Ich sollte einfach mein Maul halten! Langsam sollte ich doch wissen, dass irgendein Schicksalswesen, das sich für besonders witzig hält, jeden meiner Gedanken abhört.
Folglich macht der Gottesfluch in diesem Dorf Probleme. Massive Probleme!
Mit Einbruch der Dunkelheit erklingt seltsam lebloses Wolfsgeheul. Menschen finden Wolfsgeheul ja an sich gruselig. Aber das hier ist das Äquivalent zu gruseligen, kleinen Mädchen, die in gespenstischen Wäldern vor sich hin singen. Das Jaulen klingt einfach nicht richtig. Vor allem enthält es keine Worte, die ich erkennen würde. Offenbar ist es kein echter Wolf, der da jault. Sondern … etwas.
Langsam verstehe ich, dass die Dorfbewohner meiner Art gegenüber etwas misstrauisch sind. Sie haben eben schlechte Erfahrungen gemacht. Ich kann ihnen immer noch vorwerfen, dass sie sich von Vorurteilen leiten lassen, aber ich verstehe sie etwas besser. Meine Reise der Entdeckung der Vergebung wird allerdings unterbrochen, als sich ein schrilles Wiehern in die Gesänge der Gruselwölfe mischt. Dieser Laut kommt rasch näher, schneller Hufschlag gesellt sich hinzu. Ich trete sicherheitshalber hinter den Brunnen. In diesem Moment habe ich beschlossen, dass ich die Stelle hinter der niedrigen Mauer sehr viel gemütlicher finde als den offenen Platz davor.
Wenig später galoppiert ein schwarzes Pferd auf den Platz, aus dessen Nüstern Flammen schlagen. Epischer Effekt, aber sicher total schädlich für den Geruchssinn. Das Pferd ist schon gruselig, viel schlimmer ist aber der Reiter. Erst einmal ist er ein Mensch. Das würde reichen, aber er braucht den Overkill: Auf seinen Schultern ist nichts, kein Hals, kein Kopf. Statt eines Kopfes muss wohl der leuchtende Kürbis herhalten, der eine feurige Fratze schneidet und von dem Reiter in der linken Hand geschwenkt wird. In der rechten hält er einen Säbel.
Und dann kreischt er auch noch ein paar Oktaven zu hoch. Wen will er damit unterhalten, die Fledermäuse?
In meinem Versteck kichere ich hämisch.
Im nächsten Moment richtet sich der Blick der Kürbisfratze auf mich.
„Welcher Narr ist denn noch unterwegs?“
Ich kann euch sagen, so schnell habe ich noch nie zuvor ein Kichern verschluckt! Ich muss sogar etwas husten. Das schwarze Pferd, das zwecks epischen Posens auf dem Dorfplatz gehalten hatte, trabt jetzt auf mich zu. Ich weiche um den Brunnen herum zurück. Der Reiter reckt seinen Arm, um über den Brunnen sehen zu können, zügelt das Pferd und lenkt es in die andere Richtung.
Ich bin nicht doof – ich laufe zurück. Nach zwei, drei Minuten dieses Spiels seufzt der kopflose Reiter hörbar.
„Das ist doch albern! Jetzt bleib stehen.“
„Wieso?“
„Wie, wieso?“
„Was genau willst du tun, wenn du mich eingeholt hast?“
„Na, deinen Kopf abschlagen natürlich.“
„Was?!“ Das ist nicht eben nett! „Nein, danke.“
„So sind die Regeln! Du bist im Dunkeln noch draußen. Und ich bin der kopflose Reiter.“
„Das ist wirklich dein Name?“ Huch, da ist das Kichern wieder. Muss wohl zurück nach oben gekrochen sein. „Wie einfallsreich!“
„Ich habe mir den ja nicht gegeben.“
Gut, da hat er auch wieder recht. Die wenigsten Leute suchen sich ihre Namen selbst aus. Meinen habe ich übrigens mit einem Jahr zum Ritual des Schneefalls erhalten.
Der Kürbis verengt dunkle Pupillen in seinen Augenhöhlen. Sie werden von Flammen umtanzt und wecken eine alte Erinnerung in mir.
(Gut, so alt ist sie noch nicht. Aber zwischen Lyssas Chaos und meinen Aufmerksamkeitsproblemen wurde der Gedanke schon wieder in die hintersten Winkel meines Bewusstseins gepingpongt.)
Feuer. Augen. Feuerfeste Augen! Die brauche ich ja noch, und hier habe ich sie offenbar gefunden. Ich muss mir nur überlegen, wie ich die aus dem brennenden Kürbis bekommen soll. Nachdenklich betrachte ich den genauer. Zum Glück ist der nervige Brunnen nicht mehr im Weg. Also, vielleicht mit einem Stock oder … Moment!
Im letzten Moment ducke ich mich unter dem sausenden Säbel weg. Ich war abgelenkt, und der Mistkerl hat die Gelegenheit genutzt, um den Brunnen zu umrunden. Er hätte mich beinahe erwischt!
Mit über das Pflaster kratzenden Pfoten wende ich und renne los, über den offenen Dorfplatz und zwischen die Gassen. Der Reiter folgt mir mit einem irgendwie genervt klingenden, geisterhaften Jaulen. Das Pferd schließt auf. Hat ja auch längere Beine.
„Das ist echt nicht fair!“
„So sind die Regeln. Jetzt bleib doch mal stehen!“ Der Säbel touchiert mein Nackenfell. Ich denke kurz nach und befolge den Wunsch des Reiters dann. Das Pferd galoppiert an mir vorbei. Ich ziehe Kopf und Pfoten ein, damit sie nicht unter die Hufe geraten. Der Reiter flucht, während er wendet. Zu diesem Zeitpunkt bin ich bereits in einer Seitenstraße.
Wälder sind mir für eine Flucht lieber. Mit Gebüsch und Steinen und so komme ich sehr viel besser zurecht. Aber im Notfall tut es dann eben auch eine Menschensiedlung mit lustigen Mauern. Immerhin kann ich ein paar Haken schlagen und meinen Verfolger abschütteln. Jedenfalls, bis meine Unerfahrenheit mit Städten mich einholt und ich dem schwarzen Pferd direkt vor die Hufe laufe.
„Habe ich dich!“, triumphiert der Reiter.
„Ahhhh!“ Ich bremse, wende und laufe zurück. Da, da vorne ist der Ausgang. Ich brauche Wildnis, diese doofen Ecken bringen mich noch richtig durcheinander. Also flitze ich los, den Kürbishauch meines Verfolgers dicht im Nacken. Draußen erkenne ich den Fehler meines Plans.
Hier gibt es kein Gebüsch, nur Wiesen und Weiden und Äcker. Verdammte Menschen! Dass die niemals ein gutes Brombeerdickicht stehen lassen können, oder ein kleines Wäldchen. Nein, immer müssen sie diese Aussicht haben. An unsereins denkt dabei keiner. Wie soll ich auf offenen Wiesen einem Pferd davonrennen?
Der Säbel fährt singend durch die Luft. Ich glaube, er jodelt. Darüber kann ich jetzt wirklich nicht nachdenken, aber merkwürdig ist es schon.
Dann fängt ein Glitzern meinen Blick ein. Mondschein auf den Wellen. Der Fluss! Wenn ich irgendwo sicher bin vor dem feuerköpfigen kopflosen Reiter, dann ja wohl im Wasser!
Entschlossen nehme ich meine Pfoten in die Pfote und jage auf das glitzernde Wellenband zu. Hinter mir wird die Erde von dunklen Hufen aufgerissen.
Wie Frodo auf der Flucht vor den Nazgûl erhoffe ich mir Rettung vom Wasser. Dieser Fluss reicht mir jedoch kaum zum Bauch, als ich hineinspringe, und besonders breit ist er auch nicht. Zwei Schritte später bin ich schon am anderen Ende und renne kurzerhand weiter. Da kommt das verdammte Pferd mit einem Hopser drüber! Mit zusammengebundenen Beinen! Wo ist denn hier mal etwas hilfreiche Landschaft?!
Dann wird mir bewusst, dass das Pferd zurückbleibt. Überrascht drehe ich mich um.
Das Albtraumross trabt unruhig am Flussufer hin und her. Der Reiter schwingt Säbel und Kopf und flucht.
„Komm zurück!“, ruft er. „Komm sofort zurück!“
Ich muss ja schön blöd aussehen! Obwohl … „Was zahlst du mir dafür?“
„Häh?“
„Na, du musst mir schon was bieten!“ Selbstbewusst richte ich mich auf. „Wirf mal deine Augen rüber, dann komme ich zurück.“
„Meine Augen?“ Statt mit Augen, holt der Reiter gleich mit dem ganzen Kopf aus und wirft mir den Kürbis entgegen. Ich springe zurück, worauf das brennende Gemüse seine Richtung anpasst. Ich mache ein paar Schritte, während der Kopf langsam zur Erde fliegt, dann setze ich meine Pfote auf seine Stirn.
Sehr gut! Jetzt muss ich nur noch …
„Au! Hör auf zu beißen!“
Mit einem tiefen Lachen geht der Kürbis vollständig in Feuer auf und springt schnappend hinter mir her. Okay, Augen hin oder her – mit bissigen Feuerkugeln will ich heute nicht mehr jonglieren. Also schaffe ich mir den Kopf mit einem gezielten Tritt vom Leib und fliehe weiter weg vom Fluss, bis der Kürbis schließlich aufgeben und zum Reiter zurückkehren muss. Eine kleine Spur aus Glut bleibt im Gras zurück.
Ich laufe bis zum nächsten Wald, einem kleinen Hain in Sichtweite des Dorfes, und suche mir ein Versteck.
Was für eine Nacht. Morgen muss ich unbedingt herausfinden, wie man feuerfeste Augen aus dem Feuer holt!