Die Nacht verbringe ich noch in Sichtweite der Mühle. Ich habe es nur geschafft, mich so weit zu schleppen, dass das Quietschen des Mühlrads im sanften Rauschen des Flusses untergeht.
Hier schlummere ich die Nacht durch bis zum Morgen und erwache so erschöpft und verkatert, dass ich am liebsten liegen bleiben würde. Träge blinzelnd öffne ich die Augen und strecke mich zum nun dritten Mal.
Meine Muskeln jammern noch immer über die Belastung. Der Tag gestern war wirklich anstrengend.
Schließlich rappele ich mich aber doch auf. Der kleine Gott, den ich suche, ist nicht weit entfernt. Wenn ich seinen Zorn habe, dann kann ich Miss Fortune rufen und habe hoffentlich noch ein paar Tage über, bevor es mit der nächsten Aufgabe losgeht!
Also gehe ich in die Richtung, die der Mühlenmeister mir gewiesen hat. Je mehr ich mich bewege, desto stärker verblasst der Schmerz, bis der Muskelkater sich rausgelaufen hat. Dann folge ich einem Trampelpfad durch die Wiesen, der auf einen kleinen Hain zuführt.
Oh nein. Hoffentlich ist das nicht wieder dieser Schlafmeditationsgott! Doch die Bäume hier sind nicht beleuchtet und wirken eher alt und knorrig. Im Wind wiegen sich Kiefern und einige Laubbäume, ihre Stämme ächzen und wimmern.
Ich sehe den Hof schon von weitem, der nur ein wenig von Bäumen umgeben ist. Vermutlich wurden die der Privatsphäre wegen gepflanzt. Zwischen den Stämmen kann ich jedoch bereits ein altes, etwas dunkel geratenes Bauernhaus sehen. Die Wände, einst vermutlich in hellem Holz gehalten, sind von Regen und Alter grau geworden. Die Dachschindeln sind unter Moos begraben. Sogar die Erde wirkt düster.
Als ich mich dem Hof nähere, bellt ein Hund. Ich muss sehr an mich reißen, nicht zurückzubellen. Doch ich kann mich beherrschen.
Dann höre ich, wie eine Tür geöffnet wird.
„Bei Fuß!“
Der Hund verstummt. Dafür tritt eine Gestalt auf den Hof und sieht zum Eingang.
Hm, so besonders klein sieht der Gott gar nicht aus! Eher wie ein normaler Mensch. Er ist etwas hager, trägt ein zu großes Hemd, das unter den Hosenträgern flattert, und Gummistiefel, die bis knapp unter den Saum der knielangen Hose reichen. Dieser Mann schultert nun eine Mistgabel – offenbar kam er aus dem Stall, der nach Ziegen riecht, nicht aus dem Haus – und mustert mich.
„Ein Streuner?“
„Bist du ein Gott?“, frage ich. „Mir wurde gesagt, dass ich hier einen kleinen Gott finde.“
„Einen kleinen Gott, wie? Nun, an den Formulierungen musst du noch arbeiten, doch es ist ein guter Anfang. Und um deine Frage zu beantworten: Ja, ich bin wirklich einer der niederen Götter.“ Er lächelt nicht. Stattdessen guckt er finster unter dem Strohhut hervor, unter dem einige fettige Strähnen hervorhängen. Sein Mund ist so verzogen, dass die Mundwinkel am Kinn kantig hervorstehen.
Ich wage mich langsam weiter vor. Endlich, endlich habe ich einen schwächeren Gott gefunden!
„Und über was herrscht du so? Bist du der Gott der Lektoren?“
„Soll mich das beleidigen? Lektoren sind achtbares Volk.“
„Nun, weil du sofort begonnen hast, meine Aussagen zu korrigieren. Dann der Gott der Korrektoren?“
„Pff.“ Das ist alles. Der Kerl dreht sich um und will zurück in den von leisem Gemecker erfüllten Ziegenstall gehen.
Ich trotte hinterher. Aus dem Augenwinkel sehe ich eine Hundehütte an der Seite, erstaunlich groß und geräumig, aus dem mir drohend entgegengeknurrt wird. Aber offenbar bleibt es bei der Warnung.
„Wenn du kein Lektorengott bist, was kannst du dann? Blitze ja wohl nicht, oder?“ Ich verkneife mir im letzten Moment ein ‚Hoffentlich?‘
„Keine Blitze.“
„Bloß keine zu ausführlichen Antworten!“
Der Gott wirft mir einen Seitenblick zu. Schmunzelt der etwa? „Braver Hund. Rate weiter.“
„Raten? Wenn ich raten muss, was du für ein Gott bist, kannst du ja nicht besonders wichtig sein.“ Dass er keine Blitze schleudern wird, hat mir etwas Selbstvertrauen eingeflößt. Und ich muss ihn ja wütend machen. Erklären kann ich das alles immer noch hinterher. Also spreche ich weiter. „Vermutlich bist du der Gott der nicht-selbstklebenden Briefmarken! Oder gleich der Gott des Vergessen-werdens. Vielleicht bist du auch der Gott des Zusammenhangs von Bleistift und Kassette, total überholt und aus der Zeit gefallen!“
Der Gott hat die Mistgabel in einen Heuhaufen neben der Stalltür gesteckt, die Daumen hinter die Hosenträger geklemmt und nickt mir aufmunternd zu. „Nur weiter.“
Ich sehe ihn verwundert an. Nur weiter? „Bist du vielleicht … der Gott, der seinen eigenen Namen vergessen hat? Der Gott des albernen Rätselratens?“ Nun bin ich ja doch ehrlich neugierig. So neugierig, dass ich die Beleidigungen etwas vergesse.
„Hm, das war nicht mehr so kreativ“, murmelt der Gott. „Dabei warst du gut dabei!“
„Der Gott des pädagogisch wertvollen Zuspruchs?!“
„Was soll das denn für ein Gott sein? Hast du noch nie mit Göttern zu tun gehabt?“
„Oh doch! Mehr, als mir lieb ist. Und ich kann dir sagen, jeder von denen war wichtiger als du!“
„Aha!“ Er lacht. Einfach so. Ich gucke ihn empört an.
„Was gibt es da zu lachen? Du bist für mich nur ein weiterer Punkt auf meiner To-Do-Liste! Und Punkte lachen nicht, wenn sie abgehakt werden sollen!“
Er lacht nur lauter.
„Du bist wohl der Gott der unvernünftigen Lebensentscheidungen! Ich habe eine Menge hinter mir und werde nicht zulassen, dass du mir auf den letzten Schritten meinen Plan versaust! Dafür bist du weder wichtig noch groß noch gruselig genug!“ Ich plustere mich zu meiner ganzen Größe auf – was, selbst für einen Wolf, nicht sehr groß ist. „Du lachst wie ein ertrinkendes Huhn und du sieht aus, als wärst du aus einem pessimistischen Gemälde geklettert! Ich finde, nichts davon ist ein Grund für Heiterkeit!“
Der hagere Kerl hält sich inzwischen den Bauch vor Lachen. Es ist kein großer Bauch, eher so ein kleines Oval vorne, das an ein verlorenes Eigelb erinnert. Eine Eierwampe.
„Was ist so lustig?“, frage ich verzweifelt.
„Oh, ich lache nicht über dich. Aber du bist sehr talentiert.“ Der Gott lächelt und wischt sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. „Ich kann meine Macht leider nicht selbst ausüben, deshalb bin ich auf Sterbliche angewiesen, die das für mich machen.“
„Deine … Macht?“ Ich sehe mich um. Was habe ich denn besonders Göttliches getan?
Der Gott geht in die Hocke und tätschelt meinen Kopf. „Verzeih die Verwirrung, mein pelziger Freund. Du hast mir wirklich sehr geholfen. Ich bin nämlich der Gott der kreativen Beleidigungen.“
Ich spüre, wie mein Herz sinkt. Das darf doch nicht wahr sein! Wie soll ich jemanden wütend machen, der Beleidigungen liebt?!