Ein paar Tage später saß Ricky schon wieder im Rush-Inn. Zwar war Alex noch immer sauer auf ihn und das böse Funkeln in den blaugrünen Augen seines alten Kumpels hatte Ricky sich vermutlich verdient. Das Grinsen konnte er dennoch nicht zurückhalten.
„Heute alleine hier?“, fragte Alex schließlich nach gut einer halben Stunde, in der er augenscheinlich versucht hatte, Ricky zu ignorieren.
„Musst du da fragen? Immerhin hat dein Kuss meinen Verehrer in die Schranken verwiesen.“ Grummelnd schüttelte Alex den Kopf, aber was genau er sagte, war nicht zu verstehen. „Keine Angst, ich werde dich sicherlich nicht noch einmal in diese Verlegenheit bringen“, versuchte Ricky ihn deshalb weiterhin schmunzelnd zu beruhigen. „So gut war es eh nicht.“
„Wie bitte?!“
Ricky lachte laut: „Na, ich hoffe sehr für Isa, dass du dich bei ihr mehr ins Zeug legst.“
„Ruiniere mir bloß nicht meinen Ruf, Kleiner“, maulte Alex beleidigt zurück.
Nach gut zwanzig Jahren, die sie sich kannten, war es viel zu einfach für Ricky diesen Mann zu ärgern – und genau deshalb auch deutlich zu verlockend, eben das zu tun. „Wieso? Vielleicht machen dich dann weniger Kerle hier an.“
„Such du dir lieber endlich jemand auf Dauer, Rick. Noch einmal tue ich dir diesen Gefallen garantiert nicht.“
Er nickte und ließ sich das Glas von Alex erneut auffüllen, bevor er sich dem Gastraum zuwandte. Langsam wanderte Rickys Blick über die Anwesenden. Es war unter der Woche und die meisten der Gäste schienen tatsächlich allein hergekommen zu sein. Zumindest wirkten die wenigsten auf ihn, als seien sie schon ewig zusammen.
Da streifte sein Blick ein weiteres Paar. Der eine sicherlich nicht ganz frisch in seinen dreißigern, der andere sah eher aus wie Anfang zwanzig. Trotzdem wirkten sie vertraut und gut gelaunt. Etwas irritiert nippte Ricky am Glas. Als er versuchte, die nächsten Gesichter zu erkunden, zuckten seine Augen jedoch erneut zu dem so ungleichen und dennoch zufrieden erscheinenden Paar.
Er selbst hatte bisher sehr viel Wert darauf gelegt, sich immer jemanden zu suchen, der wenigstens ungefähr in seinem Alter war. Dass er damit wenig erfolgreich gewesen war, zeigte die Tatsache, dass er hier alleine saß. Die Verabredung mit Tim gestern hatte Ricky bestätigt, dass er mit deutlich Jüngeren auch nicht klarkommen würde. Bliebe die Wahl, es mal mit einem Älteren zu versuchen. Nicht gleich vierzig oder fünfzig. Aber vielleicht einfach diese sieben Jahre, die ihn von Tim getrennt hatten – nur in die andere Richtung. Das würde heißen, einer der etwa zweiunddreißig war.
Ein weiteres Mal wanderten Rickys Augen durch den Raum, diesmal auf der Suche nach jemandem, der in diese Altersklasse fallen würde. Es gab mehrere, die um die dreißig sein dürften. Ganz sicher war Ricky sich bei dem einen oder anderen nicht. Ach verdammt, so funktionierte das überhaupt nicht.
„Hallo“, sprach ihn mit einem Mal in diesem Augenblick jemand von der Seite an.
Etwas überrascht wich Ricky instinktiv ein Stück zurück und drehte sich dann nach links. Guter Körperbau, kein Bauch, der schon über der eng sitzenden Jeans hervorstand und ein durchaus attraktives Gesicht. Außerdem vermutlich um die dreißig. Wollte er den Alterskreis nicht eben mal etwas näher kennenlernen?
„Selber hallo“, gab Ricky lächelnd zurück.
„Kann ich dir einen Drink ausgeben?“
Ein weiteres Mal zögerte Ricky, aber letztendlich hatte er sich doch vorgenommen, in Zukunft genauer hinzusehen. Dafür musste man ja allerdings erst einmal überhaupt ins Gespräch kommen. Also stimmte er zu.
Tatsächlich stellte sich der Kerl namens Anton als gar nicht so unsympathisch heraus. Die Unterhaltung mit ihm verlief gut und schnell ertappte Ricky sich dabei, dass ihm der vermutete Altersunterschied gar nicht so auffiel. Was waren schon ein paar Jahre? Sie waren schließlich beide keine Kinder mehr – das war alles, was zählte.
„Und, was machst du so, wenn du nicht hier abhängst?“, fragte Anton mit einem Mal.
Ricky zuckte zusammen und nippte verlegen an seinem Glas. Es war ja nicht so, dass er sich für seinen Beruf schämte. Er mochte den Job, war gut darin und hatte immerhin einen Meisterbrief vorzuweisen. Trotzdem war Ricky nicht sicher, ob er ausgerechnet diese Frage gleich am Anfang beantworten – oder gar stellen – wollte.
„Ich ... arbeite im Laden meiner Tante“, meinte Rick ausweichend.
„Ah. Und als was?“, hakte Anton mit einem Lächeln nach. Trotzdem krampfte sich etwas in ihm zusammen.
„Schneider“, antwortete er schließlich und sah zu seinem Gesprächspartner hinüber.
Das kurze Auflachen Antons gefiel ihm nicht. Noch weniger mochte Ricky, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. „Hätte ich jetzt nicht getippt.“
„Ach ja?“, knurrte er um Beherrschung bemüht zurück. So viel dazu, dass das funktionieren könnte.
„Hey, entschuldige. Ich meine das nicht böse. Aber ... na ja, ich hätte dich eher für jemanden gehalten, der im Büro arbeitet. Banker oder so etwas.“
Verwirrt runzelte Ricky die Stirn. „Wieso das?“
Anton zuckte mit den Schultern. „Das schicke Hemd, auch noch gebügelt. Sieht man hier nicht so häufig.“
Wie automatisch strich Ricky an der Knopfleiste entlang über seinen Bauch. „Was ... machst du denn so?“, murmelte er schließlich, nicht sicher, ob er die Antwort wissen wollte.
„Ich bin Ingenieur. Das Büro, in dem ich arbeite, macht Baustatiken für Großprojekte.“ Der Knoten in Rickys Magen zog sich enger. „Hey, dein Glas ist ja leer. Magst du noch einen?“
Zögerlich schüttelte Ricky den Kopf. „Nein, danke.“
Verwundert runzelte Anton die Stirn. „Was ist los?“
„Nichts. Ich ... sollte jetzt gehen.“ Mit einem verhaltenen Seufzen stellte er das leere Glas auf den Tresen und winkte die Aushilfe heran, um das erste Bier des Abends zu bezahlen. Das Zweite hatte ja Anton ausgegeben und zu weiteren, würden sie es nicht mehr bringen.
„Warte doch mal, Rick!“
Wieder schüttelte er den Kopf. „Das mit uns wird nicht funktionieren, tut mir leid.“
Verwundert zog Anton die Augenbrauen zusammen. „Warum das denn?“
Ricky seufzte und rieb sich über die Stirn. Verdammt, noch mal. Dieser Mann machte einen durchaus netten Eindruck. Aber das hatten die anderen vor ihm auch. Und trotzdem war es immer gescheitert. Sein Entschluss stand fest, egal wie unfair das womöglich diesem Anton gegenüber war.
„Hör zu“, setzte er an. „Du bist ein netter Kerl und vermutlich könnten wir hier einen schönen Abend haben. Mit ziemlicher Sicherheit würde ich heute nicht mit dir mitgehen. Vielleicht würde es dir gelingen, mich davon zu überzeugen, dich noch einmal zu treffen. Langfristig kann das allerdings nicht funktionieren. Und um ganz ehrlich zu sein ... ich hab heute keine Lust auf ein weiteres belangloses Intermezzo.“
Mit jedem Wort waren Antons Augen größer geworden. Ricky grinste etwas schief, zuckte mit den Schultern, zog einen Schein aus der Tasche und reichte ihn der Aushilfe.
Dann drehte er sich ein weiteres Mal zu Anton um und schlug ihm lächelnd gegen den Oberarm. „Danke für das Bier. Der Abend ist noch jung. Viel Erfolg.“
Damit wandte Ricky sich um und war kurz darauf bereits aus der kleinen Kneipe verschwunden. Erst als er die frische Nachtluft einatmete, fing er an, sich wieder besser zu fühlen. Schade. Anton hatte in der Tat einen netten Eindruck gemacht, aber Rickys Entschluss stand fest. Er wollte nichts mehr mit irgendwelchen Akademikern anfangen. Das hatte bisher immer schlecht geendet.
Und dabei hatten sie alle ihm geschworen, dass es überhaupt keinen Unterschied machte, dass er nicht studiert – oder wenigstens Abitur vorzuweisen hatte. Am Ende war es dann aber doch nicht egal gewesen. Und zwar in der Regel an dem Punkt, wenn er den ersten Kumpel von diesen Männern, oder gar ihre Familie traf. Wobei Letzteres bisher nur einmal vorgekommen war. Trotzdem war es ihnen spätestens dann irgendwann immer unangenehm gewesen, dass er eben ‚nur‘ ein Schneider war.
Dann waren all die ehernen Versprechen vergessen und er plötzlich bei Nachfragen der Freunde kein einfacher Angestellter mehr im Laden seiner Tante, sondern vielmehr dessen Besitzer. Denn ein Ladenbesitzer war selbst ohne Studium offenbar deutlich weniger peinlich, als ein dummer, kleiner Schneidermeister. Schnaubend stapfte Ricky los. Er hasst dieses Gefühl, dass er nicht ‚gut genug‘ war. Irgendwie unzulänglich, unpassend. Als wäre er eine dreckige kleine Sexfantasie, der man nachjagte, über die man aber ganz sicher nicht mit jemandem reden wollte, wenn man sie denn endlich ausgelebt hatte.
Der Gedanke zog unangenehm an Rickys Eingeweiden. War ja nicht so, als ob er jetzt ein wahnsinniges Problem damit hätte, wenn er jemandes Sexfantasie wäre. Bei der Vorstellung schob sich ein kurzes Grinsen über seine Lippen. Aber er wollte zumindest eine sein, die man nicht nur in dunklen Kellern und exklusiven Klubs auslebte. Dummerweise sah es allerdings so aus, als ob es für ihn immer auf genau dieses beschissene Szenario hinauslief.
Man traf sich, redete, verstand sich und sie spielten das Spiel mit. Sie mochten seine manchmal etwas vorlaute Art, weil es sie anmachte. Der Sex war gut, man kam miteinander aus und lebte ein paar Monate nebeneinander her. Dann kamen die ersten Freunde und plötzlich wurde ihnen klar, dass da nichts war, was man öffentlich an ihm herausstellen konnte. Über Sex sprach man nicht mit jedem Freund. Da war nur Ricky, sein freches Großmaul und ein paar Brautkleider, die diese Herren üblicherweise nicht interessierten. Wütend kickte er einen Stein auf dem Gehweg entlang.
Wieso konnte er nicht irgendeinen bodenständigen, einfachen Kerl kennenlernen, der ihn so nahm, wie er war? Konnte doch nun echt nicht so schwer sein. Gedankenverloren strich Ricky erneut über die Knopfleiste am Hemd. Es war kein Designerstück, nichts Teures oder Ausgefallenes. Um genau zu sein, war es nicht einmal gekauft, sondern selbst angefertigt. Wirkte er damit tatsächlich wie ein Bänker? Lag es daran? Hielten ihn andere für genau das, was er nicht suchte? Vielleicht sollte er anfangen, sich einen neuen Klamottenstil zuzulegen. Womöglich fand er dann endlich den Richtigen.
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Der nächste Morgen kam viel zu schnell und wie so oft in den letzten Wochen und Monaten war Ricky schon beim Aufstehen genervt. Nicht, weil er sich überhaupt aus dem Bett quälen musste, sondern vor allem, da er die vorherige Nacht allein dort verbracht hatte.
Die Abstinenz fing an zu nerven. Während er auf ‚Mr. Right‘ wartete, sollte er definitiv irgendwann demnächst in Betracht ziehen, mal wieder in einen Klub im Westviertel zu gehen. Einen von denen, wo die Leute weniger auf der Suche nach dem Partner fürs Leben, als vielmehr für die Nacht – oder auch nur die kommende Stunde – waren. Für die reichte auch Mister Wrong.
Wieder einmal wankte Rickys Entschluss, sich endlich auf die Suche nach einer dauerhaften Partnerschaft zu gehen. Die Nächte in den Klubs hatte er eigentlich vor einer ganzen Weile aufgegeben. Zu dem Zeitpunkt, als er entschieden hatte, dass seine Experimentierphase, genauso wie der unverfängliche Sex mit ständig wechselnden Männern, beendet war.
Dummerweise war Ricky von dort direkt ins Gegenteil verfallen. Irgendwie schien er seitdem eine Tendenz zu haben, sich in den erstbesten Kerl zu vergucken, der ihm hübsche Augen machte. Nicht, dass die ihn jemals sonderlich bei einem Mann interessiert hatten. Da gab es deutlich entscheidendere körperliche Merkmale. Aber gestern Abend war ihm – mal wieder – bewusst geworden, dass alle seine verflossenen Partner ihn angesprochen hatten. Fairerweise musste Ricky eingestehen, dass jedes Mal, wenn er selbst die Initiative ergriffen hatte, der Kerl sich als der absolute Totalfehlgriff entpuppt hatte. Kein einziger war überhaupt nur ansatzweise Beziehungsmaterial gewesen.
Seufzend trocknete Ricky sich nach der morgendlichen Dusche die Haare ab und starrte leidend auf die seit gestern kaputte Kaffeemaschine. Anstatt den Abend im Rush-Inn abzuhängen und sich von dem Ingenieur bequatschen zu lassen, hätte er die Zeit besser genutzt um Ersatz zu besorgen.
Spontan würde sich an der Koffeinlosigkeit aber nichts ändern. Blieb nur der Gang zur Bäckerei, denn seine Tante hatte aus Prinzip keine Kaffeemaschine in ihrem Laden.
„Verdammt“, murmelte Ricky.
Seit ihrer Verabredung vermied er eigentlich, dem jungen Bäckerlehrling über den Weg zu laufen, um dem die Chance auf Abstand zu geben und mit der Situation klarzukommen. Allerdings fühlte Ricky sich heute reichlich erschlagen und das würde nur eine anständige Tasse Kaffee ändern können.
„Also gut.“
Rasch zog er sich an und hastete dann die Treppen hinunter zur Straße. Tims Eltern öffneten die Bäckerei zum Glück schon sehr früh am Morgen und kochten noch dazu einen ausgezeichneten Kaffee. Der Junge selbst war nicht da, aber seine Mutter versorgte Rick glücklicherweise mit allem, was bauchte, um einigermaßen vernünftig in den Tag starten zu können. Mit einer dampfenden Tasse und einem belegten Sandwich zum Frühstück bewaffnet, spazierte Ricky wenige Minuten später in den Laden seiner Tante.
Die war natürlich noch nicht da. Grinsend schloss er die Tür auf und machte es sich im Verkaufsbereich bequem. Da er in der nächsten Stunde mit keiner Kundschaft rechnete, hätte er auch gut hoch in die Wohnung gehen können. Aber Ricky wollte noch einmal die Termine für den heutigen Tag prüfen. Erstaunt stellte er fest, dass es für den Rest der Woche ziemlich mager aussah. Dabei ging es zielstrebig auf die Hochzeitssaison zu.
„Nur ein Termin heute“, murmelte Ricky gedankenverloren, während er am Kaffee nippte. „Auch noch ziemlich früh am Morgen.“
Eine Neukundin, aber offenbar auf Empfehlung gekommen, wenn er die kryptischen Zeichen seiner Tante neben dem Namen korrekt deutete. Ein Lächeln huschte über Rickys Lippen. Es würde jedenfalls ein interessanter Vormittag werden. Bei ihrem ersten Besuch waren die Damen alle völlig überdreht. Gefangen in diesem Rausch der Erwartungen. Jede einzelne, wollte die schönste Braut der Welt sein, obwohl das bei keinen zwei Frauen das Gleiche zu bedeuten schien. Es waren stets andere Vorstellungen, Vorlieben, neue Herausforderungen.
Kein Auftrag war wie der vorherige und genau das reizte Ricky immer wieder aufs Neue. Um ehrlich zu sein, war das der einzige Grund, warum er weiterhin hier arbeitete und nicht längst angefangen hatte, sein eigenes Geschäft zu planen. Die Herrenanzüge, die er früher hatte schneidern wollen, erschienen ihm in Anbetracht der Vielfalt, die ihm diese Arbeit ermöglichte, langweilig und stupide.
„Guten Morgen, Richard.“
Erschrocken zuckte er zusammen und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht, als er aufblickte. „Dir auch, Annabell“, gab er dann betont höflich zurück.
„Wieder einmal der Erste“, bemerkte sie mit einem glucksenden Lachen.
„Ich war schon wach.“
„Ach Richard“, seufzte sie theatralischer als seine Tante oder Mutter es je geschafft hatten. Es klang so übertrieben, dass er trotz der Verwendung des ungeliebten Vornamens lächeln musste. „Allmählich solltest du dir jemanden suchen und sesshaft werden.“ Ricky verzog das Gesicht, hütete sich aber, zu antworten. „Ich weiß ja, ihr Männer denkt meistens, ihr könnt ewig spielen. Und dann stellt ihr eines Tages fest, dass ihr das Spiel eigentlich gar nicht mehr leiden könnt.“
Die Worte trafen Ricky so heftig, dass er kurzzeitig zusammenzuckte. Obwohl er genau wusste, dass sie sich nichts dabei dachte und nur wie immer herausprustete, was ihr in den Sinn kam. Und fairerweise ging das in die gleiche Richtung, die er auch von seiner Tante und seiner Mutter regelmäßig zu hören bekam. Um genau zu sein, war Ricky sich sogar sicher, dass keine der drei Frauen es böse meinte, weshalb er auch weder auf Annabell noch auf seine Mutter oder Helena wirklich sauer sein konnte deswegen. Sie wollten alle nur, dass er jemanden fand, mit dem er glücklich sein konnte. Dummerweise schien das nicht so einfach zu sein, wie sie annahmen.
Er schluckte, rang sich ein Lächeln ab und nickte: „Ja, ich weiß.“
Das Alleinsein war das Schwerste zwischen Beziehungen. Denn auch wenn seine Arbeitswut und die zunehmenden Ansprüche, die er an einen Partner zu stellen schien, etwas anderes sagten, war genau das seine größte Angst. Ricky wollte sich nicht auf ewig einsam fühlen. Er hasste es, ohne Partner ins Bett gehen zu müssen und noch viel mehr, alleine aufzustehen.
Allerdings konnte er das Gefühl, wenn er sich minderwertig und klein fühlte deutlich weniger leiden. Und genau so hatte er sich am Ende jeder verdammten Beziehung in den letzten fünf Jahren gefühlt. Er war ihnen peinlich gewesen, weil er immer nur optisch in ihre Welt zu passen schien. Da war er sich sicher. Ein dummer kleiner Schneider konnte eben offenbar nicht mit dem Juristen, Architekten oder dem Germanisten mithalten. Bei dem Ingenieur gestern wäre es am Ende garantiert genauso gekommen. Die Entscheidung Anton abzusagen war ganz bestimmt richtig gewesen.
„Muss doch noch mehr als studierte Lackaffen und quasi jungfräuliche Bäckerlehrlinge geben“, murmelte er vor sich hin, während er Annabell dabei beobachtete, wie sie die Stoffmuster für den Termin am Vormittag vorbereitete.
„Guten Morgen!“, flötete es plötzlich vom Eingang her zu ihm hinüber und lächelnd sah Ricky auf.
„Dir auch, Tante Helena.“
„Ah, sehr gut. Ihr seid beide da. Wie lange noch bis zum Termin, Rick?“, ging diese sofort in den Geschäftsmodus über. So gesellig sie sonst mit ihm und Annabell umging, wenn Kundschaft anstand, war ihr einziges Ziel, das perfekte Kleid für eine zukünftige Braut zu finden.
„Etwa eine halbe Stunde“, antwortete er schnell. „Du hast es als ‚Uhlmann Hochzeit‘ vermerkt. Also ist das der Name ihres Mannes?“
Helena runzelte die Stirn. „Nein. Sie hat nicht persönlich angerufen, sondern eine andere Kundin, die uns empfohlen hatte.“
„Also wissen wir nicht mal, wie sie heißt?“, fragte Ricky ungläubig nach. Normalerweise war seine Tante nicht derartig nachlässig.
Die lächelte jedoch nur und winkte ab. „Ach, das macht doch nichts. Hier ist etwas Geld, husch rasch noch mal zum Bäcker rüber und hol ein paar Kleinigkeiten für uns und die Kundschaft.“
Ricky schüttelte den Kopf und seufzte. „Du solltest dir lieber endlich eine anständige Kaffeemaschine zulegen. Für uns und die Kundschaft“, gab er patzig zurück. Trotzdem nahm Ricky das Geld und machte sich auf den Weg zum Bäcker.
„Ich koche seit dreißig Jahren mit meiner Mokkakanne hier Kaffee und es hat sich noch nie jemand beschwert!“, tönte Helenas amüsiert glucksende Stimme ihm hinterher.
„Weil denen allen beim ersten Schluck die Geschmacksnerven durchgebrannt sind!“, rief er ebenso lachend zurück, als er aus dem Laden trat.
Kopfschüttelnd, aber erstaunlich gut gelaunt stapfte Ricky hinüber zur Bäckerei, um der Anweisung seiner Tante folgend ein paar Gebäckstücke bei Tim zu kaufen. Dort führte man glücklicherweise das ganze Jahr über einen ausgesprochen leckeren Vorrat an Keksen und kleineren Kuchenteilchen, an denen er selbst sich ebenfalls nur zu gern sattgegessen hätte. Seufzend stand er vor der Auslage und überlegte, welcher der köstlichen Qualen er sich in den nächsten Stunden aussetzen wollte.
Schließlich entschied er sich für einige Plätzchen. Die waren vergleichsweise unverfänglich und falls er doch schwach werden würde, saßen die ihm nicht sofort auf den Hüften. Erst als er bezahlte, fiel Ricky auf, dass Tim noch immer nicht hinter dem Verkaufstisch stand. Irritiert sah er sich um, aber der junge Mann war nirgendwo zu sehen.
Sofort kam das schlechte Gewissen in ihm hoch. Er hatte zwar offenbar sein Ziel erreicht, dass Tim ihm zumindest vorerst nicht mehr hinterherrennen würde, aber irgendwie tat es ihm auch leid. Er hatte Tim gemieden, um ihm etwas Raum zu geben, mit der neuen Situation klarzukommen – und nicht zuletzt, damit der nicht dachte, er würde ihm gleich den nächstbesten Kerl auf den Hals hetzen. Ihn auf einmal so gar nicht zu sehen, war auch irgendwie merkwürdig. Wenn er genauer drüber nachdachte, war Tim in den letzten zwei Jahren eben doch auf eine ganz eigene Weise ein Teil seines Lebens geworden. Und obwohl er in gewissem Sinne froh war, dass diese Sache zwischen ihnen geklärt war, fühlte Ricky sich mies.
„Wo ist eigentlich Tim?“, fragte er deshalb vorsichtig bei dessen Mutter nach.
Die lächelte ihn freundlich an und deutete dann auf die Tüte voller Plätzchen in Rickys Arm. „Er übt sich hinten mit den Kleinteilen. Meinte, dass er die bisher nie so perfekt hinbekommen hat wie sein Vater.“
„Sind die von ihm?“
Sie nickte. „Ja, ich finde, sie sind ausgesprochen lecker geworden. Aber Sie kennen ihn ja. Er ist nie mit sich zufrieden.“
Vielleicht sollte er Tim irgendwie klarmachen, dass sie sich nicht gleich völlig entfremden mussten, nur weil das zwischen ihnen nicht funktionierte. Die letzten zwei Jahren hatten sie doch auch als Bekannte, fast so etwas wie Freunde, wenigstens als Nachbarn leben können.
Lächelnd deutete Ricky auf den Durchgang zur Backstube: „Sagen Sie ihm einen schönen Gruß von mir, bitte.“
Das Lächeln auf ihren Lippen wurde breiter und sie nickte eifrig. Als Ricky das bemerkte, eilte er hastig nach draußen. Der Einkauf in der Bäckerei war ohne den Jungen und sein Dauergrinsen irgendwie anders – merkwürdig. Aber vielleicht wäre es besser, noch etwas weiter Abstand zu halten, damit Tim sich erst einmal daran gewöhnen konnte.
Seufzend trat er aus dem Laden und überquerte die Straße. Er wollte eben in das Geschäft seiner Tante treten, als ein schicker und nicht gerade kleiner Mercedes neben ihm hielt. Wie automatisch wanderten Rickys Augen über die Kurven des Wagens. Ja, es war dekadent, aber er hatte ein Faible für diese Art von Autos und den konnte er just in diesem Augenblick so gar nicht verstecken.
Eine Frau stieg aus, von einem Ohr zum anderen grinsend und starrte mit glänzenden Augen auf den Laden seiner Tante. Das musste die Kundschaft sein, die sie erwarteten. Zu früh, aber das kam ja nicht selten vor. Wobei ein Termin um diese morgendliche Uhrzeit ja ohnehin schon ungewöhnlich war.
„Jetzt komm endlich!“, rief die Frau zurück in Richtung Wagen, während sie bereits auf Ricky zustürmte. „Darf ich?“, säuselte sie verträumt, als sie direkt vor ihm stand.
Hastig öffnete er die Tür und trat beiseite. „Natürlich. Herzlich willkommen!“, beeilte er sich zu versichern und hielt ihr die Tür auf.
Ein genervtes Stöhnen aus Richtung des Wagens ließ ihn dann jedoch wieder nach draußen schauen. Der Begleiter der Dame schien deutlich weniger begeistert zu sein, als er sich auf der Fahrerseite nun ebenfalls aus dem Auto quälte. Und anders konnte man das wirklich nicht bezeichnen.
Ricky hatte ja schon viele wenig enthusiastische zukünftige Ehemänner gesehen, aber der Kerl schoss echt den Vogel ab. Über die Fahrertür gelehnt schob er sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase und lies kurz den Kopf hängen, bevor er endlich die Tür schloss und eher widerwillig um das Auto herum schlurfte. Warum kamen diese Typen eigentlich mit, wenn es sie so überhaupt nicht interessierte, was ihre Zukünftige für ein Kleid aussuchte? Da waren ihm die besten Freundinnen definitiv lieber. Die hatten wenigstens später, wenn es um Entscheidungen ging auch eine Meinung. Solche Kerle pflegten doch eh nur alles ‚gut‘ und ‚toll‘ und ‚steht dir wunderbar‘ zu finden. Hauptsache, sie kamen möglichst schnell wieder aus dem Laden raus.
Beinahe automatisch zuckte Rickys abschätzender Blick über den Mann, als er auf das Geschäft und damit auch auf ihn zutrat. Braune Haare, nicht ganz einen halben Kopf größer als er selbst und einen nicht zu verachtenden Körperbau – der unter dem eng anliegenden Poloshirt viel zu gut zu erkennen war. Als der Mann endlich die Sonnenbrille abnahm und ihn anlächelte, wäre Ricky beinahe das eine oder andere entgleist.
Scheiße, der Kerl gehörte auf das Cover diverser Zeitschriften, aber ganz sicher nicht in seinen Laden – wo er für viel zu viel Ablenkung sorgen würde. Ein weiterer Grund, warum er die Begleitung der ‚besten Freundin‘ deutlich angenehmer fand. Es grenzte an seelische Grausamkeit vor Augen gehalten zu bekommen, was effektiv niemals für ihn zur Verfügung stehen würde.
„Hallo“, meinte der Mann kurz angebunden und ließ ebenfalls einen abschätzigen Blick an ihn herabwandern. Den Schauer, der dabei über Rickys Rücken lief, konnte – und wollte – der nicht verhindern. Zu dumm, dass solche verboten gut aussehenden Kerle viel zu oft schon vergeben waren – und in diesem Fall auch noch an eine Frau.
„Willkommen“, beeilte er sich mit einem freundlichen Lächeln zu versichern und ignorierte das Kribbeln, das sich in seinem ganzen Körper ausbreite.
Der bisher eher verkniffene Gesichtsausdruck des Kunden entspannte sich schlagartig und das kurz darauf folgende Lächeln erinnerte Ricky erneut daran, welche seelische Folter ihm in den nächsten Stunden bevorstand. Kaum war der Mann endlich eingetreten, schloss er die Tür und atmete kurz tief durch.
Er brauchte ganz dringend Sex. Völlig egal, ob der Kerl am nächsten Morgen weg war oder nicht. Diese Durststrecke tat ihm überhaupt nicht gut.