Die Nacht als „kurz“ zu bezeichnen wäre angesichts der Tatsache, dass sie sicherlich zwei Stunden eher als üblich ins Bett gekommen waren, reichlich übertrieben. Andererseits war Ricky ein ausgesprochener Morgenmuffel. Jedenfalls, wenn kein Kleid im Laden darauf wartete, fertiggestellt zu werden. In den Fällen lag das Problem ja allerdings eher darin, überhaupt erst einmal einzuschlafen.
„Guten Morgen“, flüsterte es leise neben Rickys Ohr. Das dazugehörige weiche Kitzeln von deutlich zu langer Gesichtsbehaarung trug zusätzlich dazu bei, ihn aus seinem Schlaf zu reißen.
„Bin noch müde“, murmelte er verschlafen, ohne dabei die Augen zu öffnen.
„Hm“, brummte es erneut neben Rickys Ohr.
Kurz darauf wurde ihm unfairerweise die Decke entzogen, was ihn jedoch nur dazu brachte, sich – auf der Seite liegend – weiter zusammenzurollen. Mit solchen fiesen Methoden hatte Ricky während der Schulzeit genug Erfahrungen gesammelt. Seine Mutter war da deutlich energischer gewesen. Mit diesen Kinderspielchen konnte man ihn garantiert nicht locken. Und Schlaf war so viel schöner als aufzustehen. Zumal Ricky sicher war, dass er bis eben einen äußerst angenehmen Traum gehabt hatte. Einen, in dem André zwar eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hatte – allerdings nicht als Wecker, wie in dieser dämlichen Realität, die gerade dabei war, Ricky einzuholen.
Da war plötzlich ein ausgesprochen merkwürdiges Gefühl an seinem Steißbein, während gleichzeitig das T-Shirt in Richtung Nacken geschoben wurde. Und in der nächsten Millisekunde war Ricky hellwach, als sich ein Finger, scheinbar von allein, die Wirbelsäule entlang nach oben bewegte.
„Fuck!“, keuchte er und versuchte, dem verfluchten Kitzeln zu entkommen.
Eine weitere Sekunde später war das weiche Gefühl wieder an Rickys Wange. „Zeit genug wäre“, raunte André. Was sich dabei gleichzeitig gegen seinen Po drückte, führte zu einem weiteren unterdrückten Stöhnen.
Schon wanderte Andrés Hand über die Hüfte nach vorn und von dort wie immer absolut hemmungslos direkt in Rickys Unterhose. Als dann auch noch ein Daumen spielerisch über die sich bereits dem Bund entgegenstreckende Spitze glitt, war an Schlaf definitiv nicht mehr zu denken.
An Sex allerdings auch nicht. „Ich muss auf’s Klo“, wimmerte Ricky über sich selbst genervt und hoppelte unter Andrés lautem Lachen aus dem Bett.
Der böse Blick, den Ricky aufsetzte, als er kurz darauf wieder im Schlafzimmer erschien, brachte André erneut zum Lachen. Diesmal allerdings ihn selbst gleich mit. Um sich wenigstens ein Stück weit für die Unverschämtheit zu rächen, stürzte Ricky sich auf den Hausherren. Als schlanke und geschickte Finger in Andrés Seiten gebohrt wurden, lachte der umso heftiger. Und flehte kurz darauf um Vergebung – lautstark.
„Immerhin bist du wach“, keuchte André, während ihm gnädigerweise eine Pause gegönnt wurde.
Ricky konnte sich ein eigenes weiteres Lachen nicht verkneifen. Was ihm allerdings eine Sekunde später im Halse stecken blieb, als André seinen Kopf zu sich herunter zog, um ihn zu küssen. Kaum dass sich ihre Lippen berührten, schloss Ricky die Augen.
Das hier fühlte sich so verflucht selbstverständlich an. In Augenblicken wie diesem war es schwer, sich vorzustellen, dass es irgendwann einmal anders gewesen war. Und noch viel schmerzhafter, wenn er den trotz aller Bemühungen stetig auftauchenden Gedanken zuließ, dass es sich ebenso ändern konnte.
Aber wie immer schaffte André es in gefühlter Lichtgeschwindigkeit, dass dieser Gedanke sich dorthin verzog, wo er hingehörte. Sehr, sehr weg von wo auch immer Ricky sich gerade befand. Wobei es mitunter schwierig war, dieses ‚wo‘ zu definieren. Denn dafür reichte seine Hirnkapazität allzu oft schlicht nicht mehr aus.
Schon rollte André sie auf die Seite. Während seine Lippen sich inzwischen Rickys Halsansatz widmeten und dabei ein erneutes Kitzeln durch seinen Körper schickten. An seiner Hüfte tauchte eine Hand auf, schob das T-Shirt ein weiteres Mal nach oben. Tastete, kitzelte, streichelte, prüfte. Zu viele Dinge, als dass Rickys unterversorgtes Hirn sie hätte aufzählen können.
„Warte“, schaffte Ricky es, zwischen zwei Atemzügen zu schnaufen. „Wie spät ist es?“ Immerhin hatten sie einen Termin einzuhalten, den er sicher nicht auslassen wollte und André definitiv nicht verpassen sollte.
„Ist genug Zeit“, raunte der an Rickys Nacken.
Schon wieder war da Andrés Hand, die über Rickys Seite hinab wanderte, suchte und schließlich mit Druck gegen den gespannten Stoff seiner Unterhose strich.
Rickys Protest war halbherzig und vermutlich hörte man ihm das an. Aber er wollte sich nicht einfach geschlagen geben: „Dann hättest du mich ruhig auch noch schlafen lassen können.“
„Und das alles hier verschwenden?“
Dabei zog Andrés seine Hand zunächst zurück, nur um kurz darauf stattdessen seinen Schritt gegen Ricky zu pressen. Schon wieder dieses verräterische Stöhnen. Auch wenn er sich normalerweise lieber ausreichend Zeit in diesen Dingen ließ, war nicht zu leugnen, dass Ricky so vielleicht etwas entspannter an den Tag herangehen würde. Wobei es fraglich war, ob diese Entspannung bis zum Mittag halten würde, wenn sie hier verspätet losfahren würden und dann unter Zeitdruck gerieten. Andererseits brauchte André ja nur auf der Fahrt etwas mehr aufs Gaspedal zu treten und dann würden sie das schon schaffen.
„Ich war nie für Verschwendung“, murmelte Ricky kurz darauf, als seine eigene Hand ihren Weg in Andrés Unterhose fand.
Gleiches Recht für alle.
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„Irgendwann musst du mir sagen, wo du diese perfekt sitzenden Hemden herbekommst, Rick.“
Irritiert hielt er inne und starrte auf sein eigenes Spiegelbild. Aber egal, wie er die Worte mental hin und her drehte, sie wirkten immer gleich unsinnig. Also sah Rick nach links zu André, der gelassen am Türrahmen zum Schlafzimmer lehnte.
„Ernsthaft?“
Grinsend zuckte der mit den Schultern und trat ebenfalls ein. Er kam zu Rick hinüber und öffnete eine der Schranktüren. Mit einem eher wenig begeisterten Gesichtsausdruck zog er ein weißes Hemd aus dem Schrank und betrachtete es.
„Die sehen gegen deine alle total billig aus und ich bin ziemlich sicher, dass meine Mutter verflucht viel Geld dafür ausgegeben hat.“
Diesmal konnte Ricky nicht anders und lachte laut prustend los. Der überraschte Ausdruck von André tat sein Übriges, um das Lachen weiter anzufachen. Aber je länger es andauerte, desto mehr zeichnete sich auch bei dem ein Grinsen ab.
„Deine Mama kauft dir immer noch die Hemden? Ernsthaft?!“, presste Ricky schließlich unter weiterem glucksendem Lachen heraus.
„Hey!“
„Wie alt bist du?“
Kaum war die Frage raus, stockte Ricky. Tatsächlich hatte er keine Ahnung, wie alt André war. Das Lachen verstummte schlagartig. Mit der Hand vor dem Mund trat er einen Schritt zurück. In seinem Kopf rasten die Gedanken nur so dahin. Der Mann hatte studiert und war in der Facharztausbildung. Wie alt war man da? Ricky hatte keine Ahnung und bisher hatte ihn das genau wie so viele andere Dinge nicht wirklich interessiert. Mit einem Mal kam er sich reichlich schäbig vor. Was wusste er denn von André? Als er im Kopf die Liste durchging, kam sie ihm geradezu erschreckend kurz vor. Und diesen Mann wollte er auf die Hochzeit seiner Schwester begleiten. Wo er auf den Rest der Familie treffen würde. Als was? Was dachten die von ihm? Ricky Augen zuckten nach oben und trafen direkt auf Andrés. Was wusste dieser Mann über ihn?
„Sechsundzwanzig.“
„Was?“
André lächelte. „Ich bin sechsundzwanzig. Und du?“
„Fünf...undzwanzig.“
Ehe er sich versah, war Ricky in eine Umarmung gezogen. Kräftige Arme, die ihn an eine warme und breite Brust pressten. Und trotzdem war die Hand, die kurz darauf durch seine reichlich ungekämmten Haare fuhr sanft.
„Hör auf so viel zu denken“, flüsterte André ihm ins Ohr.
Ein zögerliches Lächeln wanderte über Rickys Lippen. Wie machte dieser Kerl das? Trotzdem nickte er einmal und schloss die Augen. Als er seine Hände hob, glitten diese sanft über ebenso warme Haut an Andrés Rücken. Ein Körper allmählich so vertraut, als würde er ihn deutlich länger kennen. Nicht nur diese lächerlichen paar Wochen.
Manchmal machte es Ricky zugegeben etwas Angst, wie schnell das hier lief. Und was er verpassen würde, wenn Alex ihn nicht zu dieser dämlichen Wette überredet hätte. Eine, die Ricky nur zu gern schon jetzt für beendet erklären würde. Denn im Augenblick wollte er nicht einmal darüber nachdenken, ob das hier in einem Jahr vorbei sein könnte.
„Also?“, fragte André plötzlich leise.
„Hm?“
„Deine Hemden. Woher hast du die?“
Wieder musste Ricky lachen, befreite sich aber jetzt doch aus der Umarmung und sah André mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Ist die Frage tatsächlich ernst gemeint?“ Der verwunderte Blick ließ Rickys Grinsen breiter werden.
Anstatt zu antworten, hob er lediglich seine rechte Hand und wackelte mit den Fingern. Aber André schien nicht sofort zu verstehen. Der Moment, als es ihm dann doch klar wurde, war ihm jedoch unverkennbar anzusehen. Aus weit aufgerissenen Augen starrte André ihn einen Augenblick an, bevor er ebenfalls lachte.
„Ich bin ein Idiot, oder?“
Ricky zuckte lächelnd mit den Schultern, lehnte sich dann vor und gab André einen kurzen Kuss. „Vielleicht schenke ich dir ja mal eins“, wisperte er leise, während er überlegte, wann eine gute Gelegenheit dafür sein könnte.
„Zehnter Januar.“
„Hm?“
„Mein Geburtstag.“
Schon wieder stand Ricky da wie angewurzelt und hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Es war Mai. Im Januar wären sie gut ein dreiviertel Jahr zusammen. Bei dem Gedanken machte sein Herz einen Sprung, über den er genauso wenig nachdenken wollte, wie über andere Sachen.
„Deiner?“, fragte André mit einem Grinsen, das zu einem weiteren Aussetzer in Rickys Herzfrequenz führte. Wenigstens war ein Arzt anwesend, falls das problematisch werden sollte.
„Zwölf...ter September“, nuschelte er irgendwann.
„Ah. Dann sind wir der gleiche Jahrgang“, meinte André weiterhin grinsend. Noch einmal beugte er sich vor und hauchte Ricky einen Kuss auf die Lippen. „Du siehst unglaublich verführerisch aus, wenn du keinen Plan hast, was du sagen sollst.“
Hastig schob Ricky ihn ein Stück von sich weg und trat ebenfalls einen Schritt zurück. „Wir sollten uns anziehen, sonst kommen wir zu spät“, grummelte er und ging zum Spiegel, um endlich die Krawatte zu binden.
André lachte leise, griff dann aber nach dem weißen Hemd. Während er etwas davon murmelte, dass Ricky der Anzug zwar sehr gut stand, er ihn trotzdem lieber ohne die Klamotten hier stehen sah, zog André das eigene Hemd endlich an. Mit einer fließenden Bewegung hatte Ricky derweil die Krawatte gebunden und zog sie zurecht. Zufrieden zog er den Hemdkragen runter und prüfte erneut, ob alles ordentlich saß. Auf dem Bett lagen eine Weste und das Sakko. Beides würde er allerdings erst anziehen, wenn sie am Ziel waren.
„Warum machst du den Galgen schon drum?“, fragte André offensichtlich verwirrt.
„Galgen? Echt jetzt? Das klingt eher wie sechs, nicht wie sechsundzwanzig“, gab er lachend zurück.
„Ich mag keine Anzüge“, nuschelte André. Wurde der Mann gerade rot? „Und die Dinger hier erst recht nicht.“
Ricky konnte nicht anders als ihn anzugrinsen. Statt zu antworten, griff er zu der Krawatte, die André in der Hand hielt. Ein gekonnt aussehender Schwung, und sie flog einmal um dessen Nacken herum. Ehe André reagieren konnte, hatte Ricky bereits einen losen Knoten gebunden. Keinen, den man tatsächlich in der Öffentlichkeit tragen konnte, aber es reichte, um einmal daran ziehen zu können, sodass André nach vorn stolperte und sich zu ihm herunterbeugen musste. Als ihre Nasenspitzen sich förmlich berührten, wurde Rickys Grinsen erneut breiter.
„Also ich finde sie ausgesprochen praktisch.“
Damit ließ Ricky die Krawatte los, drehte sich um und schnappte sich seine Sachen vom Bett. Der verdatterte und reichlich unbefriedigte Ausdruck auf Andrés Gesicht war extrem amüsant, aber diesmal riss Ricky sich zusammen und lachte nicht erneut laut auf. Das Grinsen auf seinen Lippen war garantiert bereits dreckig genug.
„Du bist ...“, murmelte André, schaffte es aber nicht, den Satz zu beenden, bevor Ricky das Zimmer verlassen hatte.
Im Flur hing er den Bügel mit Sakko und Weste an einen der Garderobenhaken. Danach begab er sich in die Küche, um endlich seinen Kaffee auszutrinken. Hunger hatte Ricky wie so oft morgens nicht wirklich, aber das Koffein war dringend notwendig. Als André fünf Minuten später ebenfalls in die Küche kam, konnte Ricky sich ein weiteres Grinsen nicht verkneifen.
„Wenn du irgendwas sagst, werde ich sauer“, murrte André gespielt beleidigt. Und dass er nicht wirklich wütend war, glaubte Ricky sicher zu wissen.
„Steht dir“, bemerkte er lediglich und nippte am Rest seines Kaffees.
„Bei dir steht mir so einiges“, murmelte André, während er sich der eigenen Tasse widmete. „Dann auf. Ich will nicht rasen müssen.“
Ricky nickte lediglich lächelnd. Als er hinter André in den Flur trat, drehte der sich plötzlich um und griff nach dem ordentlich gebundenen Knoten an Rickys Hals. Ein flüchtiger Kuss. Wie gebannt starrte er selbst auf Andrés Lippen, über die noch einmal die Spitze dessen Zunge leckte, als müsste er den Geschmack prüfen, den die Reste des Kaffees von eben garantiert hinterlassen hatten.
„In der Tat durchaus praktisch diese Dinger.“
Ricky grinste. Wie auch immer diese Feier tatsächlich laufen würde. Das Wochenende fing zumindest schon mal gut an.
„Hast du deine Sachen in meine Tasche umgepackt?“, fragte André noch einmal nach. Ricky nickte.
Da die Feier bis in die Nacht geplant war, hatten sie beschlossen, zusammen mit dem Rest der Gesellschaft in dem Hotel zu übernachten, das Marie sich für die Hochzeitsfeier ausgesucht hatte. Zwar hatte Ricky zunächst verhalten protestiert, aber die Rückfahrt in der Nacht wollte er André nicht antun. Trotzdem fühlte es sich merkwürdig an. Zumal sie zusammen in einem Zimmer schlafen würden.
„Hör auf so viel zu denken“, raunte André ihm in diesem Moment ins Ohr und ließ Ricky zusammenzucken.
„Woher ...?“, murmelte er verlegen.
„Deine Nase kräuselt sich, wenn du dir über irgendwas dieses hübsche Köpfchen zerbrichst.“
„Tut sie nicht!“, giftete Ricky zurück. Denn garantiert machte er keine merkwürdigen Gesichter, wenn er nachdachte. Und falls doch, dann wollte er das sicherlich nicht wissen. Das wäre schließlich noch peinlicher.
Statt zu antworten, schob André ihn in Richtung Wohnungstür. „Auf geht’s. Ich lass dich jetzt nicht mehr entkommen.“
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Etwas über eine Stunde später erreichten sie das Hotel, in dem die Abendveranstaltung stattfinden und sie übernachten würden. Als sie ausstiegen, konnte Ricky nur mit offenem Mund das kleine schlossähnliche Gebäude anstarren.
„Seid ihr eigentlich irgendwie ... reich?“, fragte er verhalten.
André trat um den Wagen herum und legte ihm die Hand über die Schulter. „Würde das einen Unterschied machen?“, flüsterte er Ricky ins Ohr, der prompt zusammenzuckte. Leise lachend gab André ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Ich denke nicht, aber das ist sicherlich Ansichtssache.“
„Hm“, antwortete Ricky skeptisch.
Wer heiratete denn bitte in einem Schloss wie dem hier, wenn er nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügte? Verstohlen schielte er zu seinem Begleiter. Allerdings hatte André nicht ganz unrecht. Einen wirklichen Unterschied machte es wohl tatsächlich nicht.
„Simon zahlt die Hochzeit. Deshalb gab es auch keine Einschränkungen, was deine Arbeit betrifft. Oder an irgendeinem anderen Punkt dieser Veranstaltung. Er hat Marie in allem absolut freie Hand gelassen.“
„Er ist damit wohl derjenige mit dem Geld?“
André zog grinsend die Augenbrauen hoch, dann beugte er sich erneut zu Rickys Ohr hinüber und flüsterte: „Er ist ein verliebter Trottel. Selbst wenn es ihn ins Armenhaus treibt, würde er jeden ihrer Wünsche erfüllen.“
Aus dem Augenwinkel bemerkte Ricky, wie sie jemand anstarrte. Verhalten löste er sich aus Andrés Umarmung. Um sich und seine Hände zu beschäftigen, trat er zum Fond des Wagens und holte Weste und Sakko heraus.
André tat es ihm gleich, nahm dabei auch die Reisetasche mit aus dem Wagen. Zusammen gingen sie schließlich zum Gebäude. Durch den Haupteingang erreichten sie das Foyer. Innen wirkte es deutlich moderner als von außen. Da sie pünktlich eingetroffen waren, blieb bis zur Trauung noch Zeit, um die Schlüssel für ihr Zimmer zu holen.
Allerdings hatte Ricky ständig das ungute Gefühl, als würde ihn jemand anstarren. Mit jeder verstreichenden Minute fühlte er sich unwohler. Immer stärker drängte sich in ihm die Frage auf, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, André zu begleiten. Und so stand Ricky zusammengesunken an die Fahrstuhlwand gelehnt, während sie zu ihrem Zimmer hinauffuhren.
Wahrscheinlich wäre es besser, wenn er zumindest für die eigentliche Trauung im Hotel bleiben würde. Das war schließlich eine reine Familienangelegenheit. Er konnte ja hinterher zur Feier dazustoßen. Da würde Marie ihr Kleid ja vermutlich auch tragen. Und letztendlich hatte André ihn nur deshalb eingeladen, damit er es sehen konnte.
Wieder riskierte Ricky einen verstohlenen Blick zu seinem Begleiter. Der sah ausgesprochen zufrieden aus. Ein leichtes Lächeln auf den Lippen, starrte André geradeaus und schien im Augenblick in die eigenen Gedanken versunken zu sein. Prompt fragte Ricky sich, was André wohl gerade dachte. Vermutlich nicht darüber nach, ob er die Trauung seiner Schwester schwänzen sollte.
Kaum hatten sie das Zimmer erreicht, schubste André ihn hinein und schloss die Tür hinter sich. Überrascht drehte Ricky sich um. Schon waren da wieder die inzwischen vertraut gewordenen Lippen auf den seinen. Eben diejenigen, die vor ein paar Minuten noch so zufrieden im Fahrstuhl gelächelt hatten.
Eine Hand wurde über Rickys Rücken hinab in Richtung Po geschoben und ließ ihn erstarren. Bekam der Mann eigentlich nie genug?!
„Besser?“, fragte André kaum hörbar, als er sich von Rickys Lippen löste.
„Hm?“
Ein verhaltenes Lachen und ein weiterer kurzer Kuss, dann richtete André sich auf, ließ ihn jedoch nicht aus der Umarmung entkommen. „Hör auf, dir über alles Gedanken zu machen, Rick.“
„Ich habe gar nicht ...“
„Hast du wohl“, unterbrach André ihn, diesmal mit einem deutlich lauteren Lachen. „Du machst dir ständig einen Kopf um diese Feier und was die anderen denken können.“
„Aber ...!“
„Nein!“, unterbrach André erneut, diesmal deutlich harscher. „Das ist die Hochzeit meiner kleinen Schwester. Du bist hier als der Designer ihres Kleides. Weil du auf diese Bezeichnung bestanden hast, wohlgemerkt. Denn ich wollte dich als meine Begleitung hier haben.“
Ricky senkte den Kopf. Seine Hände verkrampften sich in das Sakko und die Weste, die er weiterhin im Arm hielt.
„Hör auf, Rick.“
„Ich kann nicht“, presste er heraus. „Was, wenn deine Familie mich ... furchtbar findet?“
André grinste und zog ihn erneut zu sich heran. Leise flüsterte er ihm ins Ohr: „Als ob dich irgendwer jemals furchtbar finden könnte.“ Zwar verzog Ricky das Gesicht, da eben das an Andrés Brust verborgen war, konnte der das wenigstens nicht sehen. Trotzdem fuhr dieser fort: „Wenn es dich beruhigt, dann bin ich sicher, dass alle nur auf Simon, Marie und dein Kleid achten werden.“
Ricky zuckte zusammen. Er benahm sich vermutlich tatsächlich wie ein dummes Kind. Zumindest reichlich lächerlich. Immerhin war es seit Ewigkeiten Rickys Wunsch gewesen, einmal eines seiner Kleider an dessen ‚großen Tag‘ live sehen zu können. Langsam fuhr er mit der freien Hand über Andrés Brust hinab.
„Bist du sicher?“, fragte er vorsichtig.
André seufzte, wodurch Ricky sich noch dämlicher vorkam. „Ein Vorschlag ... wenn es dir irgendwann heute im Laufe des Tages zu unangenehm wird, gehen wir. Sofort. Ein Wort von dir und wir verschwinden.“
„Wie ... meinst du das?“
Die Arme um Rickys Schultern wurden fester gezogen. „Ich habe dich nicht eingeladen, damit du dich ... furchtbar fühlst, Rick. Also wenn du wirklich irgendwann gehen willst, kommen wir einfach hierher. Und falls das nicht reicht, fahr ich dich heute Nacht noch nach Hause.“
Für einen Moment hatte Ricky das Gefühl, als würde sein Herzschlag aussetzen. Das hier war Maries Hochzeit und André wollte sie mir nichts, dir nichts für ihn aufgeben. Weil er selbst sich wie ein naives Kind aufführte, anstatt wie ein erwachsener Mann.
Entschlossen streckte Ricky den Rücken durch und sah André fest in die Augen, als er entschieden antwortete: „Nein. Wir fahren sicherlich nicht vor morgen früh.“
Ein kurzes Grinsen zog an Andrés Mundwinkeln. Für einen Augenblick fragte Ricky sich, ob der ihn mit Absicht aufgestachelt hatte. Falls ja, würde er sich dafür entsprechend revanchieren. Vorerst würde er aber aufhören, sich wie eine Jungfrau zu zieren und sich endlich wie der Mittzwanziger benehmen, der er war.
„Können wir jetzt los?“, fragte André plötzlich mit einem weiteren unwiderstehlichen Lächeln.
„Los?“
Die Arme um Rickys Schultern lösten sich. Kurz darauf schubste ein Zeigefinger an der Stirn ihn ein Stück nach hinten, als André entgegnete: „Die Trauung ist in der Kapelle etwas weiter im Wald. Schon vergessen?“
Richtig, da war ja noch was gewesen. Obwohl Marie scheinbar lediglich standesamtlich heiratete, hatte sie als Ort für die Trauung die alte Kapelle, die zum Hotel gehörte dafür vorgesehen. Da diese so klein war, würde nur die engste Familie an der eigentlichen Zeremonie teilnehmen.
„Und fang jetzt bloß nicht schon wieder an, dass du jemandem den Platz wegnehmen würdest.“
Ricky lächelte und schüttelte den Kopf. „Dann lass uns gehen.“