Ich kehre dem Berg schnell den Rücken und kehre diesmal auch nicht ins Dornengestrüpp zurück. Nur zur Sicherheit – die Prinzessin und ihr Ritter haben mich dort gesehen, sie könnten dem Drachen also verraten, dass das mein liebster Fluchtweg ist! Entsprechend stelle ich meine Berechnungen etwas um – und kehre zur Küste zurück, der ich ursprünglich gefolgt bin. Ich finde sie dort, wo ich sie wenig zuvor zugunsten des erleuchteten Hains verlassen habe.
Obwohl, wie lange genau war das her? Die Prinzessin meinte, dass ihr Turm täglich versetzt wird – sicher durch Magie – also habe ich immerhin keine Gewissheit, dass hundert Jahre vergangen sind. Damit bin ich aber immer noch nicht viel weiter. Es könnte jede Zeitspanne sein. Auch hundert Jahre. Sogar tausend Jahre! Und ein Tag. Alles dazwischen!
Ich wünsche mir ja doch gelegentlich eine Armbanduhr. Eine von der Sorte, die auch das Datum anzeigt. Leider gehen diese innerhalb der Schimmerwelt auch immer wieder kaputt. Denn jede Welt hat ihre eigene Zeit. Die läuft nicht parallel und oft nicht mal im gleichen Tempo! Sie kann Sprünge machen und pausieren und all dieses Zeug, was in der alten Heimat nur eine Metapher war.
Schließlich stoße ich aber endlich auf den Fluss, nach dem ich gesucht habe. Offenbar wurde ich im Ozean doch etwas stärker abgetrieben, als ich dachte. Aber ich habe auch keinen eingebauten Kompass, nur diese wunderschöne, golden glänzende Münze, die ich mit mir herumschleppe.
Sie ist wirklich sehr schön. Aber auch ein wenig einsam, glaube ich. Ich sollte ihr bald eine weitere Münze als Spielgefährten holen. Ich glaube, Gold ist ein Rudeltier!
Müde folge ich dem Fluss, aber ich will nicht anhalten. Langsam wird es dunkel, was mir erneut vor Augen führt, wie knapp meine Zeit bemessen ist. Ich weiß wirklich nicht, ob und wann Miss Fortune mich heimsucht und ihren Zorn verlangt. Verflixt! Wenn es doch nur wirklich ihr Zorn wäre. Das würde Vieles erleichtern.
Zum Beispiel müsste ich mich nicht mit Göttern herumschlagen, die mich mit einem Fingerschnipsen meilenweit vom einzigen erreichbaren Questziel fortschleudern! Der Plan mit dem Evolutionsgott ist ja mal gründlich nach hinten gegangen. Und der Fluss nimmt noch lange kein Ende. Vor mir führt er durch einen Gebirgspass, dahinter finde ich hoffentlich die Hügel vor, in denen sich das Dorf befand.
Mit dem Kerl mit den feuerfesten Augen. Den will ich garantiert nicht aus meinen nicht-feuerfesten Augen lassen!
Die Nacht kriecht herauf. Zu allem Überfluss höre ich fernen Donner. Da naht offenbar ein Sturm dem Pass von der anderen Seite. Mir bleibt auch nichts erspart! Trotzdem muss ich weitermachen. Die Zeit drängt.
Ich keuche inzwischen ordentlich um die Münze im Maul herum. Die behindert den Atem schon ordentlich, weil ich sie so festhalten muss, dass ich sie nicht zerkratze, aber fest genug, dass sie mir nicht bei einem tiefen Einatmen in den Hals rutscht. Ich will sie ja nicht essen, nur … bewahren.
So kann ich allerdings nicht sehr gut atmen und muss mich auch die ganze Zeit auf meinen Kiefer konzentrieren. Eine Konzentration, die plötzlich gebrochen wird. Mein Fell prickelt. Ich sehe mich verdutzt um. Bin ich vor lauter Gedanken aus Versehen in einen Ameisenhügel gelaufen?!
Dann jagt mich ein Stromstoß ein kurzes Stück in die Luft, meine Pfoten verlassen den Boden.
„Au!“
Noch ein Stromstoß. Die sind nicht besonders schmerzhaft, glücklicherweise, aber sie erschrecken mich jedes Mal. Mein Körper zuckt ohne mein Zutun zusammen.
Ich schrecke auf. Die Münze! Ich habe die Münze fallen gelassen! Panisch drehe ich mich um und suche den vertrauten Schimmer im Gras. Mein Eigen! Mein Schaaatz!
Noch dreimal lässt mich das Halsband hopsen, dann befindet Mister Kittel seine Drohung wohl zur Genüge ausgedrückt und das Halsband schweigt. Ich entdecke die Münze, die bereits vom Flussufer in die Fluten stürzen wollte – was haben kleine, goldene Objekte bloß immer mit Flüssen? – und rette sie.
Das Halsband funktioniert also noch. Endlich kann ich meine Zeit einschätzen. Mehr als ein paar Stunden oder vielleicht einige Tage kann ich nicht geschlafen haben, denn der Kittel lebt noch und wartet offenbar immer noch auf meine Rückkehr. Gut. Oder schlecht! Wie auch immer.
Die Stromstöße haben mich allerdings auf eine Idee gebracht, weshalb ich den Weg zu den nahen Bergen einschlage. Hinzu kommen die erneut dräuenden Gewitterwolken, die meinen Weg zusätzlich erschweren wollen, aber ein Glück im Unglück darstellen. Wieso sollte ich mich so quälen, wenn ich auch einen vollkommen klassischen Weg gehen könnte?
Kurzentschlossen laufe ich die Bergflanke rauf. Es kann doch wirklich nicht so schwierig sein, einen Gott wütend zu machen. Ich habe das sogar mal gemacht! Also … Oh, Mist, der Blecheimer fehlt. Und, ehrlich gesagt, auch die Antenne. Ich werde improvisieren müssen …
Im Gebirge finde ich zum Glück eine hoch gelegene, praktische Pfütze. Sie ist nicht ganz am Gipfel, aber knapp darunter, und wird vom aufkommenden Regen stetig gespeist. Ich trete in selbige Pfütze. Jupp, kalt, nass, perfekt geeignet!
Dann spucke ich den Ast aus, den ich während des Aufstiegs eingesammelt habe, und kontrolliere noch einmal, dass mein Schatz zwischen den Zweigen gut verklemmt ist. Die Münze ist absolut wichtig für das Gelingen meines Vorhabens. Sie recke ich mit dem Ast im Maul in den hinaufziehenden Sturm. Dazu verpflanze ich alle vier Pfoten in die eisige Pfütze.
„Hey, Thor!“, brülle ich in den Sturm.
Ein Blitz zuckt fragend in meine Richtung und schlägt Schnee vom Berggipfel über mir ab, der in mein Rückenfell rieselt. Eigentlich mag ich Schnee auf dem Rücken, aber dieser findet genau den Platz zwischen meinen Narben, um unter das Fell auf die Haut zu kriechen. Brrr!
Ich ignoriere den kalten Schauer tapfer und sehe in den Sturm, der sich nun vor mir zusammenballt.
„Blitze? Das ist ja so was von langweilig!“
Das kommt etwas undeutlich am Stock vorbei, den ich zwischen den Zähnen habe, aber es reicht offenbar, denn der Donner klingt sogleich zorniger.
Tja, oft ist der einfachste Weg auch der effektivste!
„Und dein Donner klingt wie Verdauungsprobleme nach zu scharf gewürztem Essen!“
Das Grollen wird lauter.
„Ja, genau das meine ich! Habe ich schon erwähnt, dass dieses ganze Machogehabe mit dem Herumgestürme einfach nur peinlich ist? Wem willst du etwas beweisen, hm?“
Es wird still. Allerdings nicht ruhig. Der Wind tost stärker und die Wolken vor mir ballen sich sichtbar zusammen. Dann werden sie heller, als sich ein gewaltiger Blitz auflädt.
Sekunde … wie war nochmal Teil 2 des Plans?
Aus der Wolke schießt ein metallenes Etwas, das ausgesprochen hart und schmerzhaft aussieht. Ein Hammer! Er wird von Blitzen durchzuckt, die bereits nach der Münze im Ast greifen.
Das ist kein Gotteszorn, den ich irgendwie transportieren könnte!
Meine Entscheidung ändert sich im Bruchteil einer Sekunde. Ich lasse den Ast fallen und springe aus der Pfütze, die hinter mir im Aufschlag von Hammer und Blitz verdampft. Nur kurz spüre ich einen Stich der Wehmut, als meine wunderbare Münze sich in einige Tropfen Wohlgefallen auflöst.
Im nächsten Moment habe ich sie vergessen. Was will ich denn mit einer Münze? Ich bin ein Wolf, kein Zweibeiner. Zum Glück habe ich nicht angefangen, Gold zu horten, wie ich es wollte.
Ich krieche zwischen Steine, bis die Blitze hinter mir nachlassen. Die Pfütze ist völlig ausgelöscht, der Ast und die Münze verbrannt. Hoffentlich denkt der Gott, dass ich tot bin!
Auf dem Bauch robbe ich langsam, ganz langsam, von Deckung zu Deckung den Berg wieder herunter.
Manchmal … manchmal sollte man den einfachsten Weg doch nicht beschreiten!