Auch wenn ich es nur ungern zugebe, der lange Schlaf tat echt gut. Als ich wieder zu mir komme, kann ich mich weder an einen Traum erinnern, noch daran, mich je so erholt gefühlt zu haben.
Ich strecke mich, gähne herzhaft und genieße den Duft. Es riecht also nach Rosen, wenn man sich mal richtig ausschläft? Interessant.
Dann fällt mir allerdings mein Auftrag wieder ein und ich reiße die Augen auf. Wie viel Zeit habe ich durch den komischen Friedensgott verloren?
Als nächstes frage ich mich, warum ich auf Rosen starre. Die Lichtung von gestern ist weg. Oder – die Lichtung selbst ist vielleicht noch da, sogar Sand ist zwischen dem Gras spürbar, das offenbar inzwischen gewachsen ist, aber die Bäume sind weg. Stattdessen wachsen meterhohe Rosenhecken um mich herum, ein dichtes Dickicht, in dem mein Schlafplatz eine letzte, helle Insel ist.
Ich drehe mich im Kreis. Auf Anhieb sehe ich drei, vier Trampelpfade, die tiefer zwischen die Dornenranken führen, aber besonders groß sind die nicht. Und ich kann nicht einmal ansatzweise erkennen, wie weit sie führen. Oder wohin. Es lässt sich auch nicht sagen, wie dicht das Gebüsch ist, wie groß das zugewucherte Gebiet.
So was passiert doch nicht über Nacht! Wie lange habe ich geschlafen? Hoffentlich habe ich noch Zeit, um den Gotteszorn zu finden.
Aber ich habe irgendwie was mit hundert Jahren im Kopf, wenn ich an solche Rosenhecken denke. Ob Miss Fortune mich vielleicht nicht finden konnte und ich auf diese Weise aus dem Vertrag heraus bin?
Das sind natürlich alles nur Spekulationen. Jedenfalls beschließe ich, mich nicht bei der Wolkenreiterin zu melden. Nur für den Fall, dass sie mich einfach vergessen hat. Sicher ist sicher …
Ich bemerke schließlich die Nadel eines schlanken Turmes, der über die Rosenhecken ragt, und beschließe, den als Orientierung zu nehmen. Ich schlage mich auf den Dornenpfad, der am nächsten beim Turm liegt, und krieche los. Zwischen den Dornen muss ich auf dem Bauch kriechen, und gemeinerweise gibt es immer noch dornenbesetzte Schlingen auf dem Boden, auf die sich aufpassen muss. Meine armen Pfoten sind empfindlich!
Stück für Stück krauche ich voran. Der Pfad macht ein paar Biegungen, aber schließlich stoße ich auf eine breite, gerade Schneise, gefüllt mit abgehackten Ästen und Zweigen, die als dichtes Dornenpolster den Boden bedecken.
Ich schnuppere. Die Schneise bildet einen Tunnel, und sie führt vor allem durch die niedrigeren Äste, die alle schon vertrocknet sind. Weiter oben hat der unbekannte Wegbereiter aber auch die grünen, blühenden Zweige angeschnitten und dort rieche ich eindeutig frischen Pflanzensaft. Heißt, die Schneise ist nicht alt, höchstens einige Minuten, würde ich schätzen.
Der Tunnel ist auch verflixt lang, nur auf einer Seite sehe ich Licht. Also wende ich mich in die Richtung, in der Hoffnung, dass sie fort vom Schneisenschläger und heraus aus dem Dickicht führt. Nun, ihr kennt mein Glück ja – der Weg, den ich wähle, ist weder das eine noch das andere!
Ich komme auf einer kleinen Lichtung heraus, beim Fuß des Turmes, den ich zur Orientierung nutzen wollte. Hui, ich dachte, der hätte voraus gelegen, also seitlich der Schneise. Ups.
Außerdem finde ich einen Menschenmann in Blechkleidung, der in der Sonne blendend blitzt und strahlt. Sogar seine Zähne blenden. Dazwischen erkenne ich vage einige blonde Locken und einen bemalten Schild mit Ranken und einem Turm darauf.
„Hallo?“
Als er mich bemerkt, springt der Mann klappernd auf und reißt ein blendendes Schwert hoch. „K-komm n-nicht n-näher, B-bestie!“
Ich sehe von der zitternden Spitze des Beidhänders hinter mich und zurück. „Bestie?“
Der Mann setzt sich mit der schildbewehrten Linken umständlich einen Helm auf und taumelt an den Turm. „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!“, kiekst er mit schriller, unangenehm hoher Stimme. Klingt mehr nach Hexe als nach Prinz, wenn ihr mich fragt!
Von oben antwortet dafür eine umso lieblichere Stimme mit einem glockenhellen Lachen. „Mutter, du hast schon wieder den falschen Namen. Du bist wirklich zerstreut, meinst du nicht, dass du ein paar Töchter zu viel hast?“
Dann kommt ein Schwall blonder Haare herunter und schlägt auf den befiederten Helmbusch des Blechmanns. Der zuckt klappernd zusammen und beginnt, am Haar hinaufzuklettern.
„Oh, Mutter, du bist aber schwer geworden“, antwortet die Stimme oben. „Warte, ich muss mich irgendwo … festhalten …“
Der Blechmann bleibt klappernd hängen. „Oh nein“, wimmert er. „Höhenangst!“
„Oh, die kenne ich! Echt nervig, hat mich überhaupt erst in diese Schwierigkeiten hier gebracht!“ Ich komme vorsichtig näher. „Brauchst du Hilfe?“
Der blendend polierte Helm nickt ruckartig. „J-ja, bitte.“
Ich trete näher. Der Ritter hängt bereits ein Stück über der Erde. Wenn ich ihn runterholen will, muss ich seine Hände oben aus dem Haar lösen. Das wird knifflig, weil er auch noch das Schwert hält, aber ich will ihm wirklich helfen.
Mit einem Satz springe ich hoch und packe das Metall um seine Schienbeine mit den Zähnen. Brrr, ist das kalt. Nicht anlecken, nicht anlecken, nicht anlecken …
Dann geht ein Ruck durch das Seil, oben folgt ein spitzer Schrei, und im nächsten Moment fallen wir. Obwohl ich nur kurz falle, kann ich noch einmal mein komplettes Leben vorbeiziehen sehen. So stark vorgespult, dass ich kaum was verstehe und alles verschwimmt. Im nächsten Moment sitze ich im weichen Gras am Fuß des Turmes. Der Ritter liegt neben mir und auf der Rüstung sammeln sich blonde Haare zu einem weichen Kissen an, auf dem zuletzt eine schlanke Menschenfrau aufkommt.
„Au“, murmelt sie eher verwundert. Sie sieht sich mit großen Augen um. „Ich … ich darf nicht aus meinem Turm raus!“
„Sagt wer?“, frage ich grinsend. „Die böse Hexe?“
„Meine Mutter …“ Die Prinzessin sieht unter sich. „Wer ist denn das?“
Der Ritter liegt unter Haaren begraben. Er rührt sich nicht, nur sein Atem ist hörbar, da die gesamte Rüstung davon quietscht.
„Ähm. Das ist dein heldenhafter Retter“, erkläre ich.
„Oh.“ Die befreite Prinzessin beugt sich über den Mann. „Danke.“
„Er muss ohnmächtig geworden sein, vielleicht beim Sturz. Er hat Höhenangst.“
„Höhenangst?“ Zweifelnd sieht die Prinzessin auf den Bewusstlosen. „Und der will ein Ritter sein?“
„Nun, er hat es trotz seiner Angst geschafft, dich aus deinem Turm zu befreien. Einem sehr hohen Turm, möchte ich anmerken.“
„Das stimmt schon“, gibt die Prinzessin zögerlich zu. „Ich hatte nur irgendwie einen … besseren Prinzen erwartet.“
„Die Realität muss zwangsweise hinter den Erwartungen zurückbleiben. Was mich zu meinen Erwartungen bringt: Ich hatte auf Treppen gehofft, ich wollte mich von oben im Turm nämlich eigentlich umsehen und herausfinden, wo ich hin muss!“
„Oh – ich kenne die Umgebung ziemlich gut. Wo willst du denn hin?“
Ich spitze die Ohren. „Wie lange warst du da oben?“ Hoffentlich keine hundert Jahre!
„Der Turm ist verzaubert. Er zieht täglich um.“ Die Prinzessin lächelt. „Deshalb weiß Mutter nicht immer, welche von uns gerade im Turm ist …“
Hexen haben merkwürdige Hobbies.
„Also, dann … ich würde gerne zu einem Gott. Hast du von da oben vielleicht einen gesehen?“
„Was ist denn ein Gott?“
Stimmt, sie war ihr Leben lang in einem Turm eingesperrt … „Also, ein großes, mächtiges Wesen. Am besten eines, das leicht wütend wird. Sie sind herrlich und allmächtig und all so was, und jeder hält sich für den einzig Wahren!“
„Ah!“ Die Prinzessin lächelt. „Da habe ich wirklich einen gesehen, da drüben.“ Sie weist beinahe direkt in die Richtung der Schneise. Endlich mal ein bisschen Glück – ich muss nicht noch einmal komplett um den Rosenwald herum!
„Vielen Dank!“ Ich wende mich zum Gehen.
„Und ich?“
„Ähh.“ Ich halte an. „Du … musst warten, bis der Ritter wach wird, glaube ich. Dann solltest du versorgt sein bis an dein Lebensende. Oder wie das nochmal war … Wenn sie nicht gestorben sind.“
Zweifelnd sieht die Prinzessin auf ihren Retter herab. „Na gut …“
„Viel Spaß!“ Ich laufe besser mal, bevor sie sich fragt, wie aktiv ich eventuell an der Rettung beteiligt war.