Wieder hatte sie sich mehrere Tage Zeit gelassen, ehe sie erneut in Erscheinung trat. Wieder hatte ich geglaubt, dass sie mich aus meiner Gedankenwelt verdrängt und sich wichtigeren Dingen gewidmet hat. Aber nein - Autumn glich einem Bumerang, der immer wieder zu einem zurückkehrte, egal wie sehr man auch glaubte, beim Werfen versagt zu haben. So stand sie nach etlichen dunklen Nächten voller von Tinte befleckter Finger und rot gefärbter Taschentücher vor meiner Haustür und lächelte mich an, als wäre nichts gewesen. Als wäre es vollkommen normal, dass sie dort stand, obwohl dieses Mädchen nicht einmal wissen sollte, wo ich nun genau wohnte. Bis heute ist mir nicht klar, wie sie mich so gut kennen konnte, ohne mir wirklich nahe zu stehen. War sie mir gefolgt, um meine Adresse herauszufinden? Hatte sie ebenfalls Leute befragt, um Informationen über mich zu sammeln? Oder ist Autumn doch nur das Abbild meines einsamen Verstandes, der versuchte ein letztes Mal so etwas Ähnliches wie Hoffnung auf Rettung vor der Finsternis zu erschaffen, bevor es vollkommen bergab mit mir ging?
Geduldig wartete sie bis ich bereit zum Aufbruch war, ehe sie mich bei der Hand nahm und mit sich zog. Als wäre ihre zuvor so unerschöpflich scheinende Ruhe abrupt versiegt und ins exakte Gegenteil eskaliert. Autumn schien es kaum erwarten zu können, mit mir allein zu sein. Dieser Gedanke beflügelte mich auf eine Weise, die ich selbst nicht zuordnen konnte. Bilder entstanden vor meinem inneren Auge - schon eine noch so kurze Denkpause hatte schon immer zu lächerlichen Tagträumereien, die mich für einige Momente aus der Realität rissen, geführt.
Während wir nun schon beinahe gehetzt die von Laub und Regen gesprenkelten Wege entlang trabten, konnte ich nur an sie denken. Wie sie in meinen Armen lag, den Kopf an meine Schulter gelehnt, während wir einfach nur einen Tag auf der Couch verbrachten. In meiner Fantasie stürmte es draußen auch viel zu sehr, um auch nur einen Fuß vor die Tür setzen zu können. Autumn war entspannt, nicht so gehetzt und in sich gekehrt, wie bei unseren echten Treffen. Wieder trug sie ihren viel zu großen Pullover, doch dieses Mal wirkte sie so viel weniger verloren in diesen Massen an Stoff. Wir waren zusammen - ein Ganzes, das zuvor in scharfkantige Scherben zerbrochen und erst durch Verbundenheit wieder zusammengefügt wurde. Alle hatten sie sich an uns geschnitten und blutend von uns abgewendet, um nicht noch tiefer verletzt werden zu können. Nur wir beide haben uns einander angenähert; wie sollte auch etwas bereits Totes noch Schmerz spüren werden?
Autumn war die Einzige, die mich zu verstehen schien. In meiner Vorstellung küsste sie mich nun zärtlich und flüsterte leise Worte, die mich umfingen, aber nicht durch den Schleier meiner eigenen Fantasie dringen konnten. War das mein Verständnis von Liebe? Sollte das nicht alles eine Spur komplizierter sein? Es war das erste Mal gewesen, dass ich mir sicher war, verliebt zu sein. Alles zuvor, war nur eine seltsam gesteigerte Art von kurzlebiger Bewunderung gewesen. Bei diesem Mädchen war es anders. Sie ließ mich von einer Zukunft träumen, die zwar noch immer trist und grau, aber doch mitunter von Glück erfüllt sein könnte. Doch immer gab sie mir gleichzeitig das Gefühl, als würden ihre Scherben im Tageslicht wie Diamanten funkeln und erst in der Dunkelheit zu Rasierklingen werden, die viel zu großen Druck auf ihre Seele ausübten.
»Woran denkst du?«, riss Autumn mich aus meinen wieder einmal viel zu bedrückenden Gedanken. Sie blieb stehen und blickte mich beinahe schon besorgt an, als würde sie nun ihre üblichen Überlegungen - von denen ich ebenfalls erst sehr viel später erfahren würde - auf mich übertragen und um meine Gesundheit fürchten. »Nichts besonderes«, erwiderte ich; zu schnell, als dass es glaubwürdig klingen konnte. Ein einzelner Gedanke wurde in meinem Kopf immer und immer wieder abgespielt, bis er leierte und nahezu blechern klang. Autumn machte sich Sorgen um mich. Hatte sie ähnliche Gefühle wie ich? Nein, niemals - für eine so schillernde Persönlichkeit wie sie, war ich schließlich viel zu unscheinbar. Eine schmerzhaft klare Antwort gab sie mir, indem sie mit den Schultern zuckte und wieder begann, mich hinter sich her zu ziehen. »Du warst so still. Es macht mich nervös, wenn Leute so lange nichts sagen. Dann weiß ich nie, was sie gerade denken.«
Aus einem Mangel an Worten heraus ließ ich ihre Bemerkung wieder einmal unkommentiert stehen und hatte nun endlich das Bedürfnis zu erfahren, wohin sie mich nun genau geführt hatte. Ein Blick reichte, um herauszufinden, dass wir am Rande eines Waldes standen, dessen Existenz mir bis dahin noch nie sonderlich bewusst gewesen war. Nahezu ehrfürchtig sah ich auf zu den gewaltigen, sich unter der Last ihrer viel zu weit ausufernden Laubkronen krümmenden, Bäume auf, die auf mich wirkten, als würden sie das Tor zu einer vollkommen anderen Welt markieren. Wie weit waren wir nur gelaufen, während ich meinen lächerlichen, idealisierten Fantasieblasen nachschwebte? Und noch viel wichtiger - würde ich einen Heimweg finden, sollte Autumn mich wiede allein hier stehen lassen?
Aus dem Augenwinkel heraus konnte ich sie sehen, wie sie mich mit einem beinahe neckischen Lächeln betrachtete und meine Hand einfach nicht loslassen wollte. »Wollen wir?«, fragte Autumn leise, woraufhin ich nur nicken und wieder einmal den ersten Schritt tun konnte. Gemeinsam traten wir in diese Welt ein, die so sehr wirkte, als existierte sie nur in meinem Kopf - ebenso wie das Mädchen neben mir alles andere als real wirkte.
Das fahle Sonnenlicht kämpfte sich ihren Weg durch das dichte Laubkronendach, dass vom nun beinahe eisigen Wind erschüttert wurde. In alle Farben getauchte Blätter segelten federleicht durch die Lüfte, als würden sie kunstvolle Tänze vollführen - sowohl einzeln als auch gemeinsam mit ihren fallenden Artgenossen, die sie mehrfach umkreisten, als würden sie balzen, ehe sie sich bei dem verrottenden Laub auf dem Boden beerdigten. Der Herbst neigte sich dem Ende zu. Nur noch wenige Tage blieben, bis der Winter über uns hereinbrechen würde.
Mein Blick schweifte zurück zu Autumn, die sich ebenfalls die Umgebung beschaute und dabei glücklicher aussah, als ich sie jemals zuvor erlebt hatte. »Ich liebe den Herbst! Es ist einfach alles wunderschön in dieser Zeit.«, Sie atmete tief ein, als würde sie möglichst viel von all den Eindrücken in sich aufnehmen und für alle Ewigkeit verwahren wollen. Ich hingegen blickte sie nur skeptisch an. »Aber alles stirbt doch. Wie kannst du diesen schleichenden Tod um dich herum nur schön finden?« Dann wandte ich meinen Blick wieder den Blättern zu, um ihnen beim Fallen zu zusehen. Das Mädchen kicherte leise, als hätte sie etwas komplett anderes gehört, als ich letztendlich gesagt hatte. »Warum bist du nur immer so negativ? Der Herbst ist die Jahreszeit, in der sich alles im Wandel befindet, bevor sich die ewige Ruhe des Winters über die Welt legt. Es ist kein Sterben, sondern eine Wiederauferstehung. Das Alte muss weichen, um dass etwas völlig Neues entstehen kann; so ist das nun einmal. Der Frühling kann so viel mit sich bringen, doch dafür muss das Vergangene zuerst vom Herbst beseitigt werden.«
Ich hatte mich täuschen können, doch ich glaubte einen gewissen Grad an Sehnsucht in ihrer Stimme zu hören, die mir im Herzen wehtat. »Willst du deshalb Autumn genannt werden?«, fragte ich schließlich in die nun so bedrückende Stille hinein, »Weil du so viel mit dem Herbst verbindest und alles Vergangene aus deinem Leben haben willst?« Lächelnd nickte sie und umarmte mich aus dem Nichts heraus. Erst ihre beinahe unerträgliche Wärme machte mir die Kälte bewusst, die mich zuvor bis auf die Knochen durchdrungen hatte. Ihr so seichter Geruch umfing mich, doch hüllte mich nicht ein, als würde er bereits in der ersten Sekunde wieder zerfallen.
»Warum willst dann nur Vic genannt werden? Traust du dir etwa nur den Anfang eines Sieges zu?«, kicherte Autumn albern und schien sich wieder einmal einfach nicht von mir lösen zu wollen. Ich seufzte sehr leise und verdrehte die Augen - ich konnte nicht mit Leuten umgehen, die einfach nichts ernst nehmen konnten. »Das ist mein Geburtsname. Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Ich habe ihn einfach nur gekürzt, damit er mir nicht mehr ganz so sehr zur Last fallen kann.« Daraufhin verschwand all die kindliche Freude aus ihrem Gesicht und machte wieder der Leere Platz. Und ich Idiot empfand es als meine Pflicht, sie mit allen Mitteln von ihrer so gefährlich scheinenden Dunkelheit abzubringen. Sie sollte sich auf mich und nicht irgendwelche Gedanken konzentrieren, die ich niemals würde nachvollziehen können. »Wie heißt du eigentlich? Also … welchen Namen haben dir deine Eltern gegeben?«, platzte es in meiner Verzweiflung, sie aufzuheitern, unüberlegt aus mir heraus. Diese Niedergeschlagenheit zwischen uns machte mich jedes Mal aus unerfindlichen Gründen nervös. Und als hätte ich wieder einmal eine vollkommen andere Frage gestellt, schüttelte sie nur mit dem Kopf und wendete ihren Blick dem Boden zu. »Das hat doch keinen Sinn. Wenn ich dir meinen echten Namen nenne, wird einfach nur dein Bild von mir verzerrt werden. Lassen wir das also. Behalte mich einfach als Autumn in Erinnerung. Auch wenn dir vollkommen bewusst ist, dass ich niemals wirklich so heißen werde.«
Sofort fragte ich mich, was nur so abstoßend an diesem Mädchen sein konnte, dass sie glaubte, ihre Ehrlichkeit würde mich verscheuchen. Ich habe schon so viel gesehen. Nicht zuletzt mein Verstand ließ mich in all seiner Kreativität Szenarien durchleben, die andere wohl oder übel in den Wahnsinn treiben würden. Jedoch tat ich nichts, damit es aufhörte. Ich würde dies einfach als die Bürde eines Schreiberlings einstufen.
»Beantwortest du dann wenigstens noch die Frage vom letzten Mal?«, sprach ich weiter, ohne meinen Kiefer unter Kontrolle zu wissen. Meine Gedanken verselbstständigten sich, womit ich nicht einmal auf ihre Reaktion wartete und einfach weiter sprach. »Du hast mich vor ein paar Tagen etwas gefragt, was ich ehrlich beantwortet habe. Und ich will dich kennenlernen. Wenn du mir schon deinen Namen nicht nennen willst - wovor fürchtest du dich am meisten?«
Sie schwieg, doch ließ mich nicht los. »Wovor ich mich fürchte?«, wiederholte das Mädchen leise und atmete tief durch, ehe sie sich zum Antworten wieder eine Ewigkeit Zeit ließ. »Ich fürchte mich davor, mich selbst zu verlieren und niemals wiederfinden zu können.«
Gemeinsam blickten wir zum blassen Himmel empor. »Der Winter naht«, wisperte sie, als sich unsere Blicke wieder trafen. Die lebendige Leere ihrer Augen brannte sich erneut in mein Gedächtnis. Jetzt oder nie. Die Jahreszeiten schienen ihr so viel mehr zu bedeuten, als es normalerweise der Fall wäre. »Kannst den Winter über bei mir bleiben? D-damit ich dafür sorgen kann, dass du dich nicht selbst verlierst und ich bei dir endlich ich selbst sein kann.«, brachte ich mühsam hervor und spürte zeitgleich wie meine Wangen sich vor Scham röteten. Ich hoffte ihre Metapher richtig verstanden und verwendet zu haben. Würde sie mir diesmal folgen können? Oder sich einfach von meinem Scherbenhaufen abwenden, wie es ein jeder zuvor getan hatte?
Enger schmiegte Autumn sich an mich und hauchte mir einen zarten Kuss auf die kalten Lippen. »Der Winter ist nichts mehr für mich. Hätte ich dich doch nur früher getroffen … Dann hätte es vielleicht sogar für einen Frühling gereicht.«