Langsam kam sie wieder zu Bewusstsein, roch den stechenden, unverkennbaren Geruch des Desinfektionsmittels und verzog das Gesicht leicht angewidert. Das war die einzige Bewegung, die sie vollbringen konnte, den Rest ihres Körpers spürte sie nicht. Mühsam öffnete sie die zittrigen Augenlider und sah an die mit weißen Fliesen verzierte Decke. Leise Geräusche begannen sich an ihr Ohr zu schleichen, zwei in unterschiedlichen Tonlagen piepsende Töne, die einer Maschine zuzuordnen waren, leise Stimmen. Alles verschwommen. Alles so weit entfernt. Ein schmerzverzerrtes Geräusch verließ ihren Mund, die Stimmen verstummten. Ein kantiges Gesicht erschien langsam vor ihr, dann sah sie nur ein helles, gelbliches Licht, spürte, wie jemand ihre Augenlider auseinander zog. Doch sie fühlte keine Wärme der Finger, sie waren kalt und gummiartig. Die Person musste also ein Arzt sein, der Handschuhe trug.
„Sie reagiert, sie ist wach.“, hörte sie dann eine wohlig tiefe Stimme und sah, wie sich die Farben auf dem Gesicht des verschwommen gesehenen Mannes bewegten. Dann verließen sie ihre Kräfte wieder und ihre Augenlider flogen wieder zu, und mit der Sicht auf den Mann verschwand auch ihr Bewusstsein.
Als sie das nächste Mal wieder zu sich kam spürte sie schon wieder mehr, langsam bewegte sie ihre Finger, vergrub die Fingerspitzen in den Falten des Bettlakens, lächelte etwas. Sie spürte eine gewohnte Schwere auf ihrem Bauch, öffnete zittrig die Augen und entdeckte ihren kleinen Bruder, der zusammengekauert auf ihrem Bauch schlief, ihr Handgelenk fest umpackt in den kleinen Händen. Ihr wurde warm um das so schmerzende Herz und sah sich etwas im Raum um. Hinter der aus milchig undurchsichtigen Glas bestehenden Tür ihres Zimmers entdeckte sie die Silhouetten zweier Köpfe,den einen konnte sie durch einen Pferdeschwanz ihrer Mutter zuordnen, so dachte sie, bei dem zweiten Kopf tippte sie auf einen Arzt. Einen Moment lang beobachtete sie die beiden, dann wanderte ihr Blick wieder zu dem schlafenden Jungen, der es mit seinem braunen Stoffaffen unter dem Arm sichtlich gemütlich hatte.
Das Schloss der Tür knackte leise und den eben von ihr gesehenen Köpfen schlossen sich Körper an. Die Frau mit dem Pferdeschwanz, die sie als ihre Mutter dachte, war in Wirklichkeit nicht ihre Mutter. Sie war noch nicht einmal eine Frau. Lächelnd kam der langhaarige Mann im Beisein des mit weißen Kittel bekleideten Arztes auf Lucy zu und setzte sich neben sie auf die Bettkante. „Wie fühlst du dich?“, fragte er sie lächelnd. Lucy betrachtete ihn schweigend, sah in die kastanienbraunen, vom schwarzen Brillengestell und Glas umschlossenen Augen, strich ihrem Bruder langsam durch die Haare. Und schwieg einfach. Auch wenn dies eine normale Frage war, sie kannte den Mann vor ihr nicht. Und das war der Grund, wieso sie kein Wort sprechen wollte. Er könnte sonst wer gewesen sein, er könnte sonst was mit ihr oder sogar ihrem Bruder vor haben. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, mahnte sich für ihre Gedanken, lächelte den Unbekannten an, fühlte in sich hinein. „Ich...habe etwas Kopfschmerzen...“, murmelte sie dann, ihr Blick wich wieder auf ihren Bruder aus, nur kurz schielte sie zu ihm. Er nickte. „Das sind nur leichte Nachwirkungen der Behandlung...“, versicherte er lächelnd, und sah nun ebenfalls auf ihren Bruder runter.
„Wie ist das mit dem Sturz passiert?“, fragte er lächelnd, mit einem kaum merklichen Sprachfehler. „Bin gestürzt...“, log Lucy murmelnd und ließ die Haarsträhnen ihr Gesicht verdecken. „Eure Eltern dachten was anderes.“, schaltete sich nun der Arzt ein. Sie sah zu ihm auf, eine Miene voller Angst und Neugierde machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Sie fürchten, dass es dir zuhause zu viel wird, sie wollen dich eine Weile zu Herr Jonker schicken.“, meinte er und sah nun zu dem langhaarigen Mann, der etwas zu grinsen anfing. „Aber Keine Sorge! Sie können dich besuchen kommen! Und es sind alles ganz nette Kinder dort!“, lächelte der ihr nun als Herr Jonker bekannte Mann freundlich. „Aber was wird aus meinem Bruder...?“, fragte das junge Mädchen und sah wieder zu dem Jungen, ihre Gedanken schweiften ab.
Verstoßung.
Ihre Eltern wollten sie verstoßen und bei einem völlig fremden unterbringen. Das war es sicher. Ihre Eltern hätten sicher ihren Grips zusammengenommen und den Sinn der Bilder interpretiert. Hätten Klassenkameraden gefragt, Lehrer, Bekannte. Sie hätten sicherlich ihr Zimmer auf den Kopf gestellt und alles gefunden was niemals hätte gefunden werden dürfen. Ihre Klingen, ihre Verbände, ihr Wundspray, die Pflaster. Die Bilder ihrer Narben, die sie sich jedes Mal vor Augen hielt, um sich abzuschrecken, und ihr innerliches Monster dennoch immer nur mit dieser einen Methode zu bekämpfen versuchte. Ihre Eltern hätten ihr Tagebuch gefunden, darin geblättert, es gelesen. Ihre ständigen Ängste gelesen, ihre innere Wut. Sie hätten von den Katastrophenträumen erfahren, in denen mindestens ein Familienmitglied starb oder die Welt auf absurdeste Weise unterging. Sie hätten die Krakeleien gefunden, die am Rand jeder linierten Seite ihres Tagebuchs zu finden waren, Bilder von Monstern, Bilder von blutigen Klingen, Bilder von ihrem Selbstbildnis. Sicher hätte ihre Mutter das Tagebuch in die Ecke geworfen, angefangen zu weinen. Der Vater hätte es verbrannt, wie den Rest ihrer Sachen, denn sie war für ihre Familie gestorben.
Sie wusste nicht ob es stimmte, sie hatte nur diese Vermutungen. Vermutungen, die ihr Angst machten. Aber vielleicht hatte sie ja auch Glück, sie wusste es nicht. Das einzige war, sie musste von diesem freundlich aussehenden Mann abgeholt werden. Ihre Familie zurück lassen, in völligem Unwissen. Wollten sie sie überhaupt besuchen? Etliche Fragen schwirrten ihr im Kopf umher, stocksteif starrte sie auf die verwuschelten Haare ihres Bruders, bemerkte sonst nichts.
Ein Schnippen ließ sie zusammenfahren, langsam hob sie den Kopf. Dort wo eben noch der Herr Jonker saß, saß nun ihre Mutter, die ihre Tochter aus überfluteten Augen ansah und ihr Fragen stellte. Entfernt hörte Lucy ihre Stimme, verstand ihre Worte jedoch nicht. Zu tief war sie noch in ihrer Traumwelt gefangen, in ihrer Welt aus negativen Gedanken. Erst als sie langsam wieder in die Realität zurück kehrte verstand sie die Worte der Mutter, die nun zum Ende angelangte. „Vergiss nie, wir lieben dich...“, waren ihre Worte, ehe sie ihre Tochter auf die Stirn küsste.
Lucy wusste, dass die Worte ihrer Mutter ernst gemeint waren, und dennoch erreichten diese nur ihre Ohren, und nicht ihr Herz.