Ich trotte aus dem düsteren Turm. An einer Seite ragt das Gerippe eines Windrads aus dem Gebäude, das Mister Kittel als Hauptquartier dient.
Der Arzt und sein gruseliger Diener haben mich nur widerstrebend ziehen lassen. Selbst nachdem sie mir das dumme Halsband umgelegt haben. Ich musste noch Papiere unterzeichnen, dass ich keines seiner Geheimnisse ausplaudern würde.
Als ob ich eine Ahnung hätte, wie man Wölfe wiederbelebt! Was glaubt der Gruseldoktor eigentlich, wer ich bin? Ein Genie?!
Momentan habe ich aber ganz andere Probleme. Ich muss dringend herausfinden, wie lange ich, nun ja, tot war. Clive … oder Miss Fortune … wird da bestimmt keine Rücksicht drauf nehmen.
Ich sehe mich auf der Ebene um und suche nach einem Anhaltspunkt. Ob hier irgendwo ein wilder Kalender herumläuft?
Dann besinne ich mich. Ich kann ja einfach Clive rufen, oder nicht? Das ist vielleicht der einfachste Weg. Und da kann ich direkt zum ‚Verhindert, weil tot‘-Nachlass nachfragen.
„Ähm … Miss Fortune? Hallo? Bist du da?”
Ich warte auf ein ‚Puff‘. Dann drehe ich mich suchend um. Keine rosa Wolken in Sicht.
„Haaallooo? Missy?“
Na toll. Wo ist ein sehr wahrscheinlich dämonischer Trans-Kobold, wenn man ihn mal braucht?
In Ermangelung anderer Alternativen kehre ich dem Windmühlenturm den Rücken zu und spaziere in die Wiesen hinaus. Irgendwo muss ich ja irgendjemanden treffen, der mir sagen kann, welchen Monat wir haben.
Wobei … verflixt, ich weiß ja gar nicht, wann mir Clive Fortune den Countdown genannt hat. Das Datum zu kennen bringt mich also auch nicht weiter, außer, dass ich mich mit meiner Frage lächerlich mache.
Da hilft es wohl nur, so schnell wie möglich an den Gotteszorn zu kommen. Koste es, was es wolle!
Puff.
Ich wirbele herum. „Clive!“
„Miss Fortune!“, verbessert mich die Gestalt auf der rosa Wolke. „Und leise, verdammt. Was gibt es?“
Irritiert sehe ich Miss Fortune an. Sie trägt einen weißen Turban und eine weiße Toga. Nein, Moment … das sind Badetücher!
„Du hast mich beim Duschen gestört, ja“, kommentiert sie meinen irritierten Blick. „Was gibt’s?“
„Ähh … ich wollte fragen, wie viel Zeit ich noch habe.“
„Zeit? Einen Monat, hatte ich doch gesagt.“
„Ja, aber … wie viel von dem Monat ist bereits um?“
Miss Fortune starrt mich an. „Willst du mich verar…?“
„Ich kann das erklären!“, unterbreche ich sie schnell. Wir wollen ja keine Kraftausdrücke hier. „Ich wurde vom Blitz getroffen und gerade erst wiederbelebt. Ich habe aber keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist. Können wir den Monat vielleicht ab jetzt ansetzen? Ich meine – ist ja nicht meine Schuld. Glaube ich.“
Miss Fortune seufzt. „Ach so. Ich dachte schon, du wärst verrückt geworden. Wir haben nämlich gestern erst gesprochen.“
„Gestern?“, frage ich erleichtert. „Ein Glück.“
„Aber ich ziehe dir einen Tag ab, weil du genervt hast“, entscheidet Miss Fortune und verpufft.
„Wie bitte? Hey! Warte, komm zurück! Missy! Das ist echt unfair!“
Ich erhalte keine Antwort. Stattdessen kribbelt mein Rückenfell plötzlich, als das neue Halsband zarte Warn-Elektrostöße aussendet.
„Drängel nicht!“, brülle ich zum Turm rüber. „Ich bin noch gar nicht losgegangen!“
Sternenhagel aber auch! Wäre ich ein Gott, müsste ich jetzt nicht mehr weitersuchen.
Frustriert trotte ich los. Feuerfeste Augen und eine Portion Gotteszorn. Meine Einkaufsliste sah auch schon mal besser aus.
Als ich ein gemütliches, kleines Dörfchen vor mir erblicke, das sich in eine weiche Erdkuhle schmiegt wie ein trostsuchendes Kätzchen, verdränge ich die besorgten Gedanken und trotte näher. Das urige kleine Dorf wartet mit strohgedeckten Hütten, verwitterten Brunnen, malerischen, engen Straßen und hübschen, kleinen Äckern auf. Aus einem Pferch sieht mir ein zottiges Rind entgegen, das gemächlich wiederkäut.
Ich trabe zum Marktplatz und setze mich dort neben den großen Brunnen, bis ein Mann vorbeikommt, der einen Korb Rüben trägt. Als er einen Wolf in der Dorfmitte erblickt, bleibt er stocksteif stehen.
„Hallo!“, grüße ich freundlich. „Verzeiht, guter Mann, aber ich suche den Zorn der Götter.“
Der Mann setzt langsam die Rüben ab. „Da bist du hier richtig. Die Götter haben unser Dorf wahrlich verflucht.“
Ich sehe mich um. „Sonderlich verflucht kommt es mir hier nicht vor.“
„Warte nur ab bis zur Nacht. Dann reitet der Teufel durch unsere Straßen. Und jetzt sendet er seine Diener schon am Tage.“
„Welche Diener?“ Ich zögere. „Und welcher Teufel? Es gibt irgendwie so viele. Ist das so ähnlich wie bei dem christlichen Gott? Es ist nur einer, aber gleichzeitig drei? Der Teufel, der Satan und der böse Geist?“
„Bist du etwa kein Diener des Teufels?“, fragt mich der Mann. „Wieso sprichst du dann?“
„Ach, das … lange Geschichte.“
Der alte Mann nickt. Dann verdreht er die Augen und kippt um.
Ich eile an seine Seite und stupse ihn an. Er atmet noch, aber offenbar hat er genug gehört.
Na schön. Ein von zornigen Göttern gestraftes Dorf ist momentan vermutlich ein echter Glücksfall für mich.
Zögerlich lasse ich den bewusstlosen Mann liegen und suche, bis ich einen offenen Kellereingang finde. Hier rolle ich mich im Mehl zusammen. Man will ja keinen anderen, unbescholtenen Bürgern einen Schreck einjagen!
Ich erhole mich erst einmal von dem mühsamen Sterben und Leben der letzten Tage. Heute Abend werde ich mir mal den örtlichen Teufel ansehen und gucken, ob man sich den Zorn der Götter, der offenbar auf dieses Dorf gerichtet ist, nicht irgendwie einstecken kann.
Ich weiß natürlich schon, dass das alles nicht so recht klappen wird – aber man wird ja wohl noch hoffen dürfen.
Leider kommt alles anders als geplant. Ich träume noch friedlich von Schneefeldern und erfüllten Aufgaben, da reißt mich ein schrilles Kreischen aus meinem friedlichen Schlummer. Vor mir hat sich eine Menschenfrau aufgebaut, ein wahrer Besen. Einen nicht ganz so wahren Besen hält die füllige Dame in der Hand und schlägt damit nach mir.
„Hinfort! Husch! Ja, sind denn die gefräßigen Mäuse noch nicht genug? Nimm deine Flöhe, du Bestie, und verschwinde!“
Eine Bestie? Wie bitte?! Empört sehe ich die Fremde an. Was ein Fehler ist. Ehrlich, versucht euch niemals an empörtem Starren, wenn ihr in einer von einem Besen aufgewirbelten Mehlwolke steht! Ich blinzele mit tränenden Augen und verschiebe die Belehrung der aufgebrachten Menschenfrau auf jenes ‚Später‘, zu dem auch sämtliche Diäten begonnen werden. Die unangenehme Aufgabe in sichere Prokrastination verschoben trete ich die Flucht an und wusele halbblind durch die inzwischen etwas geschäftigeren Straßen des Dörfchen. Es ist Abend, viele Menschen kommen von ihrem Tagewerk heim. Einige eifrige Händler versuchen, letzte Waren loszuwerden, viele packen aber bereits auch ein. Kinder werden ins Haus gerufen, die Mütter sehen besorgt zur Dämmerung hinauf. Irgendwie liegt eine Aura von Panik in der Luft, obwohl die Menschen dafür noch ruhig scheinen. Gibt es so etwas wie alltägliche Panik? Wenn nicht, dann müsste sie extra für diesen Ort erfunden werden!
Die Heimeilenden beachten mich weniger und weniger, sodass ich mich schließlich wieder beim Dorfbrunnen einfinde. Erst einmal wasche ich das juckende Mehl aus meinem Fell. Dann setze ich mich in den letzten Sonnenstrahlen auf die Brunnenmauer, gähne und bereue das etwas zu frühe Ende meines kräftesammelnden Mittagsschläfchens.
Hoffentlich macht der Gottesfluch hier nicht ebensolche Probleme!