Die Luft war eisig kalt, sie zitterte. Ishai fuhr aus ihrem unruhigem Schlaf auf. Sie hatte etwas gehört.
Mit angehaltenem Atem lauschte sie. Neben ihr schnarchte Ako sanft, noch immer völlig erschöpft von der Suche nach Futter. Sein heller Leib war warm. Ishai fühlte sich in seiner Nähe wie immer geborgen. Trotzdem verspürte sie Unruhe. Sie lauschte aufmerksam, dann sträubte sich ihr Gefieder.
"Ako. Ako!", piepste sie. Ihre Stimme war hoch vor lauter Angst.
"Ako, da sind Geräusche."
Träge wurde der Himmelsdrache wach. Er hob den langen Hals, eine gleichzeitig elegante und langsame Bewegung.
"Was ist denn, Ishai?", er war noch verschlafen, so sehr er es verbergen wollte.
"Ich höre etwas", sagte sie.
Ako stellte die Muschelohren auf. Die winzigen Segelhäute, genauso geformt wie seine Flügel und die Flughäute, mit Knochen durchzogen und aus schimmernden Membranen gespannt, konnten selbst die fernsten Geräusche aufnehmen.
Shakolo lauschte eine Weile. Ishai harrte geräuschlos aus. Ein Klirren lag im Wind, das Scheppern von Metall, das Quietschen und Stampfen von Maschinen.
"Menschen", sagte Shakolo. Ishai brach innerlich zusammen. Nie, nie, nie wieder hatte sie dieses Wort hören wollen!
Shakolo stand auf und drehte sich in der engen Höhle. Sein beweglicher Leib wand sich wie eine Schlange. Er streckte den Hals aus dem Höhleneingang und lauschte in den Wind, der wie immer schneidend und kalt war.
"Komm, Ishai", sagte er ruhig.
Sie seufzte und kroch zu seinem Vorderbein. Vorsichtig verlagerte Shakolo sein Gewicht auf die Hinterbeine und hob sie in seine Arme. Mit einer Pranke drückte er sie an seine Brust, die andere brauchte er zum Abstützen.
Ishai klammerte sich an ihn. Als Shakolo aus der Höhle humpelte, behindert durch die Notwendigkeit, sie zu tragen, biss die Kälte in ihr Gefieder.
Ishais Verletzung, das Auge, das ihr die Menschen genommen hatten, ging auch noch tiefer. Der Schwertstreich hatte ihren Orientierungssinn für immer beschädigt. Der Wind riss an ihren Federn und sie verlor beinahe augenblicklich das Gespür dafür, wo oben und unten waren. Das offene Himmelsfeld war für sie wie ein großes Meer, in dem sie ertrinken musste, weil sie die Oberfläche nicht fand. Sie klammerte sich fest an Shakolos Arm. Er war alles, was sie behalten hatte, ihre ganze Orientierung. Die Welt bebte und erzitterte, als Shakolo mehrere Galoppsprünge machte. Er nahm Geschwindigkeit auf, um zu starten. Ishai spürte nur, wie sie durchgeschüttelt wurde. Dann folgte ein kräftiger Ruck und der Sturm um sie her wurde so wild, dass sie die Augen schließen musste.
Es war ein Gefühl, als würde sie fallen. Die Welt verschwand, und alles, was blieb, war furchtbare Schwärze und Shakolos Arm um ihren Körper. In dieser Dunkelheit gab es überhaupt keine Richtungen, nur einen endlosen Sturz in alle Richtungen gleichzeitig. Ishai hasste dieses Gefühl. Sie öffnete die Augen, als sich Shakolos wilder Galopp beruhigte.
Er war in den Himmel aufgestiegen. Jetzt glitt er sanft durch den Wind, ganz in seinem Element, mühelos und schwerelos.
Ishai sah sich um. Eine winzige Welt lag unter ihr. Sie mochte weit entfernt sein, oder aber nur eine ausgestreckte Pfote entfernt. Manchmal lagen Wolken wie Schnee auf dem Land. Für Ishais Auge existierte keine Tiefe mehr. Sie hielt sich an Shakolo fest.
Unter ihnen ertönten Schreie.
"Dragons!"
"Up there!"
Shakolo legte die großen, durchscheinenden Schwingen an und die Luft rauschte stärker an Ishai vorbei. Der Gegenwind machte das Atmen schwer, ließ ihre Augen tränen.
Jetzt hörte sie noch etwas anderes zischen. Das mussten die Pfeile sein, dunkle Schemen auf dem Weiß der Wolken. Etwas knallte sogar ganz laut.
Ishai drückte sich zitternd an Shakolo. Sie wollte die Augen schließen, doch dann wartete nur die schreckliche, furchtbare Schwärze. So hielt sie den Blick auf Shakolos kantiges, schmales Gesicht gerichtet, sah, wie seine Augen hin und her zuckten, auf der Suche nach einem Ausweg. So konnte sie beinahe vergessen, dass sie sich überhaupt bewegten. Sie schwebten einfach an Ort und Stelle, während die Welt vorbei rauschte, einmal sogar ein Stück nach oben sprang - Shakolo musste in ein Luftloch gefallen sein.
Die Stimmen der Menschen blieben bald zurück. Himmelsdrachen waren schnell. In Shakolos starken Armen fühlte Ishai sich geborgen. Es war beinahe, als würde sie endlich fliegen. Die Welt glitt zu allen Seiten vorbei, aber Ishai konzentrierte sich nur auf Shakolos Kinn, auf seine Schuppen von der Farbe des Himmels.
Sie spürte die Sehnsucht tief in sich, als die Luft durch ihre Federn strich. Sie wollte sie unbedingt fliegen! Fast von selbst regten sich ihre Schwingen.
Aber sie besaß keine Orientierung, keinen Blick für Tiefe. Sie konnte nicht fliegen, würde es nie können. Sie war auf Shakolo angewiesen, auf den einzigen Freund, der ihr geblieben war.
"Wohin fliegen wir?", fragte sie, um sich abzulenken.
"Ich weiß es nicht", sagte Shakolo. Seine Stimme klang müde. "Ich habe alle Früchte auf dem Berg vergessen, Ishai. Und unter uns sind nur Wälder, dort kann ich nicht landen, oder jedenfalls nicht wieder starten. Zurück können wir auch nicht."
Ishai war erschüttert, ihren Freund so verzweifelt zu erleben. War es wirklich so hoffnungslos?
Aber sie erinnerte sich an ihre Flucht, Tage und Wochen war Shakolo geflogen, mit einer Kraft, die er eigentlich nicht besaß. Bis heute hatte er sich davon nicht erholt.
Stormpeak war der einzige Berg gewesen, den sie gefunden hatten. Jetzt war auch dieses Versteck entdeckt. Nach Hause konnten sie nicht, und dass sie eine neue Heimat finden würden, war fraglich.
Shakolo ließ sich vom Wind tragen. Ishai spürte, wie er seine Kräfte schonte.
"Wie haben sie uns gefunden?", fragte sie traurig.
"Ich glaube, es war Zufall", murmelte Shakolo. "Es waren keine Jäger, keine Drachenjäger. Sie haben vielleicht Bergziegen gesucht. Ich fürchte, es war ein Fehler, zu fliehen. Vielleicht hätten sie uns nicht gefunden."
"Wir sind keine Erddrachen", sagte Ishai ernst. "Wir können uns nur im Himmel verbergen. Wenn sie uns entdeckt hätten -"
"Ich hätte sie getötet!", sagte Shakolo grimmig. Aber sie wussten beide, dass er nicht gewonnen hätte. Ein einziger Riss im Flügel, und ihnen wäre der Fluchtweg versperrt gewesen. Ein Luftdrache war so empfindlich wie ein Libellenflügel. Sie waren keine Krieger wie die Feuerdrachen.
Mit langsamen Bewegungen glitt Shakolo durch den Himmel.
"Ako?"
"Ja?"
"Es wird doch alles gut, oder?"
Im Fliegen beugte er den Hals, um ihr in das Auge zu sehen.
"Natürlich, Schneefeder. Es wird alles gut."