„Richard!“, schallte es durch den kleinen Laden seiner Tante und ließ ihn zusammenzucken. Aus dem Augenwinkel sah er sie mit verkniffenem Gesicht auf sich zu stampfen. „Was um alles in der Welt hast du deiner Mutter gesagt?!“
Seufzend drehte er sich zurück zu dem Brautjungfernkleid, an das er gerade letzte Hand anlegte. Wieso hatte er eigentlich damit gerechnet, dass seine Mutter nicht postwendend bei Helena anrufen und sich über ihren störrischen Sohn auslassen würde?
„Ich hab mit ihr telefoniert, so wie ihr beide es wolltet“, gab er stattdessen murrend zurück. War ja schließlich nicht so, als ob er hier nichts zu tun hätte. Das Kleid musste fertig werden, bevor die Brautjungfern zur letzten Anprobe aufschlugen. Dummerweise würde er sich mit dieser Ausrede vermutlich keine zehn Sekunden gegen Helena durchsetzen können.
„Du hast ihr gesagt, dass du niemals heiraten und auch keine Kinder willst“, fauchte die erbost zurück.
Mit einem tiefen Atemzug erhob Ricky sich und zupfte den Ärmel des Kleides zurecht, bevor er es innerlich für ‚fertig‘ erklärte. Alles andere wäre nur zu offensichtlich gelogen. Danach drehte er sich zu seiner Tante herum und seufzte: „Weil es nun einmal genau so ist, Helena.“
„Aber ...“, setzte sie an, bevor ihr Mund zuschnappte und sie ihn lediglich verkniffen ansah. „Ich kann ja verstehen, dass man als Mann in deinem Alter vielleicht noch keine Kinder will. Es wäre trotzdem schön, wenn du das Martina nicht unbedingt so direkt auf die Nase binden würdest.“
Ricky schüttelte ernst den Kopf. „In ein paar Minuten kommen die Brautjungfern für die letzte Anprobe“, murmelte er stattdessen. „Lass uns jetzt nicht darüber streiten. Bitte.“
Helena schnaubte, war allerdings professionell genug, um zu wissen, dass er vollkommen recht hatte. Also atmete sie einmal tief durch und wandte sich zu einer der Kleiderpuppen. „Diese hier?“, fragte sie sicherheitshalber nach.
Als Ricky nickte, schnappte sie sich eine der Puppen samt Kleid und stapfte damit in Richtung Umkleideraum, um dort alles vorzubereiten. Da Annabell sich bereits am Vortag krankgemeldet hatte, würden Helena heute den Damen persönlich beim Anziehen helfen müssen.
„Die sind traumhaft. Welche Hochzeit ist das?“, rief sie mit deutlich besserer Laune kurz darauf aus dem Umkleideraum zu ihm herüber.
„Clavier“, antwortete er zögerlich, denn der Name ließ noch immer ein unangenehmes Ziehen in Rickys Bauch zurück.
„Ist das Brautkleid auch schon fertig?“
„Nein“, meinte er nachdenklich. „Aber fast. Es fehlen nur einige Verzierungen.“
Irgendwo in Rickys Inneren melde sich zeitgleich eine kleine Stimme, die zögerlich fragte, ob André wohl mit Marie das Kleid persönlich abholte. Aber darauf konnte und wollte er nicht hoffen. Immerhin hatte er dem Mann abgesagt – und sich zwei Wochen lang nicht mehr bei ihm gemeldet. Vermutlich hielt André ihn sowieso für einen absoluten Vollidioten. Und er wäre damit auch noch im Recht.
Trotzdem kam Ricky nicht umhin, diese blöde Entscheidung immer öfter zu bedauern. Nachdem er auf Alexanders Wette am Vorabend tatsächlich eingegangen war, umso mehr. Zwar glaubte er nicht, dass sich irgendetwas an dem Ausgang ändern würde. Aber die Sicherheit, mit der Alex behauptet hatte, er könnte glücklich werden, wenn er André noch eine Chance gab, war beängstigend. Zumal ein stetig stärker werdender Teil von Ricky, steif und fest auf dem Standpunkt beharrte, dass er den Mann durchaus noch deutlich näher kennenlernen wollte.
„Deshalb ist er nicht gleich der Richtige“, murmelte Ricky und kratzte sich am Kopf. Denn genau genommen hatte sein alter Freund nicht wirklich gesagt, dass er mit André glücklich werden konnte. Vielmehr, dass er lediglich den Vorsatz aufgeben sollte, jeden Akademiker von vornherein auszuschließen. Das hieß ja aber noch lange nicht, dass er ausgerechnet nach ihnen suchen musste.
„Alles in Ordnung, Rick?“
Erschrocken zuckte er zusammen und sah zu seiner Tante. „Ja. Klar. Warum?“
„Du siehst ... bedrückt aus.“ Sie seufzte. „Es tut mir leid, dass ich so harsch war, Richard“, fügte sie versöhnlich hinzu. „Weder deine Mutter noch ich meinen es Böse, das weißt du. Oder?“
Hastig nickte er und zupfte erneut an dem Kleid vor ihm herum, bevor er es zusammen mit der Puppe in den Umkleideraum brachte. „Ich bin nicht bedrückt“, versicherte Ricky mit einem erzwungenen Lächeln, als er ihren besorgen Blick erneut auf sich spürte.
„Aber so doch auch nicht glücklich richtig?“
Er stockte, wagte allerdings nicht, sie anzusehen. „Nein“, wisperte er irgendwann verhalten. „Nicht ... wirklich.“
Helena seufzte und rieb ihm dann kurz über den Rücken. „Das wird schon, Rick“, flüsterte sie kaum hörbar – auch wenn er ziemlich sicher war, dass seine Tante keine Ahnung hatte, was genau ‚das‘ war. Trotzdem war es schön, sich wenigstens für eine Sekunde einreden zu können, dass sie ihn wirklich verstand. Denn letztendlich bräuchte er ja nur ehrlich zu ihr zu sein.
Schon öffnete Ricky den Mund, um etwas zu sagen, aber dann schloss er ihn doch wieder. Maries Brautjungfern konnten jeden Moment hier auftauchen. Es wäre ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um sich ausgerechnet jetzt vor Helena zu outen. Zumal er keine Vorstellung hatte, wie sie reagieren würde. Das Letzte, was er brauchen konnte, war mit dem Outing nicht nur einen Familienstreit auszulösen, sondern in der Folge auch noch seinen Job hier aufgeben zu müssen.
So war es beinahe ein Segen, als das Läuten der Glocke an ihrer Eingangstür, beide aus den Gedanken riss. „Auf in den Kampf“, flüsterte Helena mit einem leisen Lachen und strich ihm erneut aufmunternd über den Rücken.
Kaum, dass sie beide lächelnd in den Verkaufsraum trat, war Ricky klar, dass es genau das werden würde: ein Kampf. Kichern, Plappern und aufgeregte ‚oh’s und ‚ah’s, die von allen Seiten auf ihn ein zu preschen schienen. Es dauerte einen Moment, bis er sich gefasst und den spontanen Fluchtgedanken ganz weit in den Hinterkopf geschoben hatte.
„Ach, Sie müssen dieser fantastische Designer sein, von dem Marie so schwärmt!“, kam in diesem Moment auch schon die erste junge Dame – vermutlich im gleichen Alter wie die Braut – auf ihn zu. „Also, wenn ich irgendwann mal heirate, komme ich bestimmt auch hierher.“
„Als ob du jemals einen abbekommen würdest“, tönte es kühl von links.
„Du bist so ein Biest, Flavi!“
Ricky verdrehte die Augen und sah hilfesuchend zu Helena. „Na das kann ja heiter werden“, murmelte die, bevor sie sich mit einem weiteren Lächeln an die drei Damen wendete. „Es ist schön, dass Sie alle hier sind“, flötete sie mit vorgespielter guter Laune. Glücklicherweise schien das niemand außer Ricky zu bemerken. „Wenn Sie mir jetzt bitte in den Umkleideraum folgen würden, können wir direkt mit der Anprobe anfangen.“
Es war definitiv einer der Momente, in denen Ricky sehr zu schätzen wusste, dass er als Mann in diesem Raum nichts zu suchen hatte. Kichernd und glucksend verschwanden die Damen eine nach der anderen im Nachbarraum. Und selbst der verhaltene Kommentar, dass der ‚junge Mann‘, ihnen doch gern beim Umziehen helfen könnte, wurde von Helena salopp abgetan.
Lächelnd schüttelte er den Kopf und wandte sich in Richtung des Arbeitsraumes. Das Umziehen würde bei den drei aufgeregten Hühnern vermutlich eine Weile dauern. Und im Grunde brauchte seine Tante ihn nur, wenn etwas nicht passen sollte.
Er war schon fast am Durchgang, als ein weiteres Läuten ihn überrascht aufschauen ließ. Als er zur Eingangstür sah, erstarb das Lächeln auf Rickys Lippen jedoch sofort.
„Schade“, erklang es zurückhaltend vom Eingang. „Ich mag es lieber, wenn du fröhlich aussiehst.“
Besorgt sah Ricky zum Umkleideraum. Das hier war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um so ein Gespräch zu führen. „Was machst du hier?“
André zuckte jedoch nur mit den Schultern und trat näher. „Du hast dich nicht gemeldet und Maries Weiberparade brauchte einen Fahrer, damit sie nicht am Prosecco sparen müssen.“
Unsicher und nervös trat Ricky wieder einen Schritt zurück. Und nun? Zu seiner Wette mit Alex gehörte, dass er André eine Chance geben musste, wenn der eine wollte. Die Frage war also: Wollte er?
„Du hättest draußen auf sie warten können“, murmelte Rick verhalten.
André verdrehte kurz die Augen, dann kratzte er sich am Nacken, sah aber nicht zu ihm selbst hinüber. „Ich will keinen falschen Eindruck machen, Rick“, wisperte er nach einem kurzen Seitenblick in Richtung Umkleideraum.
„Und welcher wäre das?“
„Ich bin kein verrückter Stalker oder so“, bemerkte André und sah nun doch zu Ricky, der sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. „Mir lässt das keine Ruhe, also sag mir wenigstens, was ich falsch gemacht habe.“
Zögerlich schüttelte Ricky den Kopf. „Gar nichts.“
„Und warum die Abfuhr? Was soll das mit diesen ... ‚Welten‘, die angeblich zwischen und liegen?“
Er seufzte und sah nun seinerseits zum Umkleideraum. Wie lange würde es dauern, bis die Damen fertig waren? Das Letzte, was Ricky brauchen konnte, war Helena, die in dieses Gespräch hereinplatzte. Und dann war da ja auch noch seine Wette mit Alex ... Der würde freilich nie etwas von Andrés Besuch hier erfahren.
Für einen Moment überlegte Ricky ernsthaft, einfach gar nichts zu sagen. Aber er sah sich selbst als Ehrenmann und das hieß insbesondere, dass er bei einer Wette ganz sicher nicht betrügen würde. Mal davon abgesehen, dass André ehrlicherweise nach Rickys mieser Abfuhr eine Antwort mehr als verdient hatte.
„Okay“, flüsterte er leise. „Allerdings nicht hier. Du musst die Damen noch nach Hause bringen?“
André gab grinsend zurück: „Ach, die kann ich auch einfach vor Maries Haus auf dem Gehsteig auskippen. Wird keiner merken.“
Wieder zögerte Ricky, doch danach griff er in seine Hosentasche und zog einen Schlüsselbund heraus. „Hier.“
„Was ist das?“
Die Verwirrung hätte amüsant sein können, wenn Ricky selbst nicht gerade dabei wäre, sein Herz aufs Spiel zu setzen. Andererseits erforderte es einiges an Courage seitens André, sich hier nach der wenig eleganten Abfuhr erneut blickenzulassen. Das musste Ricky dem Mann tatsächlich mehr als zugutehalten.
„Mein Wohnungsschlüssel“, bemerkte er und sah noch einmal kurz in Richtung Umkleide. „Warte dort, wenn du sie ordnungsgemäß nach Hause gefahren hast.“
Das geradezu schüchterne Lächeln, das ihm entgegenschlug, ließ etwas in Rickys Bauch flattern. Nicht das Kribbeln der Vorfreude auf einen gelungenen Abend oder eine noch bessere Nacht, das er bereits mit André kennenlernen durfte. Aber er wagte es im Moment nicht, dem einen Namen zu geben.
„So besoffen sind sie noch nicht, die schaffen es schon irgendwie heim“, bemerkte André mit einem weiteren verschmitzten Grinsen.
Lächelnd schüttelte Ricky den Kopf, denn in gewisser Weise, war diese Hartnäckigkeit gerade in Anbetracht seines vorherigen Verhaltens, reichlich schmeichelhaft. Zu einer Antwort kam er jedoch nicht, denn in diesem Augenblick öffnete Helena die Tür zum Umkleideraum. Drei glücklich aussehenden Damen strömten prompt zurück in den Verkaufsraum. Scheinbar war die Anprobe gut gelaufen. Das bestätigte auch Helenas lächelndes Nicken, als sie für einen Moment den Kopf aus der Umkleide steckte.
„Stimmt es wirklich, dass Sie die Kleider entworfen haben?“, fragte eine der Damen und stürmte sofort auf ihn zu. Etwas verlegen lächelte Ricky und nickte. „Die sind ja so was von traumhaft! Am liebsten hätte ich meins gleich anbehalten!“
„André“, ertönte es dahinter kühl. „Wolltest du nicht im Wagen warten?“
„Wolltest du dir nicht endlich eine umgängliche Persönlichkeit zulegen, Flavia?“, giftete der ebenso kalt zurück.
Für einen Moment zuckte ihr Blick zwischen André und Ricky hin und her, dann huschte für einen Sekundenbruchteil ein Lächeln über ihre Lippen. Sie sagte allerdings nichts mehr, sondern zerrte stattdessen ihre protestierende Freundin am Arm hinter sich her.
„Na los, Mädels. Marie wartet auf einen Statusbericht.“ Als ihr ‚Fahrer‘ nicht sofort folgte, sah sie ihn hinterhältig grinsend über die Schulter hinweg an. „Und André wollte uns doch noch mit Prosecco versorgen.“
„Hexe“, zischte der kaum hörbar und schickte ihr danach ein mehr als falsches Lächeln entgegen. „Natürlich, Flavi!“
„Noch eine Schwester?“, fragte Ricky zögerlich nach.
„Nur im übertragenen Sinne. Maries Sandkastenfreundin.“ Ein kurzer Blick zu Rick, dann deutete André über die Schulter hinweg in Richtung Ausgang. Er hob die Hand mit dem Schlüsselbund und lächelte, während er ihm zuflüsterte: „Eine Stunde.“
Mit einer immer stärker werdenden Unruhe beobachte Ricky, wie André sich umdrehte und aus dem Laden verschwand. Trotzdem konnte er sich nicht abwenden. Am liebsten wäre er sofort nach oben gestürmt und hätte dort gewartet. Was ziemlich dämlich war. Denn zum einen hatte er gerade seinen einzigen Schlüssel weggegeben und zum anderen hatte André ja gemeint, es würde eine Stunde dauern.
„Richard?“, rief seine Tante in diesem Moment und erinnerte ihn daran, dass da noch eine dritte Sache war.
„Wie lief es, Helena?“, fragte er nach, auch wenn die Antwort sich ja bereits mehr als deutlich abgezeichnet hatte. Um ihr beim Wegräumen zu helfen, tat er ebenfalls in den Umkleideraum. Helena war bereits dabei, die Kleider wieder über den Puppen zu drapieren.
„Wunderbar“, erklärte sie lächelnd. „Passt alles hervorragend.“
„Dann lass uns hoffen, dass keine von ihnen plant, in den nächsten zwei Woche zuzunehmen“, bemerkte er mit einem kurzen Grinsen.
Helena lachte: „Oh, glaub mir, das werden sie garantiert nicht.“
„Wie kannst du da so sicher sein?“
Sie zuckte mit dem Kopf zurück und sah ihn geradezu entgeistert an. „Ich bitte dich! Es sind Frauen. Die werden vor so einem Ereignis eher Diät machen, als sich vollfuttern.“
Ricky grinste und nickte. So betrachtet, war ihr Einwand mehr als verständlich. „Dann kann ich das Hochzeitskleid fertigmachen? Oder brauchst du hier noch meine Hilfe?“
„Nein, das schaffe ich schon alleine. Danke Rick.“
Einen Moment zögerte er, bevor er sich erneut zu seiner Tante umdrehte und fragte: „Helena? Hast du ... etwas dagegen, wenn ich heute eher gehe?“
Überrascht sah sie auf und trat zu ihm herüber. „Sag bloß, du hast eine Verabredung?!“
„Nein, ich ... wollte nur ... mich mal ... ausruhen“, stammelte Rick verunsichert.
Sofort bereitete sich Enttäuschung auf ihrem Gesicht aus. „Ach, Richard ...“, jammerte sie betreten. „Geh wenigstens ab und zu mal aus, Junge. Ehrlich! Das kann ja keiner mit ansehen. Und klar kannst du eher gehen. Meine Güte, du arbeitest eh viel zu viel.“
„Okay“, murmelte er lediglich, in der Hoffnung, dass das Thema damit erledigt wäre.
Aber Helena trat breit lächelnd vor ihn hin und klopfte ihm wohlwollend gegen die Brust. „Ausgehen ist garantiert eine wunderbare Idee, Rick.“ Er lächelte leicht und für einen Moment wurde ihre Stimme ernst, als ihre Hand nach oben kam und sich an seine Wange legte. „Das Lächeln steht dir viel besser als die trübe Stimmung, mein Junge.“
Damit ließ sie ihn stehen und wieder einmal wusste Rick nicht, was er dazu sagen sollte. Hatte André nicht eben etwas ganz Ähnliches gesagt? Und seine Mutter ebenfalls, oder nicht? Stirnrunzelnd sah er Helena nach, als die im Lager verschwand – vermutlich um schon einmal Kisten zu suchen, in denen sie die Kleider verpacken würde. Da keine Änderungen notwendig waren, konnten sie zusammen mit dem Brautkleid die Tage ausgeliefert werden.
Der Gedanke erinnerte Ricky daran, dass eben jenes Kleid noch nicht fertig war und als Nächstes auf seiner Liste stand. Ganz zu schweigen davon, dass er mit dem Bruder der Braut in Kürze ein Gespräch würde führen müssen. Gedankenverloren lief Ricky zurück zum Arbeitsbereich und betrachtete das Kleid. Das meiste war in der Tat erledigt und die paar Handgriffe würde er in einer halben Stunde schaffen können.
Um auch wirklich rechtzeitig fertig zu sein, griff er schnell zu den notwendigen Utensilien und begann die letzten Akzente am Kleid anzubringen. Ein Lächeln stahl sich auf Rickys Lippen, als er sich vorstellte, wie sein Werk bei der Abendveranstaltung wirken würde. Marie war ganz bestimmt zufrieden, denn in seiner Vorstellung glitzerte und glänzte es dezent in allen möglichen Farben. Nicht aufdringlich oder schrill, stattdessen unauffällig und beiläufig. Kein ‚schau mich an‘, sondern ein ‚mich kann man nicht übersehen‘.
Helena kam in dem Moment, in dem er sich erhob, um noch einmal alles zu prüfen. „Wundervoll“, hauchte sie andächtig und stellte sich neben ihn.
Ricky grinste und legte ihr einen Arm um die Schultern. „Ich hoffe, es wird ihr gefallen.“
Sie tätschelte ihm kurz den Bauch und löste sich dann aus der Umarmung. „Rick, mein Junge. Du musst noch einiges über Frauen lernen, wenn du weiter hier arbeiten willst.“
Verwundert sah er sie an. „Wie meinst du das?“
Helena kicherte und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf das Brautkleid, während sie eine große Schachtel bereitlegte, in der sie es gleich verstauen würde. „Also wirklich, Richard. Eine Frau, der das Kleid nicht gefällt, hat nicht vor überhaupt jemals in einem zu heiraten.“ Einen Moment lang glitt ihr prüfender Blick erneut über sein Werk. „Wobei selbst die es vermutlich traumhaft finden – auch wenn sie es nie anziehen würden.“
Schmunzelnd schüttelte Ricky den Kopf. „Manchmal bist du unmöglich, Tante Helena.“
Da ließ sie von ihrer Arbeit ab und baute sich stattdessen mit ernstem Blick vor ihm auf. „Und du, mein Freund, bist für heute fertig.“
„Was?“
„Du wolltest doch eher Schluss machen. Also husch, husch. Ab nach Hause oder wo auch immer du wirklich hinwillst. Und morgen früh möchte ich dich mit einem strahlenden Lächeln hier wieder sehen.“
Als sie ihn daraufhin förmlich aus dem Laden warf, konnte Ricky nicht anders, als lachend zu protestieren. Helena ließ sich davon aber nicht beeindrucken und zog demonstrativ die Tür zu, nachdem sie ihm einen schönen Tag gewünscht hatte.
„Rick? Alles klar?“
Überrascht drehte er sich um und sah über die Straße. Dort stand Tim mit einer großen, scheinbar schwer gefüllten Kiste aus der Bäckerei seiner Eltern in den Händen.
„Ja, danke“, rief er noch immer lachend zurück.
Für einen Moment schien Tim dennoch zu zögern, aber dann lächelte er ebenfalls und trug die Kiste zu dem alten Passat seines Vaters, der neben dem Laden parkte. Neugierig geworden, überquerte Ricky die Straße und trat auf den Jungen zu. Bis André kam, würden vermutlich noch ein paar Minuten vergehen. Zumindest war bisher kein Wagen vor seiner eigenen Haustür zu sehen.
„Liefert ihr jetzt auch aus?“, fragte er verwundert und deutete auf die Kisten im Kofferraum.
Tim nickte. „Papa hat beschlossen, dass wir uns mal am Catering versuchen sollten. Also erst einmal nur kleine Sachen. Belegte Semmeln und so etwas.“
„Das klingt gut“, gab Ricky zurück. „Und du fährst es aus?“
Verlegen kratzte Tim sich am Kinn. „Ja, hab das auch alles vorbereitet“, antwortete er mit einem leichten Rotschimmer auf den Wangen und deutete auf die Kisten. „Ist zwar nicht unbedingt sonderlich aufregend, aber es ist einfach etwas anderes.“
„Klingt gut“, gab Ricky mit einem Lächeln zurück. Ein Moment des Zögerns, dann fragte er dennoch weiter: „Und wie geht es dir sonst so?“
Tim zuckte mit den Schultern, sah Ricky aber nicht an. „Wie immer.“ Schweigen, das zunehmend unangenehm wurde. Eben wollte er sich von Tim verabschieden, da setzte der noch einmal an. „Ich ... hab Ben getroffen.“
„Tatsächlich?“, hakte Ricky mit einem Lächeln nach. „Wie lief’s?“
Ein kurzes Grinsen huschte über Tims Lippen, dann war es auch schon wieder verschwunden. „War eher Zufall. Aber ... na ja, er hat gefragt, ob ich noch mal mit ihm ausgehe.“
„Und?“
Tim atmete erst einmal tief durch, dann antwortete er: „Ich hab zugesagt.“
„Gut!“, rutschte es Ricky raus, bevor er sich bremsen konnte. Von sich selbst enttäuscht verzog er das Gesicht „Du weißt, wie ich das meine, oder?“
Schmunzelnd zuckte Tim mit den Schultern. „Denke schon.“
Aus dem Augenwinkel sah Ricky weiter runter die Straße einen Mercedes halten. Als André ausstieg, sah der etwas verwundert zu ihnen beiden hinüber.
„Schicke Karre“, murmelte Tim und schlug die Heckklappe des Passats zu. Ricky konnte sich das Grinsen gerade noch verkneifen. „Seine?“
„Nein.“
„Hm.“
Die schlagartig veränderte Stimmung war nicht gerade angenehm, aber vermutlich konnte Ricky nach ihrer Wette und der damit verbundenen Abfuhr nichts anderes erwarten. Immerhin war es ein gutes Zeichen, wenn Tim sich wieder mit jemandem traf.
„Ich muss los“, murmelte der Junge und deutete kurz über die Straße, wo André sich langsam auf den Weg zum Nebeneingang für Rickys Wohnung machte. „Und du scheinst ja auch noch verabredet zu sein.“
Das Lächeln war vermutlich gequälter, als er beabsichtigt hatte, denn Tim runzelte postwendend die Stirn. „Mal sehen“, gab Ricky verhalten zurück. Er klopfte er Tim aufmunternd auf die Schulter. „Mach’s gut. Ja?“
„Klar doch“, entgegnete Tim mit einem Grinsen. „Wenn der Kerl dir Ärger macht, gibst du mir Bescheid, ja?“
Diesmal konnte Ricky das Lachen nicht zurückhalten. „Willst du ihn in dem Fall etwa vermöbeln?“
Mit einem weiteren Grinsen hob Tim den rechten Arm und spannte den beachtlichen Bizeps an. „Wenn du drauf bestehst, immer.“
Da schüttelte Ricky den Kopf. „Lieber nicht. Aber ich merke es mir.“
Tim nickte ihm erneut zu und verabschiedete sich danach endgültig, um die Ware auszufahren. Einen Moment lang sah Ricky dem alten Passat nach und fragte sich, ob es jemals wieder so einfach und locker zwischen ihnen werden würde, wie früher. Gleichzeitig war er sich nicht sicher, ob das wirklich so gut wäre. Denn ein nicht geringer Teil dieser Lockerheit hatte schließlich daraus resultiert, dass Tim in ihn verknallt gewesen war.
„Ein Freund von dir?“, murmelte André zurückhaltend, als Ricky irgendwann neben ihm im Hauseingang stand.
„Ich hoffe es“, antwortete er mit einem Grinsen. Denn obwohl er froh war, dass Tim scheinbar allmählich anfing, zu akzeptieren, dass zwischen ihnen nichts laufen würde, wäre es schade, sollte das zu einem dauerhaften Zerwürfnis führen.