Glücklicherweise hört das Halsband schließlich auf, herumzumucken. Inzwischen ist es aber auch Abend und mein Fell immer noch nass. Müde schleppe ich mich voran, auf der Suche nach entweder Göttern, einem Platz zum Schlafen oder einem paar feuerfester Augen.
Zwei dieser Dinge sollte ich bald finden …
Ich durchquere friedliche Hügel, die mir bekannt vorkommen. Diesmal tobt hier zum Glück kein vorlauter Sturm herum. Ich halte mich in Sichtweite des Ozeans, denn ich habe tatsächlich eine Art Plan. Wenn ich den Fluss wiederfinde, kann ich diesem zum Dorf folgen. Bekanntlich führen alle Flüsse zum Meer, also sollte ich entlang der Küste ja irgendwann meine Spur finden. Immerhin weiß ich, dass es in diesem Dorf sowohl feuerfeste Augen als auch einen Gott gibt.
Allerdings finde ich nicht den Fluss, dafür eine Art Hain. Ein kleines Wäldchen, von dichten Hecken umgeben, aus dem es köstlich nach diversen Speisen duftet. In der aufziehenden Nacht leuchtet der Ort verheißungsvoll golden. Längst bereue ich es, den Fisch der Meerjungfrau nicht angenommen zu haben, und so wenden sich meine Pfoten von ganz alleine dem Wäldchen zu.
Ich umrunde den merkwürdigen Ort in einem weiten Bogen, bis ich ein Tor aus blühenden Hecken sehe, durch das ich vorsichtig auf einen weichen Erdpfad trete, der sich zwischen den erleuchteten Bäumen hindurch zur Mitte des Wäldchens windet.
Ich bin sicher, dass die Bäume hier nichts zu suchen haben. Das sind nämlich blühende Kirschbäume, die ich sonst auf den Wiesen noch nie gesehen habe. Aber es riecht eben immer noch nach köstlichen Speisen, also verschiebe ich die Florauntersuchungen auf Später.
Schließlich erreiche ich eine Lichtung mit sandigem Boden. Der Sand wurde ordentlich geharkt, sodass hübsche Wellenmuster entstanden sind. Diese genießt ein einzelner Mann in orangen Gewändern. Auf den ersten Blick halte ich ihn für Pumpkin, meinen alten Kumpel vom Vampirauftrag. Dann wird mir jedoch klar, dass dieser Typ zwar ebenso orange und dick, aber etwa viermal so groß ist. Der ist ein wahrer Riese! Und entsprechend reich ist auch der goldene Teller vor ihm gedeckt. Hmm, sabber … Das sind Köstlichkeiten aus aller Herren Länder!
Nach einem Blick auf den Riesen mache ich allerdings ein paar nervöse Schritte rückwärts.
„Komm ruhig näher, Hündchen.“
Er hat mich bemerkt! Ich schlucke ein wenig zusammengelaufenes Wasser herunter. „Ich, ähh … bin kein …“ Ob es klug ist, jetzt darauf hinzuweisen? Menschen mögen Hunde, ganz anders als Wölfe. Ich schiele auf den Teller und wage mich wieder vor, Pfote für Pfote. Auf dem Teller liegen Reis und Fleisch in bunten Soßen, Obst, sogar das Gemüse sieht köstlich aus. Oder ich bin echt ausgehungert.
Der große Mann klaubt einen Hühnerschenkel vom Teller und hält ihn mir hin. Ich beschließe spontan, dass ich ihn liebe, und nehme ihm sanft den Knochen aus der Hand. Ich lasse mich sogar tätscheln.
„Genieß es, Grauer. Ich bin eh Vegetarier, aber manche Leute vergessen das bei den Opfergaben.“
Schmatzend – der Hühnerbollen ist schon fast weg – hebe ich den Kopf. „O-opfergaben?“ Das klingt irgendwie unheimlich.
Der große Mann deutet auf den Teller. „Mir werden Speisen geopfert – ich bin nämlich ein Gott.“
Mir fällt fast der Hühnerknochen aus dem Maul. Fast – erstens bin ich hungrig, zweitens hege ich noch immer etwas Groll gegen die Gruselhühner.
Noch ein Gott? Ich habe das Gefühl, in letzter Zeit stolpere ich ständig über Götter!
Mir wird noch ein Stück Fleisch gereicht. Hmm, Rindfleisch. Eigentlich mag ich Wild lieber, aber … so ein Steak ist doch gar nicht übel!
Oh-oh, die Hundifizierung wirkt immer noch. Aber ein Steak kann sicher nicht schaden.
Ich schiele vorsichtig zu dem Gott hoch. „Von was bist du denn der Gott?“
„Oh, ich sehe das mit dem Besitz eigentlich nicht so … streng. Die Welt gehört sich selbst.“
„Du bist ein Gott, dem nichts gehört?“ Halb erwarte ich, dass er böse wird, aber der Mann lacht nur.
„Ich vertrete eine Lehre, die ich verbreite.“
Ich lege den Kopf schief. „Also Missionierung. Am liebsten noch blutig?“ Ja, ich bin satt – und damit kehre ich zu meinem alten Plan zurück: Den Gott ärgern und Miss Fortune ihren gewünschten Zorn beschaffen. Vielleicht sollte ich mir wenigstens eine kleine Atempause gönnen, aber ich will den Teil endlich erledigt haben. Ich hasse unerledigte To-Do-Punkte!
„Nein, nein, ich missioniere nicht.“ Das Lächeln des Gottes ist fast breiter als er. Er strahlt absolute Zufriedenheit aus. „Jeder ist willkommen, aber unter Zwang funktioniert es nicht. Wir streben Frieden in allen Dingen an!“
Frieden in allen Dingen?
„Es geht darum, der Welt ausgeglichen zu begegnen, keinen Groll zu hegen, alles loszulassen und dadurch glücklich zu werden.“
Das klingt unheimlich sympathisch. Wenn ich nicht schon meine Religion hätte … Aber im Moment brauche ich sicher keinen Gott des Friedens!
„Du wirst nie wütend?“
Der große Mann lächelt geduldig auf mich herab. „Natürlich passiert das noch ab und zu. Schließlich ist niemand perfekt.“
Ich spitze die Ohren. Das sollte ich doch schaffen können! Aber erst einmal sollte ich mich absichern. „Und was passiert dann?“
„Oh, ich lasse die Wut einfach los.“
Das klingt noch viel besser als ich erwartet hätte. Stellt sich nur noch die Frage, wie man Wut transportiert. Ob die sich ebenfalls in meine Pfote setzen wird, so wie die Tränen des Mondkalbs?
„Wohin tust du die Wut denn?“ Ich sehe mich auf der Lichtung suchend um. Vielleicht muss ich den Gott gar nicht zornig machen, sondern nur sein Wutversteck finden. Dann ein wenig Götterzorn ausgraben und fertig! Er muss nicht einmal was mitbekommen.
Der große Mann tätschelt mich freundlich an. Es macht mir nicht einmal was aus, nehme ich beunruhigt zur Kenntnis. „Dann löst sich die Wut einfach auf und du fühlst dich viel leichter.“
„Wie … auflösen?!“ Entgeistert starre ich ihn an.
„Wenn man die Wut nicht festhält, zieht sie weiter, wie ein Wanderer. Man kann ihn auch hinauswerfen, indem man aggressiv ist, aber dann zieht dieser Wanderer von einer Person zur nächsten. Man muss diesen Kreislauf brechen. Das macht die Welt besser, aber auch dich glücklicher.“
„Glücklicher?!“ Meine Stimme erreicht neue Oktaven.
Der große Mann legt den ebenso großen Kopf schief. „Hm. Du wirkst auch etwas angespannt.“
„Wie kann man die Wut einfach loslassen!“, schimpfe ich weiter. „Was ist denn wenn – einmal angenommen – jemand die braucht! Man muss doch auch mal an andere Wesen denken.“
Ein wenig hilflos sieht der Mann mich an. Er sitzt da im Kreis seiner geharkten Sandwellen und ist einfach glücklich und entspannt. Das ist doch unverschämt! Ich schnappe ein paar Mal nach Luft, während ich nach Worten für diese Unverfrorenheit suche.
„Sag mal … du wirkst ein bisschen gestresst“, sagt der Mann besorgt. „Hast du es mal mit Meditation versucht?“
„Ich habe doch keine Zeit zu meditieren!“ Was denkt der Kerl? Dass er mein drohendes Burn-out einfach ungefragt bekämpfen kann?
„Je weniger Zeit man hat, desto dringender sollte man meditieren.“
„Ich habe viel zu tun!“
„Und du solltest mit einer Stunde Meditation beginnen.“
Empört sehe ich den Mann an. Eine Stunde?! Er ist echt hartnäckig für jemanden, der nicht missioniert.
„Es würde dir guttun.“
„Ich … außerdem kann ich keinen Schneidesitz!“
Kopfschüttelnd richtet sich der Mann ein wenig auf. Er sitzt übrigens die ganze Zeit schon im Schneidersitz. Mit den Füßen auf den Knien. Angeber!
„Ich sehe, du bist ein harter Brocken, kleiner Hund.“
Ich zucke mit einem Ohr. Die alle immer mit ihren Hunden!
„Ich werde dir jetzt einen Gefallen tun. Du musst wirklich auf dich aufpassen, Stress ist gefährlich. Bleib doch mal stehen.“
„Du hast mir mit einem Gefallen gedroht!“ Ich weiche zu den erleuchteten Bäumen zurück. Dahinter irgendwo verbirgt sich die Sicherheit der Nacht.
„Ich mache das normalerweise nicht, aber ich glaube, du brauchst gerade Hilfe.“
Hilfe brauche ich wirklich. Deshalb zögere ich einen Moment, als sich doch wieder Hoffnung in mir regt. Ob der Gott doch etwas Wut herauskramen kann?
Er berührt meine Stirn – und schlagartig wird mir schwarz vor Augen.
Um mal auf den Anfang des Kapitels zurückzukommen: Ich suchte Götter, einen Platz zum Schlafen und die feuerfesten Augen. Gefunden habe ich einen Gott mit einem verdammten Schlafzauber.
Und nun verschnarche ich unfreiwillig und wehrlos meine kostbare Zeit!