus den Augenwinkeln sah sie wie Ingrid die Hände zu Fäusten ballte.
Schließlich erklärte sie mit heiserer Stimme. „Ich habe ein Mädchen gesehen. Es war sogar hier in Hamburg. Ein vietnamesisches Mädchen, dessen Arme vom Napalm verbrannt waren und das in einem deutschen Krankenhaus lag. Ich glaube, dass ich ihr damals die Hoffnung wiedergeben wollte.“
Sollten all die Menschen nur gelitten haben, weil Ingrid einem Mädchen die Hoffnung wiedergeben wollte?
„Nein.“ Maria schüttelte den Kopf. „Das Schicksal des Mädchens hat dich ohne jeden Zweifel berührt, aber es war nicht dieser Grund.“
Sie durchschritten die eisernen Tore des Parks.
Maria sog die frische Luft ein und bog auf einen mit Kies bedeckten Weg ein.
„Der Grund war, dass du das Leid nicht ertragen konntest, das dieses kleine Mädchen verströmte“
Zögernd nickte Ingrid.
„Du konntest es nicht ertragen“, führte Maria aus, „weil es dich an deinen Vater erinnerte.“
Sie hob eine vergessene Puppe vom Boden auf und betrachtete nachdenklich die verblassten Farben. „Ich erinnere mich noch an viele Spiele und Theaterstücke, die wir zusammen gespielt haben. Häufig wolltest du Robin Hood oder Julian von den Fünf Freunden sein. Natürlich, wer wollte das nicht? Sie haben die Bösen besiegt und verkörperten die Gerechtigkeit.
Doch ich glaube, dass du sie spielen wolltest, weil sie dich an deinen Vater erinnerten oder an ihn, wie du ihn dir vorgestellt hast. Sie halfen den Guten, retteten sie vor Gefahren, so wie dein Vater Juden und Osteuropäer beschützt hat.“ Maria hielt inne und musterte aus den Augenwinkeln ihre Schwester, deren Gesichtszüge erstarrt waren.
„Als du dich der RAF anschlosst, wolltest du denselben Weg wie dein Vater gehen und ihn stolz machen.“
Ingrid beschleunigte ihre Schritte, als wollte sie vor jener Wahrheit fliehen, die Maria soeben ausgesprochen hatte. Dabei wussten sie beide doch, dass man ihr nicht entkommen konnte.
Scheinbar gelassen folgte Maria ihr, doch innerlich erzitterte sie vor Anspannung. Sie wusste, dass jetzt der Moment gekommen war. Wenn sie jetzt versagte, könnte sich ihre Schwester für immer von ihr abwenden und würde weiter an der verqueren Ideologie der RAF hängen bleiben. Aber die RAF hatte ihr schon zu viele Jahre der gemeinsamen Zeit gestohlen und Maria würde sich nicht noch mehr davon nehmen lassen.
Hoch ragten die Bäume zu ihren Seiten auf und bildeten einen Tunnel. Bunt gesprenkelte Blätter bedeckten den Boden und bildeten eine weiche Schicht, die jegliches Geräusch von Schritten schluckte. In der Ferne zwitscherten einige Vögel, aber dennoch ergriff Maria das eigenartige Gefühl, ganz allein mit ihrer Schwester zu sein. Die Autos, die lärmenden Menschen auf den Straßen, all das war weit entfernt in dieser Oase inmitten der Großstadt. Hier waren nur sie und ihre Schwester wie damals im Wald hinter dem Pfarrhaus, der ein Rückzugsort für sie gewesen war. Jener Rückzugsort, wo einst das Versprechen ausgesprochen worden war, an dem Maria noch immer festhielt. Wir werden immer zusammen gehen.
In diesem Moment kam ihre Schwester zurück. Laub raschelte unter ihren hastigen Schritten und die Herbstsonne ließ ihr Gesicht für einen Moment überirdisch leuchten. Doch dann war der Ausdruck fort und es blieb nur Schrecken und Entsetzen auf dem Gesicht einer Frau, die auf der Flucht war.
„Du hast mich auf einen Friedhof geführt!“, schleuderte Ingrid ihr entgegen. Aber die Stimme drang nur leise hervor und das Zittern darin war nun unüberhörbar. Gehetzt blickte Ingrid sich um. Panisch sah sie ihre Schwester an.
„Richtig“, entgegnete Maria gelassen, „Das ist der Friedhof Ohlsdorf und der größte Parkfriedhof der Welt. Es ist meiner Meinung nach ein sehr schöner Ort zum Spazieren mit sehr schönen historischen Gräbern und…“
„Bring mich hier weg!“
„Wie bitte?“
„Ich sagte, bring mich hier weg! Ich weiß den Weg hinaus nicht mehr.“ Die Hände ihrer Schwester zitterten. Obwohl Maria nicht mit so einer heftigen Reaktion gerechnet hatte, wusste sie, dass sie richtig gehandelt hatte. Endlich fielen die Mauern, die Ingrid um ihr Herz errichtet hatte und eröffneten Maria den Blick, auf das, was sie wirklich empfand und dachte.
„In Ordnung“, entgegnete sie, auch wenn sie nicht im Geringsten vorhatte, ihre Schwester hinaus zu geleiten. Vorher musste Ingrid noch etwas sehen.
Schweigend gingen sie durch die Allee und folgten danach einem der kiesbedeckten Seitenpfade. Auf den Hauptpfaden waren kaum Gräber zu erkennen gewesen, doch jetzt reihten sie sich aneinander. Endlose Daten, deren Hintergründe nur solange im Gedächtnis verblieben, wie es Leute gab, die sich ihrer erinnerten.
„Das ist nicht der Weg, den wir hergekommen sind“, meinte Ingrid und ein Hauch von Misstrauen klang darin mit.
„Wir nehmen eine Abkürzung. Auf dem Hinweg dachte ich, dass du den Park sehen möchtest, deshalb haben wir einen anderen Weg genommen.“
Erneut bogen sie ab. Grünes Gras bedeckte den Wegesrand und die letzten Blumen trotzten dem einziehenden Herbst. Zwischen zwei großen Büschen verließen sie auch diesen Weg und folgten einem kleinen, nur mit Sand bedeckten Fußpfad. Als der Weg an einem Busch herum eine Kurve nahm, erkannte Ingrid auch den wahren Grund, warum Maria mit ihr nach Hamburg gefahren war.
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf und wollte zurückweichen. „Nein!“
Maria trat vor ihre Schwester und blickte ihr in die Augen.
„Du wirst jetzt nicht fliehen, jetzt nicht! Sieh es dir wenigstens an. Das schuldest du dem Mann, dessen Leben du genommen hast.“
Starr stand ihre Schwester da und starrte auf das einzelne Grab vor ihnen. Es war zu weit entfernt, um die Schrift zu lesen, aber Maria kannte die Worte auswendig. Schon mehrmals war sie hier gewesen. Manchmal mit Frank, häufig alleine und einmal hatte sie sogar Michaela mitgenommen. Gesagt, warum sie da gewesen waren, hatte sie ihrer Ältesten indes nicht.
Überrascht bemerkte sie, dass Tränen über Ingrids Wangen liefen. Langsam, um ihre Schwester nicht zu erschrecken, trat Maria hinter sie und legte ihr die Hand auf den Rücken. Sie begann sanften Druck auszuüben und spürte wie Ingrid sich unter ihren Fingern anspannte, aber schließlich machte ihre Schwester einen Schritt nach vorne. Es war Arbeit und jeder einzelner Schritt war ein stummer Schlagaustausch zwischen den beiden Schwestern. Ein Schlagaustausch, in dem sich alle Argumente vereinten, die sie die Jahre vorher ausgetauscht hatten.
Doch dann standen sie rechts und links neben dem Grab und blickten auf die steinerne Platte hinab.
Rainer Hilgers
1922-1972
Sie sah wie ihre Schwester die Silben lautlos formte und zugleich den steinernen Engel musterte, der oben auf der Grabplatte lag. Daneben lag ein von kleinen Kinderhänden bemalten Bild. Für Opa hatte jemand darauf geschrieben.
„Du musst es nicht alleine tragen“, meinte Maria leise. Einst hatte Frank ihr dasselbe angeboten, damals hatte sie es nicht angenommen. Sie hoffte, dass Ingrid es anders handhaben würde.
„Nein.“ Wie erwartet schüttelte Ingrid den Kopf. „Diese Last ist die meinige. Du hast schon genug für mich getragen, kleine Schwester.“
Glücksgefühle strömten durch ihren Körper, als Ingrid jene beiden kostbaren Worte aussprach, die sie seit über zwanzig Jahren nicht mehr vernommen hatte. Aber ihre Schwester hatte die Last zugegeben.
„Du hast immer gewusst, dass es ein Mensch war, den du getötet hast“, stellte Maria fest.
„Ja. Das habe ich. Aber ich habe es ignoriert, weil alle in meinem Umfeld es ebenso gehandhabt haben.“ Sie hob die Hände vor ihr Gesicht und musterte sie. „Erinnerst du dich an das Gespräch, was wir geführt haben, bevor ich nach Westberlin gegangen bin? Das Gespräch über die Französische Revolution.“
Maria nickte. „Wie hätte ich es vergessen können?“
„Du hast gesagt, dass eine rigoros durchgesetzte Gesinnung dem Grundgedanken der Freiheit widerspricht. Damals habe ich es abgelehnt, aber im Gefängnis hatte ich viel Zeit zum Nachdenken und ich habe erkannt, dass du Recht hattest. Die RAF hatte ebenfalls eine rigoros durchgesetzte Gruppendisziplin und das hat dazu geführt, dass wir die Freiheit, die wir eigentlich verteidigen wollten, aus den Augen verloren haben. Im Namen der Freiheit hatten wir diktatorische Disziplin, die jegliche Freiheit schon im Ansatz vernichtet hat“
Maria sah wie Ingrid erzitterte.
„Ich habe es nur zu spät verstanden“, flüsterte sie und erneut rannen Tränen über ihr Gesicht.
„Nein.“ Dieses Mal war es Maria, die den Kopf schüttelte. „Es ist nie zu spät.“
„Aber für ihn.“ Ingrid deutete auf das Grab. „Für ihn ist es zu spät. Ich habe einen Menschen ermordet, Maria. Einen Menschen erschossen. Es ist nicht wieder gutzumachen.“
„Ja. Das Leben dieses Mannes ist vorbei und deine Tat ist und wird auch nie zu rechtfertigen sein. Aber das heißt nicht, das dein Leben und das Gute, das Schöne vorbei ist.“
Maria schenkte ihrer Schwester ein Lächeln.
„Ich bin hier und du bist hier und wir haben ein gemeinsames Versprechen. Wir werden immer zusammen gehen.“
„Wir werden immer zusammen gehen?“ Es verletzte Maria, die Unsicherheit und Verwirrung in der Stimme ihrer Schwester zu hören. Einst war Ingrid es gewesen, die dieses Versprechen mit so viel Sicherheit und Überzeugung ausgesprochen hatte. Jetzt war es Marias Aufgabe, ihre Schwester wieder davon zu überzeugen.
„Wir werden immer zusammen gehen!“, erklärte die Jüngere also mit fester Stimme und all jener Sicherheit, die sie aufbringen konnte.
Dieses Mal war Maria es, die die Hand ihrer Schwester entgegenstreckte.
Für einen Moment hing diese in der Schwebe, unbeachtet von Ingrid, die immer noch auf den Grabstein starrte.
Doch dann, unendlich langsam, wandte sie den Kopf ihrer Schwester zu und streckte ihr ebenso langsam die Hand entgegen. Ein Prickeln schoss durch Marias Arm, als ihre Fingerspitzen sich berührten. Ein Prickeln, das ihren gesamten Körper mit jener angespannten Erwartung erfüllte, dass eine gute Zukunft auf sie wartete.
Langsam wanderten die Finger höher und dann verschränkten sich die Hände der beiden Schwestern über dem Grab des toten Polizisten ineinander.
Sie sahen sich in die Augen.
„Wir werden immer zusammen gehen!“ Und Ingrid sprach die Worte mit jener Sicherheit und Selbstverständlichkeit aus, die sie schon damals benutzt hatte. Damals vor vierunddreißig Jahren in einem Wald, den sie beide schon lange nicht mehr betreten hatten. Ihre Kindheit und damit auch ihre Unschuld war wahrlich unwiderrufbar verloren, aber das war auch gut so. Sie beide hatten sich verändert.
Jetzt mussten sie wieder lernen, einander zu vertrauen und sich wieder kennen zu lernen. Um jenes Vertrauen wieder zu erlangen, als sie sich gegenseitig dieses Versprechen gegeben hatten, das heute erneuert worden war.
„Wir werden immer zusammen gehen.“ Sie sprachen es noch einmal gemeinsam aus. Denn es war die einzige, unwiderlegbare Wahrheit, die blieb, egal was andere sagen oder meinen mochten.
Sie würden immer zusammen gehen.