Drei Wochen waren seit der Hochzeit vergangen und Ricky weiterhin sehr glücklich mit der Entscheidung, André langfristig eine Chance zu geben. Zu sagen, er hätte keinen Spaß gehabt, wäre ohnehin offensichtlich gelogen gewesen. Aber letztendlich war das eine Wette, die er gern verloren hatte. Ricky grinste, während er die Straße entlang seinem Ziel entgegen schlenderte. Nicht die einzige Wette, bei der er zur Abwechslung mal keine Probleme hätte, wenn er sie verlor. Darüber wollte Ricky allerdings nicht nachdenken. Denn bis das Jahr herum war, um das er mit Alex gewettet hatte, würden noch einige Wochen mehr ins Land gehen müssen. Um nicht zu sagen Monate.
„Nicht so negativ“, ermahnte Ricky sich sofort selbst. Quasi umgehend schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen.
Da er in diesem Moment auch noch sein Ziel erreichte, hatte er ohnehin nicht wirklich Zeit, die Gedanken weiter abweichen zu lassen. Entsprechend trat er gut gelaunt durch die große Drehtür und sah sich um. Glücklicherweise hatte er bisher noch nie einen Grund gehabt, hierher zu kommen. Und vielleicht fühlte es sich deshalb etwas merkwürdig an, hier zu sein.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine junge Frau am Empfang links von ihm.
Einen Moment zögerte er, doch dann trat Ricky näher und nickte. „Ich ... suche die Kinderchirurgie“, meinte er etwas unsicher, ob er da überhaupt hindurfte. Immerhin war er nicht als Besucher hier. Tatsächlich musterte die Frau ihn einen Moment mit gerunzelter Stirn. „Ich bin dort verabredet“, fügte Ricky nuschelnd hinzu.
Sie lächelte und deutete den langen Flur hinunter in Richtung der Aufzüge als sie ihm erklärte: „Dritter Stock.“
„Danke“, murmelte Ricky und verzog sich lieber, bevor sie es sich anders überlegte. Doch auch während er langsam den Gang entlang schlenderte, hatte Ricky das Gefühl, als würden sich ihre Augen in seinen Nacken bohren.
Als er auf den Fahrstuhl wartete, riskierte, er einen kurzen Blick zurück zum Empfang, aber die Dame war nicht mehr zu sehen. Wieder ermahnte er sich, ruhig zu bleiben und sich nicht ständig irgendwelche Sachen einzubilden. Er war hier um seinen ‚Freund‘ abzuholen. Nach inzwischen fünf Wochen fühlte sich das Wort zwar noch immer etwas ungewohnt, aber nicht mehr ‚vorschnell‘ oder gar ‚falsch‘ an. Denn letztendlich definierte es das, was seit über einem Monat zwischen ihnen ablief recht deutlich. Sie gingen aus, hatten Spaß – und zwar nicht nur im Bett. Und es gab Abende, so wie der heutige, an denen sie im Grunde nicht einmal etwas Konkretes vorhatten. Sah man von einem Abendessen daheim und ein paar gemeinsam verbrachten Stunden auf der Couch ab. Ricky lächelte und betrat den Fahrstuhl. Trotzdem unwahrscheinlich, dass sie heute nur zum Schlafen im Bett landen würden. André schien manchmal geradezu unersättlich zu sein. Andererseits konnte Ricky nicht gerade behaupten, dass ihm die Aufmerksamkeit stören würde. Im Gegenteil. Der Sex war gut und er würde einen Teufel tun sich zu beschweren, dass er welchen hatte.
Die große Tür der Station war geschlossen und Ricky sich nicht sicher, ob er hier draußen warten sollte. Also klingelte er an der Durchgangstür und fragte nach André. Die Tür schwang kurz darauf auf und eine ältere Dame trat auf ihn zu.
„Doktor Clavier ist noch in einer Operation. Er hat mir gesagt, dass er Sie bittet hier auf ihn zu warten“, erklärte sie mit einem Lächeln. Sie deutete nach links auf einen kleinen Raum. „Dort ist ein Wartezimmer, falls Sie einen Kaffee oder etwas anderes zu Trinken möchten, bedienen Sie sich ruhig.“
Unsicher, ob es wirklich okay war, wenn er hier wartete, trat Ricky in das kleine Zimmer. Von dem Angebot, sich etwas zu nehmen, machte er jedoch keinen Gebrauch. Schließlich war er nicht wegen eines Patienten hier. Vielleicht fühlte es sich deshalb so merkwürdig an. Zumal Ricky nicht wusste, wie offen André damit umging, dass er Beziehungen zu Männern pflegte. Er selbst hielt sich da ja außerhalb der Bekanntschaften aus dem Rush-Inn eher bedeckt.
Mit einem kurzen Seufzen stellte Ricky die kleine Kühltasche, die er über der Schulter getragen hatte, auf einem der Stühle ab. Wenigstens brauchte er sich, um das Essen keine Gedanken zu machen. Inzwischen war Juni und die Temperaturen draußen entsprechend warm. Davon konnte man hier drinnen glücklicherweise nichts spüren, sodass er sich bis zu Andrés Arbeitsende zunächst keine Sorgen machen musste.
Der Vorsatz, im Wartezimmer brav herumzusitzen, bis sie gehen konnte, gestaltete sich jedoch nach dreißig Minuten zunehmend schwieriger. Es war nicht so, dass Ricky genervt oder gelangweilt wäre. Aber auch wenn es ein kleiner Nebenraum war, in den offenbar im Grunde niemand hereinkam, hatte Ricky mehr und mehr das Gefühl, als ob er störte. Schließlich hätte er genauso gut bei André zu Hause warten können.
„Kein Schlüssel“, murmelte Ricky verhalten.
Mit einem leisen Seufzen lehnte er den Kopf an die Wand hinter sich. Als er die Augen schloss, wurde ihm bewusst, dass es lediglich etwas über einen Monat war, den er mit André zusammen war. Dabei hatte er oft genug das Gefühl, der Mann wäre ihm so vertraut, als würden sie sich schon seit Jahren kennen.
Seufzend öffnete Ricky die Augen und erhob sich. Vielleicht sollte er fragen, ob es noch länger dauerte. Irgendwo in der Nähe gab es ja womöglich ein Café, in dem er stattdessen warten könnte. Aber die Leute hier hatten alle ihren Job zu erledigen und es kam Ricky lächerlich vor, sie wegen seiner eigenen Bequemlichkeit zu stören. Denn letztendlich machte es keinen Unterschied, so lange er nicht bei André zu Hause warten konnte. Und den heutigen Abend wollten sie schließlich dort und nicht bei Ricky verbringen.
Trotzdem streckte er kurz darauf den Kopf aus dem Wartezimmer und sah sich um. Bestimmt durfte man hier nicht einfach rumlaufen. Die Station war ja vermutlich nicht ohne Grund vorn verschlossen. Und die ältere Schwester hatte ihm gesagt, dass er hier warten sollte. Vielleicht hoffte Ricky ja schlichtweg, dass er die Frau erneut sehen würde. Aber es war niemand da, der Gang wirkte verlassen.
Ricky hatte sich ein Krankenhaus immer hektisch vorgestellt. Dass die Leute dort von einem Zimmer zum anderen hasteten, irgendwelche Patienten behandelten und zum nächsten flitzten. Im Moment war hingegen gar niemand zu sehen.
Langsam trat er aus dem Wartezimmer. Den Gang entlang war ein Glasvorbau, der in den Flur hinaus ragte. Ein Schild zeigte an, dass dort offensichtlich der Bereich für die Schwestern und Pfleger war. Sich ein Café zu suchen, anstatt weiter hier zu warten, klang schon wieder ausgesprochen vernünftig. Andererseits könnte es ja auch sein, dass André jeden Moment fertig war.
„Hast du Doktor Clavier eben aus dem OP kommen sehen?“, hörte er plötzlich eine belustigt klingende Stimme irgendwo weiter vorn.
Sofort stockte Ricky. Also war André jetzt fertig? Vermutlich würde er trotzdem nicht gleich hier aufschlagen. Umziehen musste er sich schließlich im Mindesten. Vielleicht auch zunächst irgendeinen Bericht zur Operation schreiben oder nach dem Patienten sehen. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie wenig Ahnung er davon hatte, wie Andrés Alltag im Krankenhaus aussah. Alles, was Ricky wusste, war, dass sein Freund hier in der Facharztausbildung in der Kinderchirurgie war.
„Oh Mann, der würde mir ja so was von gefallen“, antwortete in diesem Moment eine andere Stimme mit einem theatralischen Seufzen. „Aber ich habe gehört, er geht mit keiner der Schwestern aus.“
Ricky runzelte die Stirn und trat einen Schritt an die Wand. Bei Andrés Aussehen sollte es ihn nicht verwundern, dass die Schwester ein Auge auf ihn geworfen hatten, aber die Bestätigung quasi live zu hören war trotzdem unangenehm. Unsicher blickte Ricky sich um und überlegte, ob er nicht besser ins Wartezimmer zurückkehren sollte. Immerhin war André mit der Operation fertig – würde also hoffentlich demnächst hier auftauchen. Er wusste, dass es falsch war, hier zu stehen und zu lauschen, trotzdem konnte Ricky sich einfach nicht dazu durchringen, in das Wartezimmer zurückzugehen.
„Na, das ist ja wohl nicht verwunderlich“, antwortete die erste Stimme mit einem Lachen.
„Wieso?“
„Na ich hab gehört, dass er schwul ist.“
Ricky erstarrte. Das war jetzt wohl definitiv der richtige Zeitpunkt ins Wartezimmer zurückzugehen. Wenn die Damen plötzlich hier draußen auftauchten und ihn fragten, was er im Gang machte, würde seine Anwesenheit das offensichtlich bereits kursierende Gerücht womöglich weiter anfeuern. Und da Ricky keine Ahnung hatte, ob André wollte, dass man im Krankenhaus über ihre Beziehung Bescheid wusste, wäre das vermutlich eher nicht gut.
„Echt jetzt? Oh, Mann! Mal wieder ein herber Verlust für die Frauenwelt“, maulte in diesem Moment die zweite Stimme erneut. „Meinst du, er hat einen Freund?“
Schon konnte Ricky spüren, wie sich seine Wangen erhitzten. War vorhin ein guter Augenblick gewesen, um sich zu verkrümeln, war das hier ein um so besserer. Trotzdem stand Ricky weiterhin an der Wand und lauschte.
„Keine Ahnung“, antwortete die andere Stimme. „Aber ich hab gehört, dass Doktor Berov aus der Onkologie sich wohl recht häufig über Patienten bei ihm erkundigt. Also wenn du mich fragst ...“
„Ohne Scheiß?“, kreischte die andere. „Theo Berov? Ist der etwa auch schwul? Wie unfair ... Aber die zwei wären schon irgendwie hübsches Paar. Findest du nicht?“
Beide lachten und Ricky machte endlich das, was er lieber schon vor drei Minuten hätte machen sollen: Er verzog sich zurück ins Wartezimmer. Mit gerunzelter Stirn ließ er sich auf einen der unbequemen Plastikstühle fallen und starrte an die gegenüberliegende Wand.
Ein Arzt – einer, der offenbar Interesse an André hatte. Für einen Augenblick zuckte der Gedanke durch Rickys Kopf, dass er damit unmöglich würde mithalten können. Andererseits ging sie ja schon miteinander aus. Außerdem hatte André immer wieder gesagt, dass er, genau wie Ricky, etwas Ernsthaftes suchte.
„Hör auf, so negativ zu denken“, ermahnte er sich erneut.
Diese düsteren Gedanken wollte er doch schon länger nicht mehr zulassen. Trotzdem kam Ricky nicht umhin sich zu fragen, ob André nicht etwas Besseres abbekommen könnte. Zumindest jemanden, der mehr von dem Job im Krankenhaus verstand als Ricky selbst.
„Hey, da bist du ja!“, begrüßte ihn in diesem Moment eine gut gelaunte Stimme aus Richtung der Tür.
Hastig schob Ricky die dunklen Gedanken beiseite, griff zur Kühltasche und stand auf. „Alles gut gelaufen?“, fragte er vorsichtig, nicht sicher, ob es okay oder zumindest angemessen war, die Frage zu stellen.
André grinste breit und nickte. „Jetzt, wo ich Feierabend habe, alles bestens.“ Kaum dass Ricky zu ihm herangetreten war, legte sich Andrés Arm über seine Schulter und zog ihn raus in den Gang. „Aber um ehrlich zu sein, will ich nur noch heim und sehen, was du heute Leckeres zum Essen geplant hast.“
Da war weiterhin diese leise, düstere Stimme in Rickys Inneren, die ihn beständig daran erinnerte, dass er aus einer anderen Welt stammte. Einer in der es weder Ärzte noch Patienten gab. Kein Kampf um Leben und Tod. In Rickys Berufswelt gab es Tüll und Seide, Träume und die Hoffnung auf eine ewig andauernde Liebe. Definitiv keine studierten Leute oder gar stinkreiche Schwager, denen die halbe Stadt gehörte.
Es kostete Ricky einiges an mentalem Aufwand, aber er schaffte, es die Gedanken beiseite zu drängen. Im Moment wollte er nicht darüber nachdenken, denn im Grunde hatte André recht. Ricky war hier, um seinen Freund abzuholen, ihm etwas zu kochen und einen gemütlichen Abend zu verbringen.
„Worüber grübelst du schon wieder nach?“, fragte André mit einem unüberhörbaren Lächeln in der Stimme.
„Nichts“, beeilte sich Ricky, zu versichern. „Ich ... überlege nur, ob ich alles fürs Essen dabei habe“, fügte er dann hastig hinzu – wohlwissend, dass er André selten etwas vormachen konnte, was dieses Thema anging.
„Ah, du verwöhnst mich ständig so“, meinte der verträumt und drückte Ricky plötzlich einen Kuss auf den dunkelblonden Wuschelkopf.
Unsicher sah er sich nach links und rechts um, aber niemand schien es bemerkt zu haben. So verließen sie schließlich das Krankenhaus und machten sich auf den Weg zu Andrés Wohnung. Die frische Luft schaffte es jedoch kaum, Rickys weiterhin aufgewühlten Gedanken wieder zu beruhigen.
↬ ✂ ↫
„Jetzt sag schon, was los ist“, meinte André seufzend, als sie nicht lange später die Stufen zu seinem Wohnhaus hinaufstiegen.
„Was meinst du?“
Ein leises Lachen, dann lehnte er sich zu Ricky hinüber und zwinkerte ihm zu. „Du bist immer noch im Grübelmodus. Und behaupte nicht, das würde nicht stimmen. Also, was ist passiert?“
Das Seufzen konnte Rick sich zum Glück verkneifen. So schön es war, dass André ihn scheinbar meistens ohne Worte zu verstehen schien – manchmal war es nicht sonderlich hilfreich, dass der Mann ihm damit auch jeden noch so kleinen Zweifel ansah. Zumal es ja vorwiegend Selbstzweifel waren, die Ricky derartig herumtrieben. Eben solche, die er eigentlich nicht mehr zulassen wollte – in der Umsetzung dieses Vorsatzes jedoch eklatant zu scheitern schien.
Sie stiegen die Stufen im Treppenhaus hinauf. Ricky hatte bisher nicht geantwortet, wusste auch nicht so recht, was er sagen sollte. „Du hattest offenbar einen anstrengenden Tag“, meinte er schließlich vorsichtig. „Ich ... hab mich nur gefragt, was ich ... keine Ahnung.“
Und das traf es ziemlich genau. Dieses ‚keine Ahnung‘. Denn im Grunde hatte Ricky nicht die geringste Vorstellung, was er sagen wollte. Oder sollte. Oder müsste. Ganz zu schweigen davon, dass er nicht wusste, ob und wie er André helfen könnte nach einem offenbar recht anstrengenden Tag den Kopf freizubekommen. Es gelang ihm ja nicht einmal, die eigenen Gedanken loszulassen.
Wenn man danach ging, wie langsam André die Stufen hinauf schlich, war es definitiv kein sonderlich leichter Arbeitstag gewesen – und offensichtlich ja auch nach einer ohnehin nicht gerade kurzen Schicht mit Überstunden. Sonst waren Andrés Schritte deutlich beschwingter. Obwohl der Kerl es vermutlich nicht zugeben würde, es war nicht zu übersehen, dass er todmüde war.
„Wenn du jetzt sagst, dass du lieber nach Hause gehst, damit ich meine ‚Ruhe‘ habe, versohle ich dir den Hintern, mein Freund“, meinte André lediglich lachend, als er endlich seine Wohnungstür erreichte. „Wobei ich das so auch machen würde, falls du drauf stehst“, fügte er mit einem weiteren Augenzwinkern hinzu.
Schon konnte Ricky spüren, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Sicherheitshalber hielt er sich mit einer Antwort zurück. Dass André auch im Bett gern ‚spielte‘, hatte Ricky durchaus schon gemerkt. Um ehrlich zu sein, traf das ebenfalls seinen eigenen Geschmack. Auf die Nase binden würde er André das trotzdem nicht. Denn dann würde Ricky sich ja um das Vergnügen bringen, wenn es darum ging, den guten Herrn Doktor ab und an etwas zappeln zu lassen.
Nachdem sie eingetreten waren und ihre Schuhe ausgezogen hatten, wurde Ricky prompt in die Küche geschoben. „Außerdem hast du mir was zu essen versprochen. Also glaub ja nicht, dass du hier wieder wegkommst, bevor du meine niederen Bedürfnisse befriedigen konntest, Ricky.“
Wie so oft, lief ihm ein Schauer über den Rücken bei der Art und Weise, wie André seinen Namen betonte. Zumal er den meisten Männern, mit denen er ins Bett stieg, diese verniedlichte Form seines Vornamens verbot. Aber in diesem speziellen Fall machte Ricky nur zu gern eine Ausnahme. Führte sie doch allzu oft zu einem herrlichen Kribbeln im Bauch, das sich wie ein Lauffeuer rasend schnell südwärts ausbreitete.
„Und um welche genau handelt es sich dabei?“, fragte Ricky gespielt unschuldig zurück, während er die Kühltasche betont lässig auf die Küchenablage stellte und anfing sie auszupacken. „Ich möchte ungern irgendwelche ... Erwartungen enttäuschen.“
Schon schlang sich ein Paar Arme um seine Mitte. Während in Rickys Rücken die Wärme eines anderen Körpers durch das dünne Hemd drang, ließ André bereits seine Finger über die Knopfleiste nach oben wandern. Nicht zu vergessen die Lippen, an Rickys Halsbeuge gelegt wurden und sich von dort langsam zum Ohr hocharbeiteten. Alles in allem zu viel Ablenkung, um kochen zu können, aber sonderlich hungrig fühlte Ricky sich gerade sowieso nicht. Jedenfalls nicht aufs Essen.
„Hm ... Für den Anfang wäre ich mit etwas zufrieden, was meinen Bauch füllt“, raunte es neben Rickys Ohr.
Das Kribbeln unterhalb der Gürtellinie verstärkte sich erneut, bis es immer deutlicher zu einem Pochen wurde. Vermutlich im Einklang mit seinem stetig schneller schlagenden Puls. Wäre zumindest nicht verwunderlich, angesichts der Tatsache, dass beides an den gleichen Blutkreislauf angeschlossen war. Aber vielleicht sollte er dahingehend doch lieber eine fachmännischere Meinung einholen.
„Was hättest du denn sonst noch gern heute ... gefüllt‘?“, fragte Ricky stattdessen, konnte sich das Grinsen bei dem miesen Wortwitz aber nicht verkneifen.
„Oh, da fällt mir durchaus das eine oder andere ein. Freie Auswahl, sozusagen.“
Prompt hatte Rickys Fantasy da diverse visuelle Vorschläge zu bieten, die sie später am Abend hoffentlich umsetzen könnten. Vorerst stand da jedoch der inzwischen recht lautstark knurrende Magen in Rickys Rücken im Weg.
„Entschuldige“, gab André mit einem leisen Lachen zurück und drückte sich noch einmal kurz an Ricky, bevor er sich von ihm löste. „Kann ich dir bei etwas helfen?“
↬ ✂ ↫
Nicht ganz eine Stunde später saßen sie satt und faul auf dem Sofa. Während André versuchte, etwas im Fernsehprogramm zu finden, das erträglich genug war, ohne allzu große Hirnleistung zu erfordern, schloss Ricky die Augen und genoss die Wärme des Körpers neben ihm.
Genau das hatte er sich vorgestellt, als er vor einigen Monaten darüber nachgedacht hatte, dass er endlich jemanden wollte, mit dem es dauerhaft funktionieren konnte. Alltag, Normalität und trotzdem gab es immer wieder Dinge, die er neu an André entdecken konnte. Eine bunte Mischung aus bekanntem und unbekanntem Terrain, in das er sich forschend hinaus wagen wollte.
Ein Lächeln huschte über Rickys Lippen, als ihm eine leise Stimme im Kopf zuflüsterte, dass es da nicht mehr viele Ecken an Andrés Körper gab, die er bisher nicht erforscht hatte. Andererseits versteckte der Mann vermutlich noch genug Dinge in seinem Kopf, die Ricky bis dato nicht einmal erahnte. Wäre auch verwunderlich, wenn er nach so kurzer Zeit bereits alles über einen Menschen wissen würde. Und langweilig.
An seiner Seite konnte Ricky spüren, wie André mit einem Seufzen weiter in sich zusammensank. Dabei lehnte er sich stetig deutlicher gegen Rickys rechte Seite.
„Bist du müde?“
„Hm“, brummte André, mit einer Mischung aus Unzufriedenheit und offener Ablehnung. Plötzlich drehte er den Kopf und sah zu Ricky auf, während er fortfuhr: „Wenn ich jetzt ins Bett gehe, dann hoffentlich nicht zum Schlafen.“
Das kurze Grinsen, das André ihm dabei zuwarf, ließ sofort das Flattern in seinem Bauch wieder aufflammen. „Du bist sexsüchtig“, gab er mit einem eigenen Grinsen zurück.
„Ah, ah, ah!“, erwiderte André mit einem Lachen. „Süchtig nach dir vielleicht.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen schnappte Ricky sich die Fernbedienung aus Andrés Hand und zappte nun seinerseits durch die Programme. Auf der Suche nach Ablenkung, damit es nicht ganz so lächerlich wirkte, dass ihm nicht prompt eine Erwiderung eingefallen war.
„Sollte das etwa romantisch klingen?“, fragte Ricky schließlich, den Blick starr auf den Fernseher gerichtet.
„Ist es nicht?“
„Nicht wirklich.“
„Hm ... Die romantischen Gene hab ich wohl meiner Schwester überlassen“, murmelte André versonnen.
Ehe Ricky überhaupt nach einer adäquaten Antwort in seinem Kopf forschen konnte, wurden ihm plötzlich die Beine weggerissen und er fand sich auf dem Rücken liegend wieder. Glücklicherweise war das Sofa breit genug, dass man dabei nicht prompt zu Boden fiel. Als ob er noch einmal sichergehen, dass dem wirklich so war, zerrte André in diesem Moment das Kissen an der Rückseite herunter.
„Wahrlich nicht sonderlich romantisch“, stichelte Ricky mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
„Was genau würde denn in diese Kategorie zählen?“, raunte André, während er sich auf Rickys Schoß setzte und anfing, langsam dessen Hemd von oben nach unten aufzuknöpfen. „Dinner bei Kerzenschein?“
Bei jedem weiteren Knopf streifte in Fingerknöchel über Rickys Haut und fachte das Flattern in seinem Bauch ein Stück mehr an.
„Ein Spaziergang am Strand vielleicht?“
Leider hatte das Hemd definitiv nicht genug Knöpfe, weshalb Ricky sich umgehend vornahm, irgendwann eins zu nähen, dass bei einem Knopfabstand von nicht mehrmals drei Zentimetern vermutlich deutlich längeres Vergnügen bereiten würde. Zumindest ihm selbst.
„Auf Schnittblumen stehst du nicht. Und in deiner Wohnung ist keine einzige Topfpflanze, weil du ständig das Gießen vergessen würdest. Also kann ich das schon mal von der Liste streichen“, murmelte André, als er sich endlich vorbeugte und seine Lippen an Rickys Halsansatz legte. Plötzlich schnellte er nach oben. „Ein Kaktus! Die sind echt robust.“
Da musste Ricky laut lachen. Er zog Andrés Kopf zu sich herunter, bis sich dessen Lippen endlich auf seine eigenen legten. Das hier war mehr als genug ‚Romantik‘. Jedenfalls in dem Sinne, den er brauchte. Als kratzige Stoppeln über seine Wange hinweg am Hals entlang fuhren und ihn dabei kitzelten, lachte Ricky erneut.
„Wozu brauch ich einen Kaktus? Du stachelst doch schon genug“, gab er feixend zurück.
Hastig legten sich fordernde Lippen erneut auf die seinen. „Muss ich mich öfters rasieren?“
Ricky schüttelte stumm den Kopf. Ständig fragte André was er an sich ändern, oder besser machen sollte. Dabei war es doch genau dieser Mann hier, den er wollte. Da gab es nichts, aber auch gar nichts, das er im Augenblick an ihm hätte verändern wollen. Vielleicht würde das in ein paar Wochen, Monaten, Jahren ganz anders aussehen. Im Gegenteil, wäre es manchmal sogar nett, wenn er an André mehr ‚Makel‘ erkennen könnte.
„Ich will nicht, dass du dich änderst“, murmelte Ricky schließlich und erntete dafür ein leises Lachen an seiner Brust. Über die arbeitete sich gerade eine kratzige Wange abwärts, während eine warme Hand an seiner Seite den umgekehrten Weg nach oben wanderte. André rutschte weiter über Rickys Beine hinab, bis er zwischen ihnen lag.
„Ach nein?“
Wieder schüttelte er den Kopf, brauchte aber einen Moment, um zu antworten. „Gibt es etwas, das ich ändern sollte?“, fragte Ricky irgendwann vorsichtig zurück. Schon konnte er spüren, wie sich sein Puls beschleunigte.
Da war eine irritierte Furche zwischen Andrés Brauen, als der sich wieder aufrichtete und ihn für einen Moment eindringlich – aber auch nachdenklich ansah.
„Ja“, sagte André mit einem Mal und ließ Ricky dabei zusammenzucken. Obwohl er es ungern zugab, es war nicht die Antwort, auf die er gehofft hatte. „Du solltest aufhören, ständig so viel zu grübeln und dich ändern zu wollen.“
„Blödmann!“, fauchte Ricky wütend und schlug André mit der Faust gegen die Brust.
„Was denn?“, gab der lachend zurück. Und stahl sich kurz darauf einen weiteren Kuss.
„Ich meine es ernst“, nuschelte Ricky grummelnd, während er zur Seite blickte, um diesen stechenden graublauen Augen zu entkommen.
„Ich auch.“ Überrascht sah Ricky wieder zu André hinauf. „Diese Grübelei steht dir nicht.“
Er mochte diese ständige Unsicherheit ja selbst nicht, trotzdem hatte Ricky keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Dieses ‚nicht Nachdenken‘ war schlichtweg unmöglich. Erst recht, wenn er daran dachte, was die beiden Schwestern im Krankenhaus heute gesagt hatten. Würden die über ihn genauso reden? Oder würden sie sich darüber lustig machen, dass er am Ende ja sowieso überhaupt nicht zu André passte?
Plötzlich stand der auf und zog Ricky mit sich mit. Mehr stolpernd als laufend wurde er ins Schlafzimmer verfrachtet und aufs Bett gedrückt. Für einen Moment war er unfähig, überhaupt zu reagieren, geschweige denn etwas zu sagen. Schon wurde ihm die Hose heruntergezogen und auch das Hemd fand sich kurz darauf zusammen mit Andrés Shirt und dessen eigener Hose auf dem Boden wieder.
Eben wollte Ricky zu einem spitzen Kommentar ansetzen, als er sich mit einem Mal in einer festen Umarmung wiederfand. Ein weiteres Mal kratzten Andrés Bartstoppeln über seine nackte Brust, wurden zwei Hände Rickys Rücken entlanggeschoben, bevor sich kräftige Arme um seine Hüften schlangen.
„André?“, fragte er vorsichtig, als der nichts mehr sagte – sich aber offenkundig auch nicht weiter bewegte.
Keine Antwort, dafür erneutes Kratzen, als der etwas Unverständliches murmelnd die Wange an Rickys Brust rieb. War der Mann jetzt etwa einfach eingeschlafen?
„Ich will nicht wirklich, dass du dich änderst“, flüsterte André schließlich doch leise.
„Veränderung ist nicht immer etwas Schlechtes“, nuschelte Ricky verlegen. Langsam strich er durch die braunen Haare, denn mehr konnte er von André gerade nicht wirklich sehen. „Es kann doch auch eine Verbesserung sein.“
„Hm.“
„Ich möchte jemand sein, der dir nach einem schlimmen Tag ... mehr als nur ein dummes Essen kochen kann“, murmelte Ricky schließlich.
„Und wenn ich nach einem miesen Tag einfach nur etwas Leckeres auf dem Teller und ... das hier brauche?“
Verwirrt runzelte Ricky die Stirn. War es wirklich so simpel? Würde das reichen? Vielleicht. Ganz sicher war er sich nicht. Aber der Gedanke, dass er sich in der Tat nur zu viele Sorgen machte, war beruhigend. Ricky konnte spüren, wie der warme Atem an seiner Brust allmählich gleichmäßiger wurde, der Griff um seine Mitte lockerer.
Wenn das wirklich alles war, was André brauchte, war die Antwort ziemlich klar: „Dann sollst du genau das bekommen“, flüsterte er leise. Während er mit einer Hand beruhigend weiterhin durch die braunen Haare strich, zog er die beiseitegeschobene Decke heran und deckte sie beide damit zu. Etwas früh zum Schlafengehen, aber vermutlich würde André sowieso in ein paar Stunden aufwachen und die Befriedigung seiner übrigen ‚niederen Bedürfnisse‘ einfordern. Da Ricky gern auch das eine oder andere befriedigt hätte, war ein Nickerchen vermutlich keine so ganz schlechte Idee.