„Willkommen, willkommen“, tönte Tante Helena, kaum dass die Kundschaft im Laden war und kam auf die junge Frau zugestürmt, die sich mit glänzenden Augen im Verkaufsbereich umblickte. Küsschen links, Küsschen rechts, ein breites Lächeln – alles wie immer. „Ich freue mich, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Nennen Sie mich einfach Helena.“
„Marie“, entgegnete die junge Frau noch immer selig lächelnd.
Ricky seufzte innerlich. Die Geschäftstüchtigkeit seiner Tante war allerdings vermutlich das einzige, was ihren kleinen Laden in der heutigen Zeit am Leben hielt. Das und die Mundpropaganda. Eben die bezog sich seit inzwischen zwei Jahren immerhin auf die Begeisterung der Bräute für seine Kreationen. Die Nachfrage nach handgefertigten Brautkleidern war trotzdem definitiv zurückgegangen. Und Ricky machte sich wenig Illusionen darüber, dass er hier in diesem Laden alt werden würde. Aber vorerst vermied er den Gedanken, so gut er nur konnte. Vielleicht änderten sich die Zeiten ja auch wieder.
Zumindest ihre heutige Kundin machte definitiv den Eindruck, als wäre sie nicht nur zum Schauen und Träumen hier. Und der Mercedes vor der Tür zeigte, dass sie – oder ihr Verlobter – über ausreichend finanzielle Mittel verfügen dürfte, um sich das leisten zu können. Kurz schielte Ricky zu dem schon wieder gelangweilt herumblickenden Begleiter. Bei dem war vermutlich eher die Frage, ob er es sich leisten wollte. Denn wenn man ihn so ansah, schien er von der Idee hier stehen zu müssen, überhaupt nicht begeistert zu sein.
„Gib Annabell die Sachen, mein Junge. Und dann zeig Marie doch erst einmal einige unserer aktuellen Arbeiten“, wies seine Tante ihn auch schon an.
Er nickte und drückte kurz darauf seiner Kollegin die Tüte vom Bäcker in den Arm. „Sind Plätzchen“, flüsterte er ihr zu, dann verschwand sie auch schon im hinteren Bereich, um die Sachen anzurichten. Als Ricky neben Helena trat, setzte doch noch die bei ihm geradezu obligatorische Verlegenheit ein. Diese ersten Minuten waren irgendwie immer die merkwürdigsten.
„Das hier ist Rick. Er wird Ihnen alles zeigen, und sie heute beraten“, erklärte Helena und ließ ihn dann nach einem kurzen Schulterklopfen stehen.
„Ein Mann in einem Brautladen?“, kam es auch sofort vom zukünftigen Ehemann. Ricky zuckte zusammen und lächelte aber trotzdem freundlich weiter. Helena sollte eine Hausregel einführen, dass die Verlobten nichts bei der Kleiderwahl zu suchen hatten.
Wieder konnte Ricky den Blick des Mannes über sich gleiten fühlen – ebenso wie das Kribbeln, das ihm dabei die Wirbelsäule entlang nach oben stieg. Er brauchte wirklich ganz dringend wieder jemanden in seinem Bett, damit ihm solche Männer, wie der hier nicht permanent die Gedanken vernebeln konnten.
Für einen Augenblick fragte Ricky sich, was der Kerl wohl von Beruf war. Das Erste, was ihm in den Sinn kam, war ‚Unterwäschemodel‘, gefolgt von ‚Schauspieler‘. Die Art von Filmen, in denen Ricky den Mann gern gesehen hätte, drängte er lieber ganz schnell in die Untiefen seines Hirns zurück. Definitiv der falsche Zeitpunkt, um ausgerechnet in diese Richtung zu denken.
„Etwas ungewöhnlich, oder?“
Er musste sich zwingen, weiter zu lächeln. Mit einem Mal war das angenehme Kribbeln verschwunden und Ricky schalt sich selbst dafür, dass er den Hormonen wieder einmal zu viel Auslauf gelassen hatte. Hatte er den Blick vor ein paar Sekunden als forschend empfunden, fühlte er sich mit einem Mal abschätzend an. Und das gefiel ihm gar nicht. Natürlich würde Ricky das aber weder der Kundin noch ihrem zukünftigen Mann zeigen.
Also lächelte er weiter und antwortete schließlich: „Wir sind eben ein ungewöhnliches Geschäft. Bei uns finden Sie von allem nur das Beste.“
Das verschmitzte Grinsen auf dem Gesicht seines Kunden versetzte Rickys Libido einen weiteren ungewollten Höhenflug: „Oh, das glaube ich sofort.“
Darum bemüht sich nicht ansehen zu lassen, dass ihn der Kommentar schon wieder um seine Fassung ringen ließ, ging Ricky zu einer der Kleiderpuppen hinüber und deutete, an seine Kundin gewand, darauf.
„Dies Kleid ist eines unserer Neuesten. Beachten Sie die Spitzen hier oben und auch am Saum. Das Muster ist aus Perlen geknüpft. Das Symbol bringt nach altem Glauben Glück und Harmonie. Natürlich ist es handgefertigt und handgeknüpft. Wir geben Garantie darauf, dass alles, was sie von uns bekommen, 100%ig in Handarbeit gefertigt wurde“, erklärte er und drehte dabei die Puppe herum, damit die Kundin das Kleid von allen Seiten aus betrachten konnte.
„Das hat meine Freundin auch gesagt“, antwortete Marie mit einem seligen Lächeln und betrachtete das sein Werk genau. „Sie hat vor zwei Monaten geheiratet. Ich war Brautjungfer und ihr Kleid war einfach der absolute Traum! Mein Brautjungfernkleid hat sie auch von Ihnen gehabt. Ich würde es am liebsten ständig anziehen. Leider ergeben sich so selten Gelegenheiten dazu.“
„Tatsächlich? Das freut mich sehr“, entgegnete Ricky und lächelte zufrieden.
Wie schon so oft, stieg mit Maries Worten auch der Wunsch in ihm hoch, dass er nur zu gern einmal eines seiner Kleider live auf einer Hochzeit gesehen hätte. Schnell wischte er den Gedanken beiseite, da er sich weder heute noch morgen erfüllen ließ. Wie seine Tante, Annabell und Rickys Mutter so gern bemerkten: Die nächste mögliche Gelegenheit, eine Hochzeit selbst zu erleben, wäre die Eigene. Und das stand nicht zuletzt mangels Partner, schließlich absolut außer Frage. Und eines seiner Kleider würde da garantiert eh keiner tragen. Jedenfalls niemand, der vor dem Altar stand.
„Haben Sie denn viel zu tun?“, forschte Marie weiter, während ihr Begleiter es sich derweil in einem der Sessel bequem machte.
Ricky zuckte weiterhin lächelnd mit den Schultern. „Sofern Sie das Kleid nicht nächste Woche brauchen, wird sich sicherlich für alles eine Lösung finden lassen.“
„Dann drück mal die Daumen, dass du nicht doch schon zu spät dran bist, Prinzesschen“, warf deren Begleiter mit einem geradezu hinterhältigen Grinsen ein.
Etwas irritiert blickte Ricky zu ihm hinüber und erntete prompt ein gut gelauntes Augenzwinkern. Irgendwie war der Kerl merkwürdig und die Art, wie er mit seiner Zukünftigen sprach auch nicht unbedingt freundlich. Aber letztendlich ging ihn das ja nichts an. Er selbst hatte schließlich nicht vor, den Kerl zu heiraten.
Hastig wandte Ricky den Blick ab, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen. Dieses Grinsen machte den Mann nämlich trotz der harschen Worte gleich noch mal drei Stufen attraktiver. Vor allem aber zerrte es an seiner eigenen Selbstbeherrschung, um nicht ebenso frech und ungebührend zu antworten. Ricky sah sich zum Ausgleich schon am Abend online die letzten Cover der einschlägigen Zeitschriften recherchieren. Wenn der ein Model war, würde er ihn dort garantiert irgendwo finden. Und mit etwas Glück fehlte da das eine oder andere Kleidungsstück. Oder auch mehr.
„Sabine Uhlmann“, fuhr Marie plötzlich dazwischen und riss Ricky damit aus seinen zunehmend komplett abgleitenden Gedanken.
„Was?“
„Meine Freundin. Die sie empfohlen hat. Können Sie sich an sie erinnern?“
Ricky runzelte die Stirn und überlegte. „Der Goldbesatz am Dekolleté“, rief seine Tante, die eben aus dem Nebenraum trat und einen Teller mit Plätzchen sowie zwei Tassen vermutlich grauenhaft schlechten Kaffee brachte.
„Richtig!“, erwiderte Ricky. Die Dame war in der Tat vor ein paar Monaten bei ihm gewesen und hatte eine ganze Menge Geld im Laden gelassen. „Goldspitze am Saum und Ausschnitt. Dazu eingenähte Silberfäden in Ornamentoptik.“
„Genau, das ist es!“, rief Marie aufgeregt und klatschte in die Hände wie ein kleines Kind.
„Für dich keinen Kaffee“, murrte ihr Begleiter und schnappte sich das erste Plätzchen von dem Teller, den Helena auf dem kleinen Kaffeetisch vor ihm abgestellt hatte.
Marie interessierte sich erneut weder für den eher unhöflichen Ton, noch überhaupt für ihren Begleiter. „Ich möchte auch so ein Kleid. Es soll in allen möglichen Farben glänzen, wenn ich zum Altar schreite.“
Schon stolzierte sie mit ausgebreiteten Armen den Verkaufsraum entlang. Die Augen geschlossen, träumte sie vermutlich gerade davon, wie wundervoll dieser Tag für sie werden würde. Ricky schmunzelte, konnte ihr aber irgendwie nachfühlen. Auch wenn er ganz sicher nicht vorhatte irgendwann den Gang zum Altar ‚zu schreiten‘, war es bestimmt ein unglaublich bewegender Moment. Dieser eine Augenblick, in dem man sich noch einmal bewusst machte, dass man kurz davor war, sich gegenseitig den Rest des Lebens zu versprechen. Und es wenigstens an diesem Tag auch so zu meinen – egal, was danach kommen mochte.
„Zieh bloß flache Schuhe an, sonst wird es peinlich, wenn du hinfliegst.“
Ricky blinzelte und sah wieder einmal zu Maries Begleiter. Der grinste ihn aber nur weiterhin schelmisch an. Also was die Frau an dem fand, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Die Augenbrauen von dem Modelverschnitt zuckten hoch und sein Grinsen wurde breiter, während er sich langsam und genüsslich das nächste Plätzchen zwischen die Lippen schob.
Rickys eigener Mund war schlagartig staubtrocken. Okay, vielleicht war es nicht ganz so unklar, was die Frau an dem Kerl fand. Obwohl er wie ein geradezu ungehobeltes Arschloch rüberkam, war der Mann definitiv zu sexy, um übersehen zu werden. Ein Gesicht, das wunderbar zu einer von diesen römischen oder griechischen nackten Jünglingsstatuen passen würde. Lediglich die kurzen braunen Haare waren glatt anstatt gelockt. Aber das Gesicht wirkte geradezu perfekt symmetrisch, schmale Nase, leichter Bartschatten um diesen so verflucht sinnlichen Mund. Das war vermutlich auch der Grund, warum Rickys Blick ein bis vierzig Sekunden zu lange an diesen derartig unhöflichen Lippen hing.
„Es wird traumhaft werden“, quietschte Marie erneut und riss ihn damit dankenswerterweise aus den in die untiefen seiner Begierden abgleitenden Gedanken.
Ricky lächelte und fuhr sich durch seine eigenen, vermutlich mal wieder viel zu unordentlich wirkenden dunkelblonden Haare. Er trat zu einem kleinen Tisch hinüber, griff zu Bleistift und Papier und deutete mit einer weiten Bewegung durch den Verkaufsraum: „Wenn Sie sich hier umsehen. Wie soll der Schnitt des Kleides in etwa sein? Lang oder kurz? Eher eng anliegend oder doch lieber locker und weit?“
Marie überlegte, dann fing sie an, von einer Kleiderpuppe zur anderen zu hüpfen. Und ja, man konnte ihre Bewegungen nur als solches bezeichnen. Wie ein kleines Mädchen stürzte sie sich von einem Kleid zum nächsten.
Geduldig wartete er ab und beobachtete sie mit einem Lächeln. Dabei glitt Rickys Seitenblick jedoch immer wieder zu ihrem männlichen Begleiter. Wie hieß der eigentlich? Bisher hatte er sich nicht vorgestellt und machte auch nicht den Eindruck, als wolle er das demnächst nachholen. Den Kaffee hatte er weiter fortgeschoben, dafür den Teller mit den Plätzchen bald leergefuttert. Seiner Zukünftigen sah er jedoch nicht einmal zu. War es ihm dermaßen egal, was sie tragen würde? Alles an dem Mann schien förmlich zu schreien, dass er nicht hier sein wollte.
Marie störte das allerdings gar nicht, sie suchte fröhlich kichernd weiter. An jedem Kleid schien ihr irgendetwas zu gefallen, was sie in ‚oh’s und ‚ah’s mehr oder weniger lautstark zum Besten gab. Da sie damit offenbar doch noch etwas beschäftigt sein würde, beschloss Ricky, dass es Zeit war, sich um ihren Begleiter zu kümmern – auch wenn er zunehmend unsicher war, was er von diesem halten sollte.
„Möchten Sie etwas anderes zu trinken?“, fragte er mit einem freundlichen Lächeln. „Wasser? Tee?“
Der Mann sah auf und musterte ihn erneut – mit einem weiteren viel zu attraktiven Grinsen, die der Kerl offensichtlich nur zu freigiebig verteilte. Trotzdem schaffte Ricky es, sich die sofort wieder aufsteigende Unruhe nicht anmerken zu lassen. Jedenfalls hoffte er, dass dem so war.
„Haben Sie schwarzen Tee?“ Hastig nickte Ricky. „Dann gern einen davon. Keine Milch und ohne Zucker.“
„Einen Moment bitte“, murmelte er entschuldigend und beeilte sich, ins Hinterzimmer zu kommen. Da Marie sowieso noch beschäftigt war, wollte Ricky sie nicht mit so etwas Trivialem, wie Essen oder Trinken ablenken.
„Ich brauche einen Schwarztee für den Bräutigam“, raunte er seiner Tante zu, die sofort zum Wasserkocher trat und ihn anschaltete.
„Soweit alles in Ordnung, sonst?“, fragte sie mit ebenso leiser Stimme nach. Ricky nickte stumm, wohlwissend, dass Annabell oder seine Tante erst hinzukommen würden, wenn er sie brauhte.
Glücklicherweise musste er nicht lange warten und trat kurz darauf mit einer dampfenden Tasse, in der noch der Teebeutel schwamm, zurück in den Verkaufsraum.
„Bitte sehr“, murmelte er, während er den Tee auf den Tisch vor seinem Kunden abstellte.
„Danke“, antwortete dieser und lächelte schon wieder. Es wäre einfacher, den Kerl absolut ekelhaft zu finden, wenn er nicht derartig gut aussehen und auch noch so verdammt verführerisch lächeln könnte. „Sie heißen Rick?“
Dieser blinzelte kurz, bevor er sich dem Mann erneut zuwandte: „Uhm. Ja.“
Unsicher schielte er zu seiner Kundin und hoffte nun doch, dass sie sich endlich mal für etwas entscheiden würde. Und sei es nur, um ihn vor der Peinlichkeit zu bewahren, hier weiter mit ihrem viel zu attraktiven Zukünftigen Smalltalk betreiben zu müssen. Vor allem ohne dass ihm irgend eine rotzfreche Bemerkung zu dessen Verhalten über die Lippen rutschte. Aber Marie schien keine Anstalten zu machen, sich zu beeilen.
„Wie sind Sie denn an diesen Job gekommen?“, bohrte sein Kunde mit einem unübersehbaren Grinsen im Gesicht weiter.
Sofort begann etwas in Ricky wieder zu gären. Wieso fanden es eigentlich so viele Leute amüsant, dass er als Schneider arbeitete? Oder lag es daran, dass er eben Kleider nähte? Zugegeben waren es vorwiegend die Männer, die seine Arbeit ‚ungewöhnlich‘ fanden. Aber auch von Frauen hatte er schon genug abschätzige Blicke geerntet. Vielleicht sollte er sich nicht wundern, dass er seinen Partnern früher oder später peinlich wurde. Wer wollte schon für den Mann an seiner Seite derartig belächelt werden?
„Helena ist meine Tante. Ihr gehört der Laden“, nuschelte er und sah zurück zu Marie – in der offensichtlich sinnlosen Hoffnung, dass sie sich vielleicht gerade jetzt endlich für etwas entscheiden würde.
„Ach so“, murmelte Maries Begleiter und schien kurz darauf zu einer geradezu bahnbrechenden Erkenntnis zu kommen. „Dann machen Sie das hier nur zur Aushilfe?“
Schlagartig war Rickys Puls auf hundertachtzig. Seit gut zwei Jahren fertigte er hier die Brautkleider an. Selbst wenn es am Anfang nur ein Übergangsjob gewesen war, inzwischen hatte er eine wahre Leidenschaft dafür entwickelt. Falls seine Tante jemals auf die Idee kommen sollte, den Laden zu schließen oder gar zu verkaufen, würde er sie vermutlich auf Knien anflehen, ihn für sie weiterführen zu können.
„Nein. Zufällig gefällt mir der Job“, knurrte er gereizt zurück nur, um sofort selbst zusammenzuzucken. Verdammt! E fing schon wieder an die Kontrolle über sein Mundwerk zu verlieren. Das war keine Art, mit den Kunden zu reden. „Entschuldigung“, flüsterte er deshalb verlegen und trat einen Schritt von dem Tisch zurück um Abstand zwischen sich und diesen Blödmann zu bringen.
Der schien davon aber nichts wissen zu wollen, denn plötzlich stand er auf und kam zu Ricky hinüber. Mit ausgestreckter Hand lächelte er weiter. „Mein Name ist André“, erklärte er ungefragt und sah ihm fest ins Gesicht. Hastig sah er zur Seite, um den unangenehm eindringlichen Augen zu entgehen. „Ich wollte Sie nicht beleidigen, Rick.“
Der rang sich ein eigenes Lächeln, ab das vermutlich so gequält wirkte, wie es sich anfühlte. „Ich bin nicht beleidigt.“
War er aber sehr wohl. Allerdings weniger von seinem Kunden, als vielmehr von der Tatsache an sich, dass seine Berufswahl für jeden, inklusive seiner Eltern, eine einzige Peinlichkeit zu sein schien. Um André zu entgehen, trat Ricky zur zukünftigen Braut hinüber. Besser, er versuchte sein Glück bei ihr.
„Haben Sie inzwischen eine Vorstellung davon, wie das Kleid sein soll?“
„Ach, ich weiß nicht“, antwortete Marie quengelnd wie ein Kind. „Etwas Langes. Aber sie sind alle so wunderschön!“ Geradezu verzweifelt drehte sie sich im Kreis und deutete schließlich auf zwei der Kleider. „Der Ausschnitt bei dem hier gefällt mir und es wirkt oben toll figurbetont. Aber es ist an den Beinen so kurz und eng. Ich finde, das hier fällt unten so schön weit und locker“, antwortete sie und stellte sich kritisch vor beide Modelle, um sie erneut anzustarren.
„Wir können sie gern kombinieren“, erklärte Ricky mit einem kurzen Schmunzeln. Immerhin verkauften sie hier keine Stangenware.
Ohne lange zu überlegen drehte er sich zu einem kleinen Stehtisch herum und begann sofort auf dem dort liegenden Block zu zeichnen. Mit einigen geschwungenen Strichen hatte er rasch eine flüchtige Skizze angefertigt, die beide Modelle kombinieren würde.
Aufgeregt trat Marie zu ihm hinüber. „Oh mein Gott, das ist ja wundervoll. Sie können aber toll zeichnen!“, quietschte sie begeistert. Ricky bemühte sich, weder ob ihrer Lautstärke noch der Äußerung an sich, irgendeine Regung zu zeigen. „André! Komm her und sieh dir das an!“
Der trat heran und blickte geradezu gelangweilt auf die Skizze, während er sich ein weiteres Plätzchen in den Mund schob. „Ja. Hübsch“, murmelte er und zuckte dann mit den Schultern.
Ricky musste sich auf die Zunge beißen, um über das so offensichtliche Desinteresse des Kerls keine abfällige Bemerkung zu machen. Immerhin ging es hier um das Hochzeitskleid seiner Zukünftigen. Da könnte er wenigstens so tun, als ob ihm das nicht am Arsch vorbeiging. Genau deshalb waren ihm die besten Freundinnen bei diesen Geschäften immer deutlich angenehmer. Angeblich brachte es ja sowieso Unglück, wenn der Mann seine Frau vor der Trauung in ihrem Kleid sah. Kerle wie der, sollten das besser bedenken und gleich daheimbleiben.
„Es soll auf jeden Fall leuchten. Glitzern. In allen möglichen Farben!“, fuhr Marie unbeeindruckt von der Äußerung ihres Begleiters fort. Wieder war da dieser verträumte, mädchenhafte Blick in ihren Augen. „Die Hochzeit wird sicherlich märchenhaft!“
Sofort malte Ricky mit kleinen, feinen Strichen einige Reflexionen auf seine Skizze und erklärte dabei: „Wir können Silberfäden einnähen, wenn Sie es wünschen, auch in bestimmten Mustern. Mit Glasperlen und einzelnen Pailletten sowie ein paar zusätzlichen Goldfäden lässt sich weiteres Licht einfangen. Die verschiedenen Materialien werden sie unterschiedlichen Lichtbrechungen führen.“
„Oh, das klingt toll!“ Aufgeregt klatschte Marie in die Hände. Für einen Augenblick fühlte Ricky sich in den Kindergarten zurückversetzt.
Offenbar war der Bräutigam deutlich genervter von dem übertriebenen Gehabe, denn er verdrehte die Augen und setzte sich dann zurück auf seinen Platz und nippte an dem inzwischen längst fertig gezogenen Tee. Den giftigen Seitenblick konnte Ricky sich nicht verkneifen. Glücklicherweise bemerkte der Kerl ihn nicht, da er viel zu beschäftigt war, sich weitere Plätzchen einzuverleiben.
Für eine Sekunde ertappte Ricky sich dabei, wie er André wünschte, er würde an den Dingern aufgehen wie ein Hefekloß. Allerdings würde das diesen geradezu perfekten Körper aus reiner Boshaftigkeit seinerseits ruinieren und das erschien ihm dann doch etwas zu gemein. Egal wie mies der Kerl rüberkam, für diesen Körper da hatte er garantiert so einiges getan. Und wenn er sich das mit Plätzchen ruinieren wollte ...
„Soll ich noch ein paar davon holen?“, fragte Ricky und grinste André hämisch an.
Der starrte kurz auf den Teller, stopfte sich dann aber tatsächlich etwas peinlich berührt das letzte in den Mund. „Passt schon“, murmelte er verlegen.
Also drehte sich Ricky wieder zu seiner Kundin, die den kurzen Schlagabtausch zwischen den beiden Männern offenbar nicht bemerkt hatte, sondern weiterhin in ihren Träumen verweilte. „Haben Sie schon eine Vorstellung, aus welchem Material das Kleid gefertigt sein soll?“, fragte er deshalb weiter, während er sich ein paar Notizen neben seine Skizze machte, was er schon alles für die Stickereien und Aufsätze brauchen würde.
„Stoff?“, murmelte Marie und zog den Mund kraus. „Keine Ahnung. Was hatte Sabine denn?“
Ricky beherrschte sich, um nicht breit zu grinsen. Darum ging es hier also. Offenbar war da ein Konkurrenzkampf im Gange. Selbst wenn Marie sich dessen tatsächlich nicht bewusst sein sollte – denn einen sonderlich eitlen Eindruck hatte sie auf ihn sicher nicht gemacht. Aber garantiert ging es hier darum, dass die Freundin ein teures Kleid gehabt hatte und sie jetzt ein mindestens genauso exklusives, nur bitte etwas deutlich glänzenderes und auffälligeres wollte.
Auf Maries fragenden Blick hin überlegte er kurz, dann antwortete er: „Sie hatte weißen Samt, soweit ich mich erinnere.“ Schon sah er, wie ihre Augen aufgingen, deshalb schüttelte Ricky rasch den Kopf. „Ich würde Ihnen allerdings davon abraten, den gleichen Stoff zu nehmen. Dieses Kleid war für eine Hochzeit im Februar. Insofern Sie nicht erst Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres heiraten wollen, wird Samt eventuell unangenehm warm werden.“
Unsicher huschte Maries Blick zu ihrem Begleiter. Aus dem Augenwinkel konnte Ricky sehen, wie der die Augen verdrehte und mit den Schultern zuckte. Sofort wandte Marie sich wieder an ihn selbst. Und mit einem Mal flehten diese haselnussbraunen Augen ihn förmlich um Beistand an.
Ricky lächelte und erhöhte das stumme Flehen. Manchmal war geistiges Händchenhalten schließlich auch Teil seiner Arbeitsbeschreibung: „Wenn Sie etwas Exklusives möchten, könnten wir Seide oder Satin verarbeiten. Das würde den Glanzeffekt zusätzlich unterstützen.“
„Oh, das klingt wundervoll!“, antwortete Marie sofort mit einem breiten Lächeln.
Schnell machte Ricky weitere Notizen auf seinem Zettel und überschlug im Kopf die Kosten. „Allerdings wird das nach Ihren bisherigen Wünschen sicherlich nicht billig werden“, erwähnte er nebenbei, ohne wirklich damit zu rechnen, dass das zu irgendwelchen Änderungen führen würde. Trotzdem wanderte sein Blick aus dem Augenwinkel zu Maries Begleiter. Der reagierte auf den Kommentar überhaupt nicht. Entweder der Kerl hatte Kohle ohne Ende oder er würde seiner Braut die Kosten erst zu Hause vorhalten.
„Oh, das macht gar nichts!“, rief da auch schon Marie und begann erneut die Standardkleider im Verkaufsraum in Augenschein zu nehmen. „Der Preis ist vollkommen egal!“
Rickys Augenbrauen schossen nach oben und ein weiteres Mal wanderte sein Blick zu André. Der war derweil desinteressiert im Sessel heruntergerutscht und starrte mit auf dem Bauch verschränkten Händen zur Decke. Gelangweilter hätte der Mann nicht aussehen können.
Dummerweise sah der Kerl so aber auch ebenfalls noch attraktiver aus, als eh schon. Durch den zurückgelegten Kopf kam das markante Gesicht sogar besser zur Geltung. Dazu das nun straff über die kräftige Brust gespannte Poloshirt. War das der Ansatz eines Sixpacks, der sich da unterhalb des Brustbeins abzeichnete? Scheiße, der Kerl war so was von Rickys Typ.
Hastig sah er wieder zu seiner Kundin. Die hatte eben metaphorisch mit ein paar Geldbündeln vor seiner Nase gewedelt. Und auch wenn Ricky selbst dank der quasi mietfreien Wohnung kaum Geld brauchte, lief dieser Laden nicht ohne die notwendigen Einnahmen. Eine Kundin, die damit tönte, dass der Preis egal sei, kam seiner Tante – und entsprechend auch ihm – gerade recht.
„Wir können Ihnen erst einmal ein paar Entwürfe zeichnen und einen groben Kostenvoranschlag vorbereiten. Sie müssten sich einige Stoffproben ansehen, um über Farbe und Material zu entscheiden“, mischte sich auch prompt Helena ein, als sie lächelnd den Verkaufsbereich betrat. „Wenn Sie vielleicht in ein paar Tagen noch einmal vorbeisehen würden, dann könnten wir alles durchgehen und Ihre Maße notieren.“
Marie nickte heftig und strahlte Helena förmlich an. Ihr Begleiter schien damit ebenso mehr als zufrieden, denn er sprang prompt auf und griff sich den Arm seiner Freundin.
„Perfekt! Das lässt sich doch super alles zusammen beim nächsten Mal klären?“, entgegnete er und schenkte Helena ein Lächeln, das ihr einen Rotschimmer auf die Wangen zauberte. „Ich bin sicher, Marie kann es kaum erwarten.“ Dann drehte er sich plötzlich zu Ricky und als Andrés Blick einmal von oben nach unten über seinen Körper wanderte, stahl sich ein deutlich breiteres Lächeln auf diese zu hübschen Lippen. „Ich freue mich definitiv darauf, Sie dann wiederzusehen.“
Wie erstarrt stand Ricky da und sah Sekunden später André zu, wie der Marie aus dem Laden zerrte und ins Auto verfrachtete. Erst als der Wagen aus seinem Sichtfeld verschwand, wagte er, wieder zu atmen. Dieser Mistkerl wusste nur zu gut, welche Reaktionen er auslöste! Aber Ricky wollte verdammt sein, wenn er den Blick nicht irgendwo auch genossen hätte. Dieser Hunger in den graublauen Augen war nicht zu übersehen gewesen. Nur zu gern wollte Ricky mit genau so einem Blick angesehen werden, bevor der große böse Wolf ihn verschlang.
Ein Grund, warum er nicht auf Kinder wie Tim stand. Die waren höchstens geil, manchmal notgeil, aber niemals derartig verheißungsvoll hungrig. Das Kribbeln, das in Rickys Bauch begonnen hatte, wanderte mit jeder Sekunde, die er auf die Ladentür starrte tiefer.
„Richard?“, riss ihn mit einem Mal Annabell aus den zunehmend jugendgefährdenden Gedanken.
„Was?“
„Alles in Ordnung?“
Schnell zwang Ricky sich ein Lächeln auf und sah zu den beiden Damen, die bereits anfingen Teller und Tassen aus dem Verkaufsraum zu bringen: „Na klar! Ich ... Werde die Entwürfe zeichnen. Wenn sie unterschreibt auf jeden Fall ein profitabler Auftrag. Egal, für welches Material sie sich entscheidet.“
„Zeig mal her, was du hast“, forderte ihn Helena auf und sofort trat er zu dem kleinen Stehtisch und legte den Block mit seinem ersten Entwurf darauf.
„Sie will ein Kleid, egal wie teuer. Hauptsache es glänzt ohne Ende und ist besser als das Kleid von Fräulein Uhlmann.“
Seine Tante nickte grinsend wissend und sah auf den Entwurf. „Das ist wirklich sehr hübsch, so wie immer, Rick“, meinte sie flüsternd und strich ihm dabei kurz wie einem kleinen Jungen über die strubbeligen Haare.
Er lächelte, dankbar für das Kompliment zurück. „Wenn sie tatsächlich die ganzen Stickereien, Perlen und Pailletten will, dann kannst du von mindesten hundert Arbeitsstunden ausgehen. Annabell wird mir zumindest beim Zuschnitt und Nähen helfen müssen. Da ist immer noch der Auftrag für Fräulein Baier, der bisher nicht fertig ist“, erklärte er hastig.
„Was meinst du, welches Material sollen wir ihr zuerst zeigen?“
Einen Moment lang überlegte Ricky, während er sich durch die Haare fuhr. „Ich würde zu Satin tendieren, zumindest im Oberstoff. Letztendlich auch eine Frage, wann sie tatsächlich heiraten will. Es klang nicht so, als ob es erst im Herbst sein würde.“
Zufrieden tätschelte sie Rickys Wange. „Du bist ein Schatz, mein Junge. Willst Du gleich ein paar Entwürfe zeichnen? Dann gib Annabell doch Bescheid, wo sie dir bei dem Kleid für Fräulein Baier helfen kann.“
Er grinste und nickte. Auch wenn die eigentliche Anfertigung der Brautkleider einen ganz eigenen Reiz hatte, fand er im Design eine der größten Freuden. Immerhin konnte Ricky dort nicht nur seiner Fantasie freien Lauf lassen, sondern durfte zusätzlich seinem heimlichen Hobby dem Zeichnen zur Gänze frönen.