„Welches Kleid ist als Nächstes dran?“, fragte Ricky lautstark, während er letzte Handgriffe an seine aktuelle Arbeit legte. „Das hier ist so gut wie fertig.“
Er hörte ein Blättern, dann rief ihm Annabell aus dem Hauptraum zu: „Fräulein Teskow.“ Kurz darauf stand sie neben ihm und deutete auf eine Kleiderpuppe an der gegenüberliegenden Wand. „Es ist so weit alles vorbereitet, du kannst direkt weitermachen. Deine Entwürfe sind in der Mappe auf Helenas Schreibtisch.“
„Danke“, murmelte Ricky, während er versuchte, sich auf die letzten Perlen zu konzentrieren. Trotzdem schielte er kurzzeitig in die angegebene Richtung. „Nur das Brautkleid?“, fragte er sicherheitshalber nach, da er lediglich ein vorbereitetes Kleid dort drüben sehen konnte.
„Ja. Ich bin mit den Brautjungfernkleidern für den Auftrag fast fertig. Wäre gut, wenn du zwischendurch kurz Zeit hast, um sie dir noch einmal anzuschauen. Dieses eine hier wirkt nicht ... ganz optimal“, meinte Annabel seufzend, während sie zu ihrem eigenen Arbeitsplatz zurückkehrte.
Da er mit dem Kleid vor ihm ohnehin fertig war, richtete Ricky sich auf und drückte die Hände in den Rücken. Wenn er den Job noch ein paar Jahrzehnte machen wollte, sollte er vielleicht auch etwas mehr Sport treiben, so wie André. Andernfalls würde sein Rücken früher oder später vermutlich den Geist aufgeben. Einen Moment schielte Ricky zu Annabell, die sich einen rollbaren Hocker herangezogen hatte und versuchte, ihre aktuelle Arbeit auf der Kleiderpuppe einigermaßen in Form zu bringen.
„Wir brauchen endlich ein paar Modelle, die nicht wie dürre Gerten aussehen“, murrte sie unzufrieden, weil die Puppe nur zu offensichtlich nicht mit den Dimensionen des Kleides mithalten konnte.
Ricky grinste, sagte jedoch nichts, was ihm trotzdem ein weiteres Schnauben von Annabell einbrachte. „Mal ehrlich. Wie viele von den Bräuten und Brautjungern, die hier hereinkommen tragen tatsächlich Kleidergröße zweiunddreißig?“
„Deshalb kommen sie ja zu uns“, flötete es in diesem Augenblick gut gelaunt vom Durchgang zum Verkaufsraum her.
„Hallo Tante Helena“, grüßte Ricky weiterhin grinsend und deutete auf Annabell. „Wir brauchen neue Puppen.“
„Ach Quatsch“, winkte die sofort ab und machte auf dem Absatz kehrt. Ein paar Sekunden später stand sie mit einem der Kissen von den Stühlen im Wartebereich zurück. „Das lässt sich improvisieren.“
„Bei Kleidergröße zweiundfünfzig kannst du mit dem Ding nichts ‚improvisieren’, wenn es anständig sitzen soll“, gab Annabell mit gerümpfter Nase in Richtung Helena zurück.
„Wir schneidern auf den Leib und nicht auf Puppen“, antwortete diese pikiert, warf das Kissen aber dennoch auf den kleinen Tisch neben dem Durchgang. „Dabei ist es vollkommen unerheblich, wie dieser Leib aussieht.“
„Es würde trotzdem helfen, wenn wir endlich mal eine Puppe für Übergrößen hätten. Das hier ist auf diesem Spindelgestell kaum vernünftig machbar. Und die Damen hat schließlich ebenfalls das recht hübsch auszusehen. Obwohl sie in diesem Fall nicht selbst die Braut ist.“
Ricky grinste zwar, hielt sich aber wohlweislich aus dem Schlagabtausch zwischen seiner Tante und Annabell heraus. Wenn er etwas in seiner Zeit hier im Laden gelernt hatte, war es, dass man sich besser nicht in diese Zankereien einmischte. Schon gar nicht sobald es um die Figur von Frauen, deren Gewicht, Alter oder Haarfarbe ging. Alles erfahrungsgemäß ausgesprochen heikle Themen, bei denen er als Mann offenbar kein Wort mitzureden hatte.
„Du meine Güte, bist du heute wieder zickig“, jammerte Helena betont genervt, grinste Annabell dabei jedoch herausfordernd an.
„Es gab schließlich auch noch kein Frühstück“, gab diese grummelnd zurück und wandte sich, nach einem strengen Seitenblick zu Ricky, wieder dem Kleid zu, an dem sie gerade arbeitete.
Das nahm er selbst entsprechend als Stichwort, um sich zu verziehen, und hielt seiner Tante die offene Hand hin. „Das Gleiche wie immer?“, fragte er mit einem Lachen auf den Lippen.
„Was sonst?“, meinte Helena und sah ihn an, als hätte er eben die dämlichste Frage der Welt gestellt.
Wahrscheinlich hatte er das auch.
Weiterhin grinsend wandte Ricky sich ab und schlenderte aus dem Laden. Aus Richtung der Bäckerei gegenüber war lautes Klingeln zu hören, als jemand die Tür aufstieß. Ein Junge stürmte heraus und rannte geradezu fluchtartig den Gehsteig entlang davon. Verwundert ging Ricky über die Straße und betrat die kleine Bäckerei. Sobald er sah, wer da ins einen Laden kam, drehte sich Tim hinter dem Ladentisch weg.
Die eben noch gute Stimmung war schlagartig verflogen. Irgendetwas war hier vorgefallen und das unschöne Grummeln in Rickys Magengegend behauptete, dass es nichts Gutes war. Unsicher sah er sich um, aber außer Tim war niemand hier. Auch aus dem hinteren Bereich der Bäckerei war kein Geräusch zu hören. Allerdings war das nicht ungewöhnlich. Inzwischen überließen Tims Eltern ihm den Laden immer öfter und die Stoßzeit am Morgen war längst vorbei.
„Was ist passiert?“, fragte Ricky zögerlich als er zum Tresen trat.
Tim zuckte lediglich mit den Schultern, drehte sich aber wenigstens um. Es war nicht zu übersehen, wie unwohl der Junge sich mit der plötzlichen Gesellschaft fühlte. Die Peinlichkeit stand ihm förmlich ins Gesicht gemeißelt.
„Das Gleiche wie immer?“, brummte Tim, während er bereits nach der Zange griff, um die belegten Semmeln für Tante Helena und Annabell einzupacken.
Vielleicht hoffte er schlichtweg, dass Ricky es aufs ich beruhigen lassen würde. Und wahrscheinlich hätte er genau das tun sollen. Aber ein unschönes Stechen in Rickys Brust drängte nach etwas ganz anderem.
„War das ...?“ Es dauerte ein paar Sekunden, bis Ricky der Name einfiel, den Tim ihm vor inzwischen mehr als zwei Monaten gesagt hatte. „Ben?“
Der Junge nickte. Er packte weiterhin die übliche Bestellung ein. „Wird nichts“, nuschelte Tim schließlich und schob die Tüte mit den Sandwiches über den Ladentisch.
„Tut mir leid“, antwortete Ricky zögerlich, nicht sicher, was er sonst sagen sollte.
Das unangenehme Ziehen in seinem Bauch wurde stärker. Eben hatte Ricky sich noch super und beschwingt gefühlt, jetzt lag seine Laune zusammen mit einem scheinbar gebrochenen Herz am Boden. Obwohl es Blödsinn war, fühlte Ricky sich ein Stück weit dafür verantwortlich. Er hatte Tim schließlich geraten, diesem Ben noch eine Chance zu geben. Als ihn Sekunden später leuchtend grüne Augen treudoof anstrahlten, konnte Ricky lediglich hoffen, dass jetzt nicht gleich die Frage kommen würde, die er befürchtete.
„Gehst du heute Abend mit mir ins Rush-Inn? Ich ... kann Gesellschaft brauchen.“
Vergeblich gehofft. Ricky seufzte und rieb sich über den Nacken. Selbst wenn er mit André nicht gerade auf Wolke Sieben schweben würde, wäre Tim definitiv nicht der Richtige. Ihr Versuch zu einem Date vor zwei Monaten hatte das doch recht deutlich gezeigt. Zu jung, zu unerfahren, zu „was-auch-immer“. Jedenfalls nicht genug von dem, was Ricky in André gerade gefunden hatte.
„Tut mir leid Tim. Aber wir hatten doch geklärt, dass das zwischen uns keine Zukunft hat.“
Der Junge verzog den Mund und zuckte mit den Schultern. „Also läuft es mit deinem Mercedes-Bonzen?“
Das kurze Lächeln konnte Ricky sich bei dem geradezu bockigen Tonfall nicht verkneifen. „Ist immer noch nicht sein Wagen und André ist auch kein ... ‚Bonze‘.“
Wieder zuckte Tim mit den Schultern, antwortete jedoch nicht.
„Ja“, fügte Ricky deshalb verhalten hinzu. „Ja, es läuft. Und das wird es bei dir auch irgendwann. Aber selbst wenn André schon Geschichte wäre, wird da zwischen uns weiterhin nichts sein.“
Ein erneutes schweigendes Schulterzucken. Allmählich kam Ricky sich reichlich blöd vor. Dabei hatte er gehofft, dass Tim es nach diesem desaströsen Abend vor ein paar Monaten verstanden hatte.
„Dann begleite mich halt so ins Rush-Inn und hilf mir, ein Date zu finden“, forderte Tim ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und einem anzüglichen Grinsen auf den Lippen heraus.
„Heute hab ich schon was vor“, winkte Ricky mit einem leichten Lächeln ab. „Außerdem bin ich sonst am Ende schuld, falls es doch nicht funktioniert.“
„Sowieso!“, erwiderte Tim mit einem immer breiter werdenden Grinsen. „Richtig! Wenn du mich nicht abserviert hättest, hätte ich Ben keine Chance gegeben und jetzt nicht mit ihm Schluss machen müssen. Im Grunde deine Schuld. Gib mir ein Bier aus und wir sind quit.“
Ricky fuhr zusammen, als ihm die volle Tragweite der Worte klar wurde. „Das da unten auf dem Boden ist also gar nicht dein Herz, sondern das von dem armen Ben.“
„Ups.“
Die Leichtigkeit, mit der Tim die Sache abtat, schnitt Ricky erneut in den Magen. So kannte er den Jungen nicht. Die Vorstellung, dass er Tim mit seiner Abfuhr verdorben haben könnte, behagte Ricky gar nicht. Da half es auch nicht, sich einzureden, dass der Kleine schließlich gar nicht mehr so ‚klein‘ war. Er war achtzehn, erwachsen, hatte einen Job, war mit der Ausbildung in absehbarer Zeit fertig. Tim war für sein Leben selbst verantwortlich. Trotzdem kam Ricky nicht umhin, sich zu fragen, ob er am Ende nicht doch tatsächlich an dem hier Mitschuld trug.
„Dabei warst du so ein netter, unschuldiger Junge“, gab Ricky seufzend zurück und legte das Geld für seinen Einkauf auf den Tresen.
Tim beugte sich vor und da war schon wieder dieses verschmitzte Grinsen, das durchaus eine unbestreitbare Attraktivität besaß. Aber es wirkte falsch und aufgesetzt. Es passte nicht zu dem netten Jungen, den Ricky vor all diesen Jahren hier kennengelernt hatte. Vielleicht war das der Grund, warum Tims nächste Worte ihn erst recht mitten ins Herz stießen.
„Jemandem eine Abfuhr zu erteilen ist halt deutlich angenehmer als eine zu kassieren.“
In Rickys Bauch zwickte inzwischen nicht mehr, sondern tobte stattdessen ein Flächenbrand. Wütend griff er nach der Tüte mit seinen Einkäufen und zerrte sie vom Tresen.
„Meinst du, das ist eine gute Art an eine Beziehung ranzugehen?“
„Ach komm schon, das war doch nur ein Witz“, gab Tim lachend zurück.
Ricky schüttelte erneut den Kopf. „Nein, war es nicht. Wenn du meinst rumlaufen und absichtlich Herzen brechen zu müssen, ist das deine miese Entscheidung. Das habe ich sicherlich nicht gemeint als ich sagte, dass du eigene Erfahrungen suchen solltest. Und das weißt du auch.“
Tim seufzte und fuhr sich durch die kurz rasierten, blonden Haare. „So habe ich das nicht gemeint. Aber ... Ist doch besser selbst Schluss zu machen, bevor es jemand anderes tut. Oder nicht?“
Das verfluchte Ziehen in Rickys Eingeweiden war noch immer da. Was sollte er darauf sagen? Vielleicht wäre es klüger für heute zu verschwinden – bevor er das Falsche sagte. Er war schon dabei sich umzudrehen, als Ricky erneut zögerte. So sollte er dieses Gespräch nicht enden lassen.
„Tim ... Falls es schlichtweg nicht funktioniert, ist das eine Sache. Aber wenn du deine Beziehung nur aus einer Laune heraus oder ohne etwas dafür zu tun beendest, wirst du nie wissen, was du womöglich am Ende verspielt hast“, sagte Ricky schließlich.
Zwar war das Brennen im Magen nicht mehr so heftig, aber ein flaues Gefühl gärte weiterhin dort. Vor ein paar Monaten hätte er diese Worte wohl nicht ausgesprochen. Lieber fliehen, bevor man verletzt wird. Hatte Ricky das nicht selbst auch immer gedacht, so gelebt und gehandelt? Diese verfluchte Unsicherheit, die den Fluchtgedanken auslöste, bevor er dazu gekommen war, darüber nachzudenken, was überhaupt falschgelaufen war.
Ricky wollte das nicht mehr – nicht die Angst oder permanente Sorge. Er wollte vertrauen. In sich, in André und das, was da zwischen ihnen entstanden war. Und beständig weiter wuchs. Wenn er beim kleinsten Hindernis sofort davonlief, würde er nie wissen, ob es nicht am Ende doch funktioniert hätte.
Ricky lächelte Tim an. „Einfach aufgeben, ist feige.“
Tim runzelte die Stirn. „Und wenn es nun einmal nicht passt?“
Ein weiteres Mal zuckte Ricky mit den Schultern. „Manchmal tut es das eben nicht und dann sollte man getrennte Wege gehen. Aber wenn du von vornherein damit rechnest, dass es nicht funktionieren kann, wird es das auch nicht.“
Mit einem Nicken wischte Tim nachdenklich über den Tresen, antwortete jedoch nicht.
„Bis zum nächsten Mal.“
„Mach’s gut, Rick.“
Da ihr Gespräch damit offensichtlich beendet war, wandte Ricky sich ab und lief über die Straße zurück zum Laden seiner Tante. Die beiden Damen hatten lange genug auf ihr Frühstück gewartet. Hoffentlich hatten sie sich bei ihrer aktuellen Stimmung nicht direkt zerfleischt, weil er nicht rechtzeitig zurück war.
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Tatsächlich hatten Helena und Annabell es geschafft, sich nicht gegenseitig umzubringen. Und so konnte Ricky den Rest seines Arbeitstages damit verbringen, den Feinschliff an das eine oder andere Kleid zu setzen. Nachdem die Damen etwas zu Essen bekommen hatten, waren die beiden deutlich umgänglicher gewesen.
Am späteren Nachmittag war Ricky endlich fertig und werkelte inzwischen in seiner Küche weiter. André würde jeden Moment vorbeikommen. Ein gemütlicher Abend vor dem Fernseher, der hoffentlich danach im Schlafzimmer eine Fortsetzung finden würde. Manchmal wirkte es lächerlich ‚normal‘, dass sie so schnell zum Alltag übergegangen waren. Aber es fühlte sich richtig an – jedenfalls für Ricky.
Mit einem Mal klingelte das Festnetztelefon und riss ihn nicht nur aus seinen Gedanken, sondern störte auch gewaltig den Zeitplan für das Essen. Schnaubend rieb er sich die Hände an einem Handtuch ab und drehte den Herd runter. André würde es hoffentlich nicht sein, der würde sich auf dem Handy melden. Ein Blick auf die Rufnummernanzeige hätte Ricky fast dazu gebracht, gar nicht erst ranzugehen. Aber das würde erfahrungsgemäß zu weiteren Problemen führen.
„Hallo Mama“, sagte er deshalb um gute Laune bemüht.
„Ricky Schatz!“, quietsche sie auch sofort zurück. Der Ton klang merkwürdig, aber nicht im positiven Sinne. „Wie geht es dir denn, mein Junge?“
„Gut.“
„Nur gut?“
Ricky runzelte misstrauisch die Stirn. Das klang gewaltig danach, als ob Helena geplaudert hatte. Über Dinge, die er nicht ansprechen wollte und von denen vor allem seine Tante keine wirkliche Ahnung hatte.
„Es geht mir gut, Mama“, antwortete Ricky erneut, darum bemüht die Stimme neutral zu halten.
„Helena meinte, dass du ausgesprochen glücklich wirkst in letzter Zeit.“
„Aha.“
„Du könntest mich ruhig ab und zu mal anrufen und mir das selbst erzählen, Richard“, murrte sie gespielt beleidigt.
In seinem Bauch begann es bereits zu rumoren. Das wäre jetzt die Gelegenheit endlich mit ein paar Wahrheiten herauszurücken. Früher oder später würde sie es schließlich erfahren müssen.
„Mama ...“, setzt er an.
„Ja?“, tönte es sofort hoffnungsvoll zurück.
„Ich hab keine Freundin“, presste Ricky heraus und kniff gleichzeitig die Augen zu. Der Moment wäre perfekt – einfach damit rausplatzen: ‚Ich habe einen Freund, Mama. Es ist ein Mann, mit dem ich zusammen bin.‘
Aber Ricky brachte die Worte nicht über die Lippen. Egal wie sehr er sich zwingen wollte, es ging einfach nicht. Dabei hätte er nicht einmal sagen können warum. Sie hatte doch nie den Eindruck gemacht, als würde sie ein Problem mit Homosexualität haben – sein Vater genauso wenig. Und trotzdem hatte Ricky es nie geschafft, es auszusprechen. Dabei würde sie ihn sicherlich nicht direkt verstoßen. Würde sie nicht. Bestimmt nicht. Wahrscheinlich.
Oder doch?
„Oh“, tönte es bereits enttäuscht aus dem Telefon.
„Mama ... ich ...“, stammelte Ricky, in dem verzweifelten Versuch, die Worte vielleicht doch noch irgendwie herauszubekommen. „Ich bin ...“
„Was ist denn los?“
Diesmal klang sie eher besorgt als enttäuscht. Und das Tempo, in dem er hier die Worte heraus brachte, war auch nicht gerade hilfreich. Auf diese Weise wäre der Reis bald verkocht und das Essen am Ende ungenießbar. Ganz davon abgesehen, dass André jeden Moment hier auftauchen würde.
„Reicht es nicht, wenn ich mit meinem Leben, so wie es ist, glücklich bin, Mama?“, flüsterte Ricky kaum hörbar.
Ihre Stimme klang merkwürdig, aber er war sich nicht sicher, was da mitschwang: „Natürlich reicht das, mein Junge.“ Ihr anschließendes Seufzen war absichtlich nicht zu überhören. „Es wäre nur schön, wenn ich ein bisschen mit dir glücklich sein dürfte, Richard.“
Er zuckte kurz zusammen. „Ich ...“
„Melde dich wenigstens ab und zu mal, Schatz.“
Ehe er antworten konnte, hatte sie aufgelegt. Verwundert starrte Ricky auf das Handteil. Nicht sicher, ob sie sauer, enttäuscht oder am Ende womöglich beides war, stellte er das Telefon zurück auf die Ladestation. Irgendwie musste er ihr endlich die Wahrheit sagen. Ricky hatte es doch nur nie ausgesprochen. Versteckt hatte er sich allerdings genauso wenig. Tim wusste, dass er schwul war, bei dessen Eltern war Ricky sich nicht sicher, wie viel sie mitbekommen hatten. Oder was Tim ihnen erzählt hatte. Erstaunlich genug, dass es bisher nicht bis zu Helena durchgedrungen war. Sobald die es wusste, wäre seine Mutter ebenso informiert.
‚Vielleicht wissen sie es längst‘, versuchte Ricky sich selbst einzureden.
Wenn dem so war, warum nervte seine Mutter ihn dann aber noch immer mit Kindern und Hochzeit? In seiner Zukunft konnte Ricky keines von beiden sehen – jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Heiraten vielleicht. Irgendwann. Beschämt senkte er den Kopf. Das war nun wirklich kein Thema, über das man nach zwei Monaten nachdenken sollte.
Das Klingeln an der Wohnungstür ersparte ihm weitere Grübelei. Sofort stahl sich ein Lächeln auf Rickys Lippen und die düsteren Gedanken verschwanden dorthin, wo sie hingehörten – so weit in den Hinterkopf, wie möglich. Wegen seiner Mutter würde Ricky sich später etwas einfallen lassen. Erst einmal hatte er einen Gast mit Essen und ein paar Streicheleinheiten zu versorgen. Wobei Ricky sich Letzteres im Moment lieber selbst abgeholt hätte.
„Hallo!“, begrüßte er André lächelnd.
„Guten Tag gehabt?“, fragte der mit einem eigenen, strahlenden Lächeln, kaum dass er Ricky einen kurzen Kuss auf die Lippen gehaucht hatte.
„Jetzt wo du da bist, wird er noch besser“, gab Ricky mit einem verschmitzten Grinsen zurück.
Er wandte sich in Richtung Küche. Jetzt wo André hier war, sollte er endlich das restliche Essen auf den Herd bekommen. Bevor Ricky auch nur zwei Schritte gemacht hatte, legte sich jedoch schon ein Paar Arme um seinen Oberkörper und zog ihn zurück. Die warme Brust in seinem Rücken wirkte prompt beruhigend.
„Ich mag dein Lachen“, flüsterte es neben Rickys Ohr. Eine Hand wanderte hinab zum Bauch, stoppte jedoch vor dem Bund der Jogginghose. „Wie viel Zeit hab ich vor dem Essen?“
Da musste Ricky laut lachen und schüttelte den Kopf. „Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich glatt denken, dass du nur auf den Sex mit mir stehst.“
Andrés Arme zogen sich fester, als er einen leichten Kuss an seine Halsbeuge setzte. „Nicht nur den“, murmelte er leise, als er einen weiteren, etwas höher am Hals platzierte. „Das Essen ist auch nicht von schlechten Eltern.“
Mit einem schnaubenden Lachen befreite Ricky sich aus der Umarmung und drehte sich mit gespielter Empörung herum. Die Arme vor der Brust verschränkt, sah er André herausfordernd an. Noch vor ein paar Wochen hätte er bei dessen Worten womöglich tatsächlich gezweifelt. Aber diese leise Stimme der Unsicherheit war inzwischen kaum mehr zu hören.
‚So, wie es sein sollte.‘
Es gab keinen Grund, an André zu zweifeln. Der hatte Ricky oft genug gesagt, dass er genau das, was sich zwischen ihnen entwickelte, suchte. Dazu die Tatsache, dass der Mann sich offensichtlich auch nicht von den ab und zu aus Ricky herausbrechenden frechen Spitzen abschrecken ließ. Es war perfekt. Genau das, was er gesucht hatte. Das wollte er sich nicht kaputtmachen lassen – schon gar nicht von den eigenen Unsicherheiten.
„Sex und Essen. Ihr seid doch alle gleich einfach gestrickt“, stichelte Ricky entsprechend nicht deshalb zurück, weil er tatsächlich daran glaubte, sondern schlichtweg, da es unheimlich viel Spaß machtem André zu reizen.
„Du bist auch einer von uns“, gab der mit einem eigenen Grinsen zurück. „Aber du stehst auf andere Sachen.“
„Ach ja?“
„Ja.“
Ricky hob das Kinn und sah herausfordernd zurück: „Und was?“
Anstatt zu antworten, trat André vor und nahm seinen Kopf zwischen die warmen Hände. Ehe Ricky es sich versah, legten sich bereits sanfte Lippen auf seine. Er konnte gerade noch verhindern, dass das Seufzen zu hören war – schließlich spielte er hier im Augenblick ein Spiel, das er nicht gedachte, zu verlieren.
Andrés Zunge fuhr leicht über seine Unterlippe. Ein weiterer Kuss, diesmal auf die Oberlippe. Noch einer, an den linken Mundwinkel – danach an den rechten. Schon konnte Ricky spüren, wie das Flattern im Bauch stärker wurde, die Arme schwerer. Was reichlich irrsinnig anmutete, denn sein ganzer Körper fühlte sich eher leichter an. Trotzdem fielen Rickys Hände nach unten und landeten kurz darauf auf Andrés Hüften.
„Da gibt es bestimmt noch einiges mehr. Aber auf das hier definitiv.“