Clive hebt die Arme, um mir vermutlich Tod und Teufel auf den Hals zu hetzen.
„Ich hätte dich rufen können?!“, quieke ich und spucke dann etwas Wasser. „Das wusste ich nicht.“
„Unwissenheit schützt vor … warte, ich hab echt vergessen, dir das zu sagen, oder? Verdammt, ich bin immer so durcheinander. Na gut, dann weißt du hiermit, dass du mich jederzeit rufen kannst. Die Strafe lassen wir mal fallen. Tut mir echt leid, ich habe einfach immer so viel im Kopf …“
Die Wolke mit der weiblichen Clive darauf schwebt etwas tiefer. „Im Moment musst du mich natürlich als Miss Fortune rufen, nicht als Clive Hanger.“
„Merke ich mir“, blubbere ich.
Clive streckt die Hand aus und pflückt mich aus dem Meer. Gleich darauf leuchtet meine Pfote auf und heraus kommt ein helles Leuchten. Clive … oder Missy? … hält die leuchtende Perle nachdenklich in der Hand. Dann schließt sie die Augen und die Faust, und das Licht versinkt in ihrer Haut.
„Ahhh … wunderbar. Perfekt, Wolf!“ Sie sieht mich wieder an und ein Schauer läuft durch mein Fell, als ich den gruseligen Ausdruck voller Gier und diabolischer Freude in ihren Augen sehe. Brrr. Miss Fortune könnte im Alleingang die Klimaerwärmung beenden.
„Damit ist der erste Teil unserer Abmachung erfüllt. Ich danke dir. Als nächstes musst du mit etwas Hochexplosives bringen: Den Zorn der Götter!“
„Den … wie bitte?!“
„Dafür hast du …“ Missy legt den Kopf schief, was bei Menschen immer heißt, dass sie nachdenken. „… einen Monat Zeit!“
„Einen Mo...?!“ Platsch, gurgel!
Missy hat mich wieder ins Wasser fallen lassen. Bis meine müden Pfoten mich wieder zur Oberfläche getragen haben, ist ihre pinke Wolke auch schon verduftet.
Verzweifelt trete ich Wasser. Die kurze Ruhephase an der Hand meiner genderfluiden Auftragsgeberin hat meine Kräfte nicht unbedingt wieder hergestellt. „Missy? Miss Fortune? Hilfe!“, rufe ich kleinlaut.
Neben mir erscheint eine rosa Wolke und tutet. „Der von Ihnen gewünschte Gesprächspartner ist im Moment leider ...“ Die Wolke erstickt, als ich mich auf sie werfe und mein Gewicht das Zuckerwattending unter Wasser drückt, wo es sich zu meinem Leidwesen auflöst. Also kein Floß. Wie soll ich jemals an den Zorn der Götter kommen, wenn ich hier ertrinke?
„Eyy, Poseidon!“, brülle ich, so laut ich kann. „Blau ist ja farblich so was von out!“
Ich sehe mich hoffnungsvoll um, aber kein zornrasender Zeusbruder taucht aus den Wellen auf. Vielleicht kann ich es ja mit einer anderen – kurz Wasser spucken – einer anderen Gottheit probieren? Wer fällt mir denn so ein …?
Etwas plätschert neben mir. Ich drehe den Kopf und sehe einer wunderschönen, blonden Menschenfrau in die großen Kulleraugen. Dass selbst ein Wolf ihre Schönheit bemerkt, kann nur Magie sein. Ungläubig starre ich sie an, bis mir klar wird, dass sie nur zwei kleine Muschelschalen trägt.
„Ups, ich …“ Schnell gucke ich woanders hin. Nach unten. Keine gute Idee – ich atme Salzwasser ein, als ich ihren Fischschwanz bemerke. Hustend versuche ich, meine Atemwege zu säubern.
„Ist … ist alles in Ordnung?“, fragt mich die Meerjungfrau mit melodiöser Stimme. Meine Ohren zucken. Sie klingt sehr jung und unerfahren.
Trotz meines Gestrampels gehe ich unter.
„Huch!“ Die Meerjungfrau folgt mir unter die Wellen, ihre Stimme ist hier unten sogar noch lieblicher und vor allem klarer. Ob ich sie dazu bringen kann, eines meiner Lieblingslieder zu singen? Das wäre doch ein irgendwie schöner Abgang – oder jedenfalls würde es mich trösten. Eigentlich wollte ich noch etwas auf der Bühne bleiben.
Sie umarmt mich und zieht mich wieder nach oben. „Du bist ja gar kein Seewolf“, sagt sie dabei. „Ich bin echt dumm. Du bist ein Festländer!“
Mein Kopf durchbricht die Wasseroberfläche. Ich schnappe nach Luft und die Meerjungfrau macht den Heimlich-Handgriff. Erleichtert spucke ich Wasser und einen kleinen Fisch aus. Verstört sucht er das Weite.
„Danke!“, keuche ich. „Beinahe wäre ich ertrunken.“
Die Meerjungfrau lacht. „Ihr Festländer habt seltsame Worte. Das heißt ‚versunken‘, Dummerchen.“
„Selber Dummerchen! Ich bin doch kein Schiff“, maule ich.
„Alles sinkt oder steigt wie die Wellen“, belehrt mich die junge Meerjungfrau. Sie hält mich immer noch fest. „Jetzt rette ich dich aber erst mal. Das ist es nämlich, was wir mit Festländern machen. Solange es keine gutaussehenden Fischer sind …“ Sie kichert und zupft an meinem Ohr. „Bei dir überlege ich mir das vielleicht auch noch.“
„Ich kann wirklich überhaupt nicht fischen“, beteuere ich eilig.
Die Meerjungfrau lacht darauf nur noch lauter, schlingt die Arme um mich und zieht mich mit sich. Ich zappel‘ erst einmal panisch mit den Pfoten, aber sie zieht zum Glück nicht nach unten, sondern schwimmt zielsicher in eine Richtung. Es dauert nicht lange, bis ich einen dunkleren Streifen am Horizont sehe.
Festland! Welche süße Freude für meine Augen, die schon den Tod erblickten!
„Sag mal, ich dachte, Wölfe wedeln nicht mit dem Schwanz“, bemerkt die Meerjungfrau.
Ich zucke ertappt zusammen. „Tun sie auch nicht.“
„Was war das dann gerade?“
„Ähh … Paddelhilfe. Ich bin Profischwimmer.“
Die Meerjungfrau lacht. Mal wieder. Das muss ein Hobby von ihr sein. Kichernd streicht sie durch mein Fell und lässt sich so gar nicht davon abhalten, dass ich ein großes, wildes Raubtier bin. Dummerweise bin ich ja auch noch ziemlich klein für einen Grauwolf, blöde Wachstumshormone!
„Warum hast du eigentlich eben so nach Poseidon gebrüllt?“, fragt meine Retterin mich beiläufig.
„Oh, ich brauche den Zorn der Götter“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Ich hab irgendwie aus Versehen meine Seele verkauft und … na ja.“
Verwundert starrt sie mich an. „Moment mal? Deine Seele verkauft? Gotteszorn?“
Ich schlucke Wasser, weil sie mich losgelassen hat. „Hilfgurgel!“
„Oh, entschuldige.“ Sie zieht mich hoch und klopft mit auf den Rücken, bis ich wieder atmen kann. „Für einen Profischwimmer gerätst du echt schnell in Panik.“
„Das hat traumatische Gründe“, behaupte ich. „Ich hab eine Wasserphobie. Und eine Drachenphobie. Und eine aus-dem-Tod-zurückgekehrter-und-wahnsinnig-gewordener-geliebter-Wolf-Phobie.“
„Jetzt erklär mir erstmal das mit dem Götterzorn. Wie willst du das denn anstellen? Wenn Götter wütend sind, überlebt man das meistens nicht lange genug, um sich als Besitzer des Zorns rühmen zu können. Außer, man macht sie wirklich wütend, in dem Fall lebt man sozusagen ewig und zwar unter einem Apfelbaum, der die Äste immer gerade außer Reichweite hat, und in einem See, der versickert, sobald man was trinken will.“
„Das ist eine erstaunlich spezifische Erklärung, hast du damit Erfahrung?“
„Nur mit dem ersten Fall, das ist einer Freundin von mir mal passiert. Möge Zeus ihrer Seele gnädig sein …“
„Wie hat sie denn die Götter wütend gemacht?“, frage ich neugierig. Dann meldet sich mein Taktgefühl. „Also, du musst nicht darüber reden, wenn es dich traurig macht.“
„Nur wütend“, antwortet die Meerjungfrau. „So ein idiotischer Typ hat sie in einen Knebelvertrag gelockt und sie musste ihm den Zorn der Götter bringen, weil er das von seiner rosa Wolke aus so bestimmt hat.“
Ich blinzele. „Sagtest du … rosa Wolke?“
„Ja, auf der ist er immer herumgeflogen. Du, wir sind gleich am Strand. Willst du wirklich nicht noch ein bisschen hierbleiben? Ich singe auch für dich!“
„Kennst du die Hymne der Wölfe?“, frage ich sofort begierig.
Die Meerjungfrau sieht mich an. „Woher sollte ich die denn bitte kennen?“
„Och, schade. Ich würde ja gerne mal wieder mit einem großen Kriegsrudel die Hymne singen“, schwärme ich. Meine Pfoten ertasten sandigen Boden und ich aale mich aus den Armen der Meerjungfrau.
„Hey!“, ruft sie. „Ich kenne eine Menge anderer toller Lieder! Und … und ich kann die Hymne lernen! Komm zurück, Wölfchen!“
Ich muss ja schön naiv aussehen! Ich lege die Ohren an und flitze aus den Wellen und auf den Strand. „Tschuldigung, hab noch viel zu tun! Danke für’s Retten und so! Man sieht sich!“ Hoffentlich nie wieder.
Wütendes Geschrei folgt mir vom Strand die Klippen hinauf, hinter denen sich grüne Wiesen anschließen. Erst hier oben gestatte ich es mir, mich zu entspannen. Unterhaltungen machen mich immer so nervös – ich bin total schlecht darin, Emotionen richtig zu deuten, ganz besonders bei Nichtwölfen, also gleicht ein Gespräch für mich einem Stepptanz über ein Minenfeld. Flirterei, wenn ich sie denn mal erkenne, macht es noch hundertmal schlimmer.
Und ich muss dringend nachdenken – wie zum Hades soll ich den Zorn der Götter erlangen? Beziehungsweise, das überleben – ich bin ja irgendwie sehr gut darin, alle wütend zu machen, die ich treffe.