Zum zweiten Mal in zu kurzer Zeit paddele ich Wasser tretend durch ein endloses Wellenmeer. Ist das redundant? Weil ein Meer immer aus Wellen besteht? Ist ja auch egal, erzählt ihr mal eine perfekte Geschichte, während ihr ums Überleben strampelt!
Ich spucke Salzwasser aus. Das schmeckt echt nicht gut. Und es brennt in den Augen, was es schwierig macht, irgendein Festland zu erkennen. Ich habe immerhin aus meinem letzten Ausflug dieser Art gelernt und sofort damit begonnen, in eine Richtung zu schwimmen. Besser noch, ich habe mir diesmal gemerkt, aus welcher Richtung ich geflogen kam und wo damit das nächste Land sein müsste. Doch ich schwimme schon eine Weile vor mich hin, ohne dass das Land in Sicht käme. Alles, was ich finde, ist Salzwasser.
So war das irgendwie nicht gedacht! Probeweise versuche ich, meinen Auftraggeber zu erreichen.
„Miss Fortune? Hallo? Miss?“
Es pufft. „Was … du schon wieder?“
„Ich … kannst du gucken, ob ich irgendwo Gotteszorn habe?“ Ich schwimme zielstrebig auf die Wolke zu. Darauf sitzt Miss Fortune in einem sehr hübschen Ballkleid und mit halbgeschminktem Gesicht.
Ich setze meine Pfote auf die Wolkenseite und ziehe mich rauf. Das ganze Ding kommt ins Kippeln.
„Hey, vorsichtig!“ Miss Fortune wedelt einmal mit der Hand. „Nein, du hast keinen Zorn. Wieso muss ich das eigentlich prüfen, das ist deine Aufgabe! Du musst so was doch wissen.“
„Da war dieser Gott, der sehr wütend auf mich war …“ Ich versuche, an Bord der Wolke zu robben. „Ich dachte, vielleicht reicht das mal!“
„Du riechst nach nassem Hund!“ Die Stimme der Dämonin wird näselnder, als sie sich besagtes Riechorgan zuhält. „Hey, du machst alles nass!“
„Wenn du mich nur kurz zum Ufer zurück …“
Puff. Und weg ist sie, meine Wolke. Ich falle das kurze Stück ins Wasser und gehe erst einmal unter. Hastig strampele ich wieder an die Oberfläche.
„Miss Fortune!“ Hust, spuck. „Komm sofort zugurgel. Zurück, meine ich!“ Ich spucke Wasser und sehe mich um. Natürlich ist kein Dämon in Sicht. „Wie soll ich dir helfen, wenn ich stergluckgluckgluck?“
Ich gebe das Gebrüll nach diesem Versinker auf, denn ich brauche den Atem definitiv woanders dringender. Auf Miss Fortune ist einfach kein Verlass. Immer nur Forderungen, aber keine Hilfestellung. Und dann auch noch der Vergleich mit einem Hund. Ich bin ein Wolf! Niemals würde ich den Menschen gehorchen! Ich jage meine Nahrung noch selbst, nicht in einem kleinen Silbertopf, und ich beiße auch manchmal, wenn mich jemand nervt!
Ich bin ein großer, starker, unabhängiger Wolf und brauche niemanden. Also … meistens.
Suchend sehe ich mich um und flüstere kleinlaut: „Hilfe? Irgendjemand?“
„Hallo!“
Ich zucke zusammen, denn die Stimme kenne ich. Die Meerjungfrau. „Irgendjemand anderes?“
„Wölfchen!“ Begeistert zieht mich die Nixe in ihre Arme und knuddelt mich durch.
Ich japse. „Luft!“
„Wir sind doch über den Well… oh.“ Endlich lässt sie mich los. Ich gehe unter.
„Also, du solltest dich schon entscheiden.“
Ich zappele auf dem Arm meiner nun zweifachen Retterin. „Einfach zum Ufer, bitte.“
„Aber dann haust du doch wieder ab.“
„Niiieeemaaals.“ Ob das überzeugend klang?
„Böser Wolf!“
„Hör mal, du kannst doch nicht mit mir schimpfen wie mit einem Hund!“ Immerhin zieht die Meerjungfrau mich in eine Richtung. Hoffentlich nicht zurück auf den Ozean.
Sie krault mich hinter dem Ohr. Oh, das tut schon irgendwie gut … Halt! Ich winde mich frei. „Hast du gehört? Ich bin kein Hund!“
„Aber du trägst ein Halsband.“
„Das ist nur vorübergehend! Und mal wirklich, egal, was ich trage, das erlaubt dir keineswegs … Etwas weiter links, bitte.“
Die Meerjungfrau kichert und krault weiter. Ich schließe einen Moment die Augen. Vielleicht auch einen längeren Moment, denn als ich wieder blinzele, sehe ich Strand vor mir.
Das Festland! Endlich! Ich reiße mich aus der Starre und strampele.
„Hiergeblieben. Sitz!“
„Sitz? Ich bin doch kein …“ Ich sehe an mir herunter. Ich sitze im flachen Wasser.
„Braver Wolf. Möchtest du einen Fisch?“ Die Meerjungfrau wedelt mit einem Leckerli. Warte, was denke ich da? Das ist kein Leckerli, das ist ein stinkender Fisch! Aber warum wedelt meine Rute plötzlich?
„Willst du? Willst du?“
Ich tue etwas, das habe ich noch nie getan: Ich belle. So richtig auffordernd, weil ich ein Leckerli will. Bei allen Sternen, das ist vielleicht peinlich! Hoffentlich hat das außer der Meerjungfrau niemand mitbekommen.
Als sie den Fisch auch noch wirft, reiße ich mich endlich aus diesem merkwürdigen Zustand und mache zwei Schritte zurück.
„Hol’s Stöckchen!“, flötet die Meerjungfrau.
Ich renne in die andere Richtung.
„HEY!“ Die Meerjungfrau rennt, für so ein fischschwänziges Wesen, erschreckend schnell hinterher und holt mich im wolfstiefen Wasser wieder ein. „Hiergeblieben! Böser Wolf!“
Ich widerstehe dem plötzlichen Drang, schuldbewusst zu winseln. Was ist denn bloß los mit mir? Kann das eine Salswasservergiftung sein? Oder … nein, das hat der Gott nicht getan, oder? Er hat mich doch nicht mit … mit Evolution verflucht, oder?
Der erschreckende Gedanke jagt einen Schauder durch mein nasses Fell. Ich versuche noch immer, aus dem Griff der Meerjungfrau zu entkommen. Doch das furchtsame Kribbeln wird stärker.
„Wolf? Alles gut? Was ist mir dir?“
Sekunde … das ist gar keine Angst!
Im nächsten Moment blitzelt es durch mein Fell. Das verdammte Halsband schon wieder. Der Kittelträger ist wohl mal wieder ungeduldig.
Mit einem Aufschrei lässt die Meerjungfrau mich los. Immerhin, Glück im Unglück. Ich hüpfe rasch an Land, ehe die Stromschläge stärker werden.
„Nein! Hundi!“, weint es mir nach.
„Ich bin kein Hund!“ Aber langsam bin ich mir da nicht mehr so sicher. Es wird höchste Zeit, dass ich dieses Halsband loswerde!