Vier Tage später hatte Ricky fünf Entwürfe fertig und mit Annabell eine Reihe von Stoffen zusammengestellt, die zu allen davon passen würden. Als Marie in den Laden zurückkam, war er allerdings nicht da, sondern in Helenas Auftrag unterwegs, um ein paar Besorgungen für das Geschäft zu erledigen. Fast tat es ihm etwas leid, dass er den Modelverschnitt von zukünftigem Ehemann diesmal nicht treffen würde. Aber kaum war der Gedanke aufgekommen, schob er ihn schon beiseite.
War schließlich auch Unsinn. Nur weil der Kerl gut aussah, machte ihn das nicht zu einem erträglicheren Menschen. Um genau zu sein, führte der Mann sich doch die meiste Zeit auf wie ein Mistkerl. Zumindest schien er sich nicht für das Kleid seiner Verlobten zu interessieren. Die Tatsache, dass Ricky dafür sorgen sollte, eben das zu einem wahrgewordenen Traum zu machen, ließ das Desinteresse von André nur noch unangenehmer werden. Zugegeben kamen selten die zukünftigen Ehemänner mit in Helenas Laden, so dass er da wenig Vergleich hatte. Aber Ricky hatte immer angenommen, dass dem Bräutigam das Kleid seiner Angebeteten nicht am Arsch vorbeigehen würde.
Seufzend nähte er die nächste Perle an sein aktuelles Projekt für eine andere Kundin. Wenigstens für die Damen schien seine Arbeit wichtig zu sein. Und vielleicht war das so ein Männerding, das Ricky nicht verstand. Was an sich schon wieder reichlich bescheuert klang. Immerhin war er selbst ein Mann.
„Trottel“, schimpfte er kaum hörbar mit sich. Kein Wunder, wenn er den Kerlen, mit denen er ausging, irgendwann peinlich war. Manchmal schämte Ricky sich selbst für solche komischen Gedanken.
„Hier sind übrigens die Unterlagen mit den Maßen und allem anderen für Fräulein Clavier von heute Morgen“, unterbrach Annabell ihn plötzlich.
„Wer?“
„Marie.“
Er blinzelte kurz, dann wurde ihm klar, dass es um genau die Kundin ging, an deren Verlobten er eben noch gedacht hatte. Hastig nickte er und lächelte. „Danke, ich sehe es mir nachher an.“
Bis zum späteren Nachmittag fand er dafür zwar keine Zeit, dann war er aber endlich mit dem Kleid für die andere Kundin fertig. Mit einem kurzen Seufzen ließ er sich in genau den Sessel fallen, in dem vor wenigen Tagen noch André gesessen hatte. Gedankenverloren fuhr er sich bei der Erinnerung an den Anblick von unter zu eng anliegendem Stoff arbeitenden Brust und Bauchmuskeln über den eigenen – deutlich weniger trainierten Bauch. Er war sicherlich nicht dick, was er allerdings nur dem scheinbar täglichen Kampf gegen die Versuchung aus Tims Backstube verdanken dürfte.
Um den Gedanken loszuwerden, griff er zu den Unterlagen auf dem kleinen Tisch und blätterte durch die Seiten. Offenbar hatten Marie und ihr Begleiter sich diesmal für alle Eckdaten zu ihrem Kleid entschieden. Mit etwas gemischten Gefühlen nahm er zur Kenntnis, dass es ein recht eiliger Auftrag werden würde. Nur knapp über zwei Monate bis zur Hochzeit. Das war in der Tat nicht sonderlich viel. Entweder war die Feier ungewohnt spontan angesetzt worden oder Marie hatte sich sehr kurzfristig für ihren Laden und somit das Kleid entschieden. Anbetrachts der Tatsache, dass das junge Fräulein nicht gerade entscheidungsfreudig auf ihn gewirkt hatte, ging Rickys Vermutung in die letztere Richtung.
„Bekommst du das hin?“, fragte plötzlich seine Tante. Lächelnd sah er auf und zu ihr hinüber. Sie zog sich einen Stuhl heran und deutete auf die Unterlagen in seiner Hand. „Ich weiß, es ist nicht viel Zeit. Aber sie war begeistert von deinen Entwürfen und Geld scheint in der Tat nicht die Frage bei ihr zu sein.“
„Kein Problem“, murmelte Ricky und blätterte auf die nächste Seite, wo Maries Maße vermerkt waren.
Zufrieden stellte er fest, dass Annabell wie immer jedes Detail aufgeschrieben hatte, das er brauchen würde – und vermutlich noch ein paar mehr. Ihre so exakte Arbeitsweise, was das anging, war ihm allerdings schließlich schon bei diversen Aufträgen eine große Hilfe gewesen. Der größte Teil der Arbeit würde trotzdem seiner eigenen Phantasie und Fingerfertigkeit überlassen bleiben. Ricky lächelte, als er auf der Bestellseite kaum Details für das Kleid fand. Scheinbar schien Marie ihm in dieser Hinsicht tatsächlich freie Hand zu lassen und ihm zu vertrauen.
„Sie hatte diverse Wünsche“, entgegnete Helena allerdings.
Verwirrt runzelte er die Stirn. „Warum stehen sie dann nicht hier?“
Sie grinste und kicherte leise. „Ihr Begleiter war wieder dabei. Du weißt schon. Dieser Traummann, der kaum ein Wort gesagt hat, bei ihrem letzten Besuch.“ Wie er erst vor wenigen Minuten bemerkt hatte, konnte Ricky sich an den nur zu gut erinnern. „Er hat sie überredet dir, was das Kleid angeht, völlig freie Hand zu lassen.“
„Was?! Wieso das?“
Helenas Lächeln wurde breiter. „Er meinte, dass sie ständig nur von deinem so traumhaften ersten Entwurf schwärmen würde. Dann sollte sie dir halt vertrauen, dass du das mit etwas mehr nachdenken noch deutlich besser hinbekommst. Ihre kindischen Ideen würden sonst alles nur kaputtmachen.“
Für einen Moment wusste Ricky nicht, ob er sauer sein sollte über die mal wieder für einen Bräutigam viel zu harsch erscheinenden Worte. Oder ob es nicht womöglich angebracht wäre sich zu freuen. Immerhin war das wohl ein Kompliment. Wenigstens als solches gemeint. Vermutlich. Vielleicht. Je länger Ricky darüber nachdachte, desto unsicherer wurde er in dieser Hinsicht allerdings.
„Die beiden sind irgendwie merkwürdig“, murmelte er versonnen, ehe ihm klar wurde, dass er diesmal laut gedacht hatte.
„Was meinst Du, Rick?“
Er grinste schief und zuckte mit den Schultern. Vielleicht war das seine verquere Vorstellung davon, wie die große Liebe aussehen sollte. In Marie und ihrem André konnte er sie jedenfalls nicht erkennen.
„Rick?“
„Ich weiß nicht“, gab er schließlich zu. „Sie sahen nicht wirklich innig verliebt aus, oder?“
Helena zuckte ebenfalls mit den Schultern. „Manchen Menschen sieht man es weniger an, anderen mehr.“
Er verzog das Gesicht, denn genau genommen hatte er bei den beiden nicht die geringste Spur von Verliebtheit gesehen. Bei Marie vielleicht – allerdings auch nicht wirklich wenn sie mit André direkt gesprochen hatte. Womöglich wollte sie deshalb das schönste Kleid, das sie bekommen konnte. Damit sie wenigstens ihre Hochzeit in vollen Zügen genießen konnte.
Für einen Augenblick zuckte Ricky der Gedanke durch den Kopf, dass die Ehe ja womöglich arrangiert war und deshalb beide eigentlich kein Interesse daran hatten. Aber das war Unsinn. Sie lebten hier in einem freien Land, in dem Kinder hoffentlich nicht mehr zwangsverheiratet wurden. Zumal die zwei auch nicht gerade unreife Teenager gewesen waren. Die waren beide ungefähr in seinem Alter – Marie vermutlich etwas jünger als André.
„Apropos verliebt ...“, unterbrach seine Tante erneut Rickys Gedanken. „Deine Mutter hat mich schon wieder angerufen.“
Er stöhnte. „Bitte nicht.“
„Sie will wissen, wie es an der Enkelfront für sie aussieht.“
„Helena“, quengelte er, in dem sinnlosen Versuch dieses Gespräch irgendwie abwürgen zu können, bevor es an den Punkt kam, den er am wenigsten leiden konnte.
Die ließ aber nicht locker: „Komm schon Rick. Du bist doch ein hübscher junger Mann. Du kannst nicht jeden Abend hier bei mir im Laden verschwenden. Du solltest mehr ausgehen, so wie andere in deinem Alter. Dann lernst du bestimmt auch jemanden kennen.“
Er musste sich auf die Zunge beißen, um ihr nicht ins Gesicht zu sagen, dass er so vielleicht einen Mann kennenlernen würde, das aber naturgemäß sicher nicht zu den von seiner Mutter erhofften Enkeln führen würde. Jedenfalls nicht, so lange der Kerl keine geheime Familie mit zwei, drei Kindern aus einer früheren Beziehung hatte. Wobei der Anhang für Ricky eher ein Ausschlusskriterium darstellte, also fiel sogar diese Möglichkeit flach.
Irgendwann würde er seiner Mutter offen ins Gesicht sagen müssen, dass das nichts mehr werden würde. Aber bisher hatten seine subtilen Andeutungen keinen Erfolg gehabt. Und wenn Ricky ehrlich war, dann hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er seinen Eltern einigermaßen schonend beibringen sollte, dass ihr einziger Sohn mit Frauen so gar nichts anfangen konnte. Irgendwie hatte er immer gehofft, dass sie da von alleine draufkommen würden. Die Hoffnung musste er nach gut fünfundzwanzig Jahren aber wohl oder übel allmählich mal begraben. Die Angst, was danach passieren würde, saß ihm allerdings weiterhin im Nacken.
„Also“, ermunterte ihn seine Tante erneut und klopfte ihm dabei aufmunternd auf ein Knie. „Schluss für heute. Du wirst hier sonst noch versauern!“
Ricky grinste schief, nickte aber dennoch. „Ja, vielleicht hast du Recht.“
Auch wenn er ganz sicher nicht auf Frauensuche gehen würde, war Helenas Einwand nicht unberechtigt. Hier zu hocken würde ihm garantiert nicht den Traumprinzen schlechthin vor die Nase stellen. Die besuchten eben doch relativ selten ein Brautmodengeschäft.
Deshalb schlenderte Ricky ein paar Stunden später nach etwas zu Essen, einer Dusche und mit frischen Klamotten versehen die Straße entlang. In seinem Laden würde er Mister Right zwar nicht finden, aber schließlich gab es da diesen einen Ort, an der zumindest die theoretische Chance bestand. Er grinste und lachte leise. Mal sehen, ob sich heute wenigstens einer finden ließ, der Potenzial für eine Beziehung zeigte. Irgendwann musste er ja wieder diesen ersten Schritt wagen.
Entschlossen trat er durch die grüne Tür ins Rush-Inn und schlenderte zur Bar hinüber. Nach einem kurzen Blick auf die drei Herren, die von der anderen Seite aus die Kundschaft bedienten, entdeckte er auch schon Alex und winkte ihm grinsend zu. Die Sache mit dem Kuss hatte der vermutlich noch nicht vergessen, aber inzwischen schien er Ricky zumindest nicht mehr böse zu sein.
„Grüß dich, Rick“, sagte Alex, sobald er bei ihm war und schob auch schon ein Glas Bier über die Theke. „Heute alleine da?“
Er grinste, als er den suchenden Blick seines alten Freundes bemerkte. „Tim hält sich dank dir tapfer an seine Zusage.“
„War Anton letztens nicht dein Fall?“
Beinahe hätte Ricky sich verschluckt. Aber natürlich war Alex das Gespräch zwischen ihnen aufgefallen. Dem Kerl entging schließlich nichts, was in seiner Bar vorging. Und da sie sich, wenn man es genau nahm, schon seit lockeren zwanzig Jahren kannten, stand er womöglich noch mehr im Fokus von Alexander als jeder andere x-beliebige Gast.
„Nicht ... so richtig“, murmelte Ricky verlegen.
So ganz der Wahrheit entsprach das schließlich nicht. So rein optisch wäre Anton durchaus sein Fall gewesen und im Grunde genommen hatte der Mann ja auch einen echt netten Eindruck gemacht. Schnell nahm er einen Schluck von seinem Bier, um die Erinnerung daran zu verdrängen. Konnte doch nicht so schwer sein, jemanden zu finden, der nett war, freundlich, zuvorkommend und eben keinen Hochschulabschluss vorzuweisen hatte.
Alex hatte sein Zögern jedoch bemerkt und schüttelte lächelnd den Kopf. „Ach, Richard.“
„Nenn mich weiterhin so, und ich küss dich gleich noch mal. Aber diesmal richtig.“
So schnell war Alexander noch nie nach oben geschnellt. Mit einem breiten Grinsen hob er abwehrend die Hände. „Schon gut.“ Lachend beugte Alex sich dann wieder vor und klopfte Ricky über die Theke hinweg gegen den Oberarm. „Nimm’s nicht so schwer. Sieh dich um. Hier gibt es genug attraktive Männer.“
Vorsichtig schielte er über die Schulter und in der Tat war die Bar heute gut gefüllt. Lag vermutlich daran, dass Freitag war und da erfahrungsgemäß deutlich mehr Leute nach Gesellschaft für das Wochenende suchten. Zumindest drohte heute keine kurze Nacht, an deren Ende man am folgenden Morgen ins Büro hasten musste.
„Nimm was Stärkeres als Bier, um dich endlich mal wieder richtig vollaufen zu lassen. Such dir einen aus. Eine Nacht lang. Nur genießen, ohne nachzudenken. Und morgen früh schmeißt du ihn raus. Keine Verpflichtung. Keine Bindung. Keine Probleme.“
Für einen Moment starrte Ricky Alex mit großen Augen an. „Ernsthaft? Sowas von dir?! Dem Typen, der mit seinen nicht mal dreißig seit gefühlten vierzig Jahren mit dem gleichen Mädchen zusammen ist?“ Alex grinste und zuckte verlegen mit den Schultern. „Du weißt, dass das nicht mein Stil ist“, fuhr Ricky fort und nippte erneut an seinem Bier. „Ich hab die Nase voll von Zwischenlösungen.“
„Wie meinst du das?“
Schulterzuckend nahm Rick diesmal einen großen Schluck aus seinem Glas und drehte es dann zwischen seinen Fingern. „Weiß nicht.“ Und genau das war sein Problem. Denn im Grunde hatte Ricky keine Ahnung, was er wirklich wollte – außer dieser ominösen ‚Beziehung‘, die ausnahmsweise mal länger als ein paar Monate halten würde. Vielleicht tatsächlich einfach nur jemanden, dem er nicht peinlich war.
Da rief ein anderer Gast von der Seite nach Alex und der entschuldigte sich mit einem weiteren Lächeln bei Ricky. Er nickte lediglich kurz und beobachtete seinen alten Freund dann dabei, wie der zurück an seine Arbeit ging. Auch wenn es manchmal anders anmutete, war Alex immerhin hier um Drinks zu mixen und Bier auszuschenken – und nicht um den Therapeuten zu spielen.
Im hinteren Teil der Kneipe war Gelächter zu hören. Einen Moment lang, überlegte Ricky, sich umzudrehen und sich anzusehen, was dort los war. Immerhin war er mit der Absicht hergekommen, wenigstens einen guten Abend zu verbringen. Vielleicht sogar dem Rat seiner Tante zu folgen. Dem von Alex wohl eher weniger. Zumindest nicht heute. So verzweifelt und einsam war Ricky an diesem Abend definitiv nicht. Trotzdem blieb er sitzen und starrte lieber auf das Bier. Warum, wusste er selbst nicht.
„Hi. Rick, richtig?“, sprach ihn mit einem Mal jemand von der Seite an. Erschrocken zuckte er zusammen und sah dann zu der Stimme hinüber.
Schlagartig erstarrte er und wusste weder was er sagen, geschweige denn denken sollte. Das gut gelaunte Grinsen auf den Lippen des Mannes, tat sein Übriges, um Ricky weiter zu verunsichern. Was zum Teufel machte denn der Kerl hier?!
„André“, fuhr der mit einem sogar noch breiteren Grinsen fort, nachdem Ricky nicht sofort reagierte. Irritiert zuckte sein Blick kurz zur Seite und durch den Raum. Für eine Junggesellenparty war das hier wirklich nicht gerade der passende Ort. Zumindest nicht für die Art Hochzeit, die der Kerl da planen dürfte.
„Ja, ich weiß“, antwortete er irgendwann langsam. „Sie waren bei uns im Laden.“
„Genau! Kann ich dir einen Drink ausgeben?“, fuhr André noch immer lächelnd fort und sah ihn aus diesen graublauen Augen geradezu freudestrahlend an.
Abgesehen davon, dass Ricky die doch sehr persönliche Ansprache nicht so wirklich gefiel, wusste er mit dem Angebot noch viel weniger anzufangen. Wieder versuchte er, mit einem Blick durch den Raum rauszufinden, ob das hier irgendein verqueres Junggesellenabschiedsspiel unter Heteros war, das er schlichtweg nicht verstand. Aber es sah niemand her. Kein Getuschel. Keiner, der zu ihnen zeigte. Es wirkte nicht gerade so, als wäre dieser André eben zur ... Mutprobe geschickt worden.
Vielleicht wollte der Kerl ja nur höflich sein, weil er Ricky hier gesehen hatte. Immerhin kannten sie sich. Irgendwie. So ein bisschen jedenfalls. Okay, er wusste nicht mal den Nachnamen des Unterwäschemodelverschnitts, aber der versuchte hier ja wohl kaum zwei Monate vor seiner eigenen Hochzeit, einen Mann anzumachen.
„Na gut. Warum nicht“, murmelte er deshalb, schüttete den kläglichen Rest aus seinem Glas herunter und winkte Alex heran. Mit dem Daumen deutete er auf André und meinte dann: „Noch ein Bier, auf seine Rechnung.“
Der grinste Ricky kurz dämlich an, tauschte das leere Glas aber prompt aus. „Wohl bekomm’s!“
„Danke“, murmelte er etwas beschämt, weil Alex vermutlich annahm, dass er jetzt doch kurz davor war, dessen Ratschlag zu befolgen. Dabei lag genau das in Anbetracht seiner aktuellen Gesellschaft ferner als je zuvor an diesem Abend.
Erstaunlicherweise schien das André aber wenig zu stören: „Ich war schon kurz davor zu gehen, als ich dich gesehen hab. Und da wir uns ja irgendwie bereits kennen, dachte ich, da kann ich auch Hallo sagen.“
Ricky lächelte leicht. Also doch. Und auf eine merkwürdig verquere Art verständlich. Wahrscheinlich war André versehentlich hier gelandet und hatte nicht gerafft, dass das eine Schwulenbar war. Aber die Tatsache, dass er nicht gleich schreiend rausgerannt war, machte ihn andererseits wieder sympathisch. Und letztendlich konnte man hier ja ebenso wie alle anderen gut einen trinken, selbst wenn man an Frauen interessiert war und kurz davor stand zu heiraten.
Okay, der Gedanke kam Ricky dann doch wieder etwas merkwürdig vor, aber er lächelte trotzdem zurück. „Das ist nett von Ihnen.“
„Ach komm, warum so förmlich?“
Wieder war Ricky irritiert von der offenen Art dieses Mannes. Im Gegensatz zu seinem Besuch in ihrem Laden wirkte André an heute Abend deutlich entspannter und freundlicher. Nicht so zurückhaltend und reserviert. Als Kunde hatte Ricky diesen Kerl eher unangenehm empfunden. Aber das strahlende Zahnpastalächeln, das ihm im Augenblick entgegenschlug, erweckte mit einem Mal ganz andere Empfindungen in ihm.
Hastig drehte er sich zu seinem Bier und trank einen Schluck. Okay, der Mann sah verboten gut aus und selbst aus dem Augenwinkel konnte Ricky sehen, dass es da genug Interessenten hier im Raum gab, die nur zu gern den Platz mit ihm getauscht hätten. Weil die alle nicht die geringste Ahnung hatten, dass sie hier auf Granit beißen würden.
„Ich war mit Maria bei euch im Laden, um die Entwürfe anzusehen. Du kannst übrigens wirklich echt gut zeichnen“, fuhr André unbeeindruckt von Rickys Schweigen fort. Der errötete sofort und bedankte sich dann vorsichtig für das erneut unerwartete freundliche Kompliment.
↬ ✂ ↫
Zwei Stunden später saß Ricky noch immer an der Bar und André erstaunlicherweise ebenso. Um ehrlich zu sein, hatte Ersterer keine Ahnung, wieso. Also weniger warum der Mann neben ihm weiterhin dort saß, sondern weshalb er nicht längst gegangen war. Der einzige plausible Grund, der Ricky dafür einfiel, war, dass er sich zu seiner eigenen Überraschung tatsächlich hervorragend mit diesem Kerl verstanden hatte. Obwohl Ricky immer noch verdammt sicher war, dass André sich im Laden seiner Tante reichlich arschig verhalten hatte, stellte er hier im Rush-Inn eine wunderbare Unterhaltung dar.
Gut genug, dass Ricky für ein paar Sekundenbruchteile versucht gewesen war, die Tatsache zu bedauern, dass André, wie so viele gut aussehende Männer vor ihm, leider so gar nicht schwul war und in Kürze heiraten würde. Was Ricky dann aber prompt zu der Frage zurückgebracht hatte, wieso der Mann überhaupt hier war. Denn offenkundig war er ja nicht auf irgendeiner merkwürdigen Junggesellenfeier. Andernfalls hätte er die letzten Stunden hier mit einem quasi Fremden anstatt mit seinen Freunden verbracht.
„Sicher nicht“, murmelte Ricky gedankenverloren.
„Wie bitte?“
Überrascht zuckte er zusammen und schielte zu André, der ihn freundlich lächelnd und mit hell leuchtenden Augen ansah. Ah, verdammt! Es wäre definitiv besser, endlich den Rückzug anzutreten. Das hier brachte am Ende doch eh nichts, außer dämlichen Phantasien für die Nacht, die ihm seine Arbeit in den nächsten Wochen nicht leichter machen würden.
Das Piepen eines Handys riss ihn erneut aus seinen Gedanken. Als Ricky aufblickte, sah er André eins aus der Tasche holen. Sofort verzog er den Mund. „Entschuldige“, murmelte er etwas verlegen und steckte das Gerät wieder weg. „Ich muss leider los.“
Erst jetzt wurde Ricky klar, dass der Mann ja eine Zukünftige hatte, die vermutlich irgendwo zuhause auf ihn wartete. Heutzutage heiratete doch keiner mehr, ohne dass man nicht vorher schon zusammengewohnt hätte. Vielleicht war sie ja heute zum Junggesellinnenabschied gewesen und André deshalb unterwegs.
„Kein Problem“, gab Ricky lächelnd zurück und hob das Bierglas hoch – immerhin das dritte, das der Mann ihm ausgegeben hatte. Mal wieder auszugehen war in der Tat keine so schlechte Idee seiner Tante gewesen. Und tatsächlich musste er zugeben, dass die Gesellschaft erstaunlich angenehm gewesen war. „Danke für die Drinks.“
Sofort kehrte Andrés Lächeln zurück: „Gerne.“
Er bezahlte schnell bei Alex, wandte sich dann aber noch einmal Ricky zu. Der sah etwa verwundert auf. War das da ein Rotschimmer auf Andrés Wangen? Irritiert versuchte er im gedämpften Licht des Schankraumes genauer hinzusehen, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. Musste allerdings letztendlich vom Alkohol stammen.
„Es war echt nett, mit dir zu reden, Rick. Kann ich ... dich vielleicht noch mal ... einladen?“
„Was?“, keuchte er überrascht. Hatte er sich verhört? Nein, das war doch Unsinn. Der Kerl hatte nicht eben versucht, sich mit ihm zu verabreden. Da hatte er garantiert irgendwas missverstanden. Vier Bier waren dann wohl doch zu viel für ihn.
„Na ja, also eigentlich würde ich gern mal richtig mit dir treffen. Kino vielleicht? Vorher was essen?“, fuhr André unbeeindruckt fort und sah ihn erwartungsvoll an.
„Du willst mit mir ... ausgehen? Eine Verabredung?“, fragte Ricky erneut nach, denn irgendetwas bei diesen Worten musste er offensichtlich falsch verstanden haben. Als André weiterhin lächelnd nickte, flammte in Ricky etwas auf, das er so von sich selbst gar nicht kannt. Am liebsten hätte er dem Mistkerl eine runtergehauen, aber Alex hatte er in letzter Zeit schon genug Ärger gemacht, also riss Ricky sich zusammen und wandte sich lediglich wutschnaubend ab.
Nachdem er hastig in seinen Taschen nach einigen Geldscheinen gekramt hatte, knallte er eben die auf den Tresen und rief der Aushilfe vor ihm zu: „Zahlen! Das hier sollte reichen.“
„Was ist los?“, fragte André und wirkte ernsthaft verwirrt.
Ricky hingegen konnte nur noch den Knopf schütteln. Er hatte den Typ ja schon im Laden für einen Blödmann gehalten, aber das hier schlug dem Fass echt den Boden aus. Wahrscheinlich dachte der Mistkerl, dass er bei dem modelmäßigen Aussehen jeden abschleppen konnte. Aber Ricky hatte ganz sicher vor sich mit jemandem abzugeben, der so einfach mal über eine bestehende Beziehung hinweg sehen wollte. Erst recht nicht, wenn der Arsch vorhatte in den nächsten zwei Monaten zu heiraten. Auch noch eine Frau!
„Du musst dich ja nicht gleich entscheiden“, ignorierte André seine Abweisung jedoch geflissentlich und kam Ricky sogar nach, als der zur Garderobe ging und seine Jacke vom Haken zerrte. „Kann ich dich vielleicht anrufen oder so?“
Als Ricky abrupt auf dem Weg zur Tür stoppte, wäre André beinahe in ihn hineingelaufen. Erneut schnaubend drehte er sich um und funkelte seinen Verfolger mit all der Abscheu an, die er im Moment empfand.
„Ganz sicher nicht! Mit sowas wie dir will ich nichts zu tun haben!“, zischte er wütend.
„Wie bitte?! Du ... du weißt aber schon, wo du hier bist, oder?“
Ricky wäre angesichts dieser absoluten Unverfrorenheit beinahe die Kinnlade runtergefallen. Diesmal fiel ihm aber keine angemessene Entgegnung mehr ein. Also drehte er sich auf dem Absatz um und stürmte aus der Kneipe. Ganz sicher würde er sich nicht die Blöße geben, vor diesem Arschloch hier in aller Öffentlichkeit eine Szene zu machen.
„Unglaublich!“, fauchte Ricky wütend, während er die Straße entlang stapfte, um nachhause zu kommen. Glücklicherweise sah es so aus, als ob André wenigstens nicht auch noch auf die dämliche Idee kam, ihm nachzulaufen. Trotzdem beschleunigte Ricky seine Schritte. In dem Moment kam bereits der Bus um die Ecke, so dass er damit diesem Blödmann endgültig entkommen sein dürfte.
Hoffentlich tauchte Marie beim nächsten Termin alleine auf, sonst konnte er für nichts garantieren. Wenn er daran dachte, dass er in den kommenden Wochen ein Kleid anfertigen sollte, damit diese arme Frau den schönsten Tag ihres Lebens haben durfte, wurde ihm schlecht. Am liebsten würde er Marie von diesem Abend erzählen. Aber realistisch betrachtet ging ihn das nichts an. Und die große Liebe hatte er zwischen den beiden ja eh nicht gerade gespürt. Also wusste sie vielleicht, was André so an seinen Abenden trieb.
Der Gedanke ließ erneut Rickys Magen rumoren. So angewidert er von der Vorstellung war, dass André sich hinter Maries Rücken vergnügte, umso heftiger lagen die vergangenen Stunden in seinem Magen. Denn wenn Ricky ganz ehrlich war, hatte er sich viel zu gut mit diesem Mistkerl verstanden.