Das Dorf ist bereits am frühen Abend wie ausgestorben. Wenn es stimmt, was die Wikiothek gesagt hat, dann bin ich gerade rechtzeitig zurück. Heute ist der Abend, an dem der kopflose Reiter zurückkehrt!
Ich trotte auf den Dorfplatz, wo sich ein Brunnen erhebt. Um den bin ich damals heldenhaft herumgelaufen … Hach, die Nostalgie von vor einem Monat!
Es dauert nicht lange, und ich höre ein unheimliches Heulen. Das klingt ja wie wilde Wölfe, die sich auf die Schafsherde stürzen … Halt! Das ist schon wieder dieser Hundefluch. Langsam wird er stärker als ich, doch um das Problem kann ich mich im Moment nicht kümmern.
Wenig später kommt das schwarze Pferd auf den Platz galoppiert. Sein Reiter schwenkt die Kürbiskopflampe mit meinen feuerfesten Augen darin. Tja, es wäre eben kein Od(d)yssee-Buch, wenn ich nicht irgendwann zwischendrin ein Paar Augen beschaffen müsste! Ich hoffe nur, das hier läuft besser als die Geschichte damals mit Gully.
Auf dem Platz kann mich der Reiter jedenfalls nicht sehen. Er wirbelt weiter mit dem Kürbis herum, sein Pferd trabt über den Platz. Dann erklingt seine Stimme.
„Ja, erzittert, ihr Sterblichen! Dies ist meine Nacht! Niemand darf die Straße betreten, solange der kopflose Reiter umgeht.“
„Hehe.“
„Was?“ Der Reiter wirbelt den Kürbis im Kreis. Sein Pferd guckt sich mit um und dreht sich dabei im Kreis, was bei so einem großen Huftier zwangsweise albern aussieht.
„Der Name ist halt immer noch besch…eiden.“ Mein großer Auftritt wird von dem Fluchfluch zerstört, der mich im letzten Moment dazu zwingt, ein freundlicheres Wort zu wählen als ‚#!*#@%#!*&‘.
„Warte … du bist der Hund!“
„Wolf!“
Der Reiter versucht noch immer, mich zu finden. Ich bin ja nicht blöd – ich hocke da, wo er mich zuletzt suchen wird.
„Du bist ganz eindeutig ein Hund!“, faucht der Reiter. „Ein feiger Hund nämlich! Komm hervor und zeig dich, statt nur Sprüche zu schwingen.“
Ein feiger Hund? Er wagt es? „Ich bin kein Hund, und ich bin auch nicht feige! Sondern vernünftig.“
Gut, zugegeben, das klingt sogar in meinen Ohren lächerlich, als ich es ausspreche. Ich bin so weit von der Vernunft entfernt wie ein Schluck Milch in einem strenggläubigen, jüdischen Haushalt vom Braten entfernt steht!
„Du hast die Regeln gebrochen“, fährt der Reiter etwas ruhiger, aber umso drohender fort. „Niemand darf in dieser Nacht auf die Straße treten. Dies ist meine Nacht und ich dulde die Lebenden hier nicht.“
„Wie, deine Nacht? Hast du die angepinkelt?“
Der kopflose Reiter schnappt empört nach Luft.
Ich kichere vor mich hin, ehe ich mein Kichern rasch verschlucken muss. Wie schon bei meinem ersten Zusammentreffen mit dem Reiter – weil er mich anstarrt.
„Hab ich dich!“, ruft er triumphierend. Er beugt sich über den Brunnenrand, wo ich mich tapfer trotz meines wachsenden Wassertraumas versteckt habe. Jetzt hält er in der einen Hand den flammenden Kürbiskopf und greift mit der anderen nach mir.
Aber so nicht! Ich recke den Kopf und packe seinen Ärmel mit den Zähnen. Dann stoße ich mich mit allen Pfoten von der Brunnenmauer ab und ziehe mit einem Ruck.
Darauf war der Reiter nicht vorbereitet. Mit einem erschrockenen Laut rutscht er über den Brunnen und fällt platschend hinter mir ins Wasser. Es zischt, Dampf steigt auf, als der Kürbiskopf aufschlägt.
Und die feuerfesten Augen rutschen durch den Aufprall nach draußen. Ich tauche unter, schnappe mir die beiden dunklen Kohlestücke und tauche wieder auf. Die Augen scheinen wirklich aus Kohle zu bestehen. Sie schmecken bitter und fühlen sich auf meiner Zunge noch warm an, obwohl sie vom kühlen Wasser durchtränkt wurden.
Ich trete auf die Schultern des plantschenden Reiters und springe über ihn aus dem Brunnen. Dann weiche ich dem schwarzen Pferd aus, das nach mir beißt. Es macht mit stampfenden Hufen ein paar Schritte hinter mir her, kehrt dann aber um, um seinen Herrn zu retten. Oder um den tropfenden Kürbis zu fressen. Ich warte nicht ab, sondern renne, was das Zeug hält. Raus aus dem Dorf, zurück auf die Wiesen und direkt zum Fluss. Ich will kein Risiko eingehen.
Erst, als ich den Fluss überquert habe, atme ich auf. Ich spucke die gestohlenen Augen ins Gras und schüttele Wasser aus meinem Pelz.
Jetzt reicht es mir endgültig mit den Bädern! Meine Pfoten zittern. Ich merke, dass mir das Atmen schwerfällt. Ich hatte in letzter Zeit definitiv zu viele Nahtoderlebnisse am Wasser. Und sogar ein paar Echttoderlebnisse! Nein, damit ist jetzt Schluss. Ich brauche dringend Urlaub in einer Wüste.
Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet habe, um mich zu beruhigen, sammele ich die feuerfesten Augen wieder auf. Gotteszorn habe ich zwar noch nicht, aber jetzt kann ich immerhin den nervigen Kittelträger auszahlen. Und dieses Halsband loswerden!
Mit meiner Beute trotte ich los. Zunächst bleibe ich auf dieser Flussseite, nur falls der Reiter nach mir sucht. Bald gelange ich in das Wiesenland, in dem ich damals von der Gewitterwolke geärgert wurde. Das fühlt sich an, als wäre es eine Ewigkeit her. So mindestens fünf Jahre!
Als ich das Schloss in der Ferne erblicke, dämmert bereits der Morgen. Ein wunderschöner, blassgoldener, strahlender Sonnenuntergang. Und mein letzter, wenn ich Miss Fortune heute nicht ihren Gotteszorn bringe.
Ich lege die Augen auf einem Hügel ab und bleibe eine Weile stehen, um einfach zuzusehen, wie Sol die Welt erhellt. Die Wolken strahlen rot bis rosa. Der Himmel färbt sich langsam von schwarz zu blau, ein Blau, das immer heller und schöner wird. Lyssa verziert mir den wunderschönen Ausblick mit fliegenden Drachen und filigranen Schnörkelblumen, als würde ich auf ein gerahmtes Gemälde sehen. Es ist ein Anblick, der einen durchaus zu Tränen rühren kann.
Wenn alles andere nicht klappt, dann habe ich meinen letzten Tag auf dieser süßen, wenn auch etwas irren Erde wenigstens genutzt, um noch einmal die Sonne aufgehen zu sehen. In diesem Moment ist es mir, als könnte ich das Universum fühlen, die Unzahl an Planeten und Gestirnen im All um uns herum, die Unendlichkeit und gleichzeitige Endlichkeit des Seins. Meine Irrfahrt erscheint mir nichtig angesichts des Laufs der Planeten. Wenn eines Tages die Sonne implodiert, wird es dann wirklich eine Rolle spielen, dass irgendwo ein kleiner Grauwolf zu spät eine Schuld beglich?
Nun, für mich natürlich schon. Aber im Auge des Universums bin ich nicht mal ein Wimpernschlag. Ich weiß nicht, wieso, aber es ist ein tröstlicher Gedanke. Wie auch das Wissen, dass der Tod nicht das Ende ist. Ich werde in die Sternwiesen eingehen und irgendwann im Pelz eines neuen Welpens zurückkehren. Das Energieerhaltungsgesetz: Nichts geht jemals wirklich verloren. Im Kreislauf der Ewigen Jagd scheidet niemand je für immer aus dem Tanz!
Ganz so eilig habe ich es damit dann aber auch nicht. Und so sammele ich die Augen wieder ein und laufe zum düsteren Schloss des verrückten Wissenschaftlers.
Es wird Zeit, noch wenigstens eine Sache zu erledigen. Vielleicht auch zwei!