Er konnte es immer noch spüren. Dieses Kribbeln, überall auf der Haut. Die Blicke, die Berührung – selbst jetzt war er sich nicht sicher, was von beidem mehr davon ausgelöst hatte. Hastig schloss Ricky die Augen und atmete tief durch. Der falsche Zeitpunkt. Es war definitiv nicht der richtige Augenblick, um darüber nachzudenken, was gestern passiert war.
Nach ihrem Gespräch hatte André in der Tat den Rest des Tages darauf bestanden, dass Ricky seine Wettschuld erfüllte. Zugegeben war er schon unter normalen Umständen nicht sonderlich prüde – außer es bot sich als Flirtversuch an. Aber den ganzen Tag diese Blicke auf sich zu spüren, war Folter nahegekommen. Zumal André fies genug gewesen war, um außer den Augen nichts anderes über seine Haut gleiten zu lassen.
Dabei hätte Ricky da diverse Ideen gehabt, die über talentierte Chirurgenfinger hinaus gingen.
Er seufzte und versuchte, sich erneut auf das Kleid zu konzentrieren, an dem er gerade arbeitete. Das gestaltete sich aber weiterhin schwierig. Und so zappelte Ricky eher unruhig vor der Puppe herum, als dass er tatsächlich irgendetwas Produktives zustande brachte. Glücklicherweise war seine Tante gerade im Verkaufsraum, um einige der Ausstellungsstücke neu anzuordnen. Andernfalls würden garantiert wieder irgendwelche Fragen aufkommen.
Vorsichtig schielte Ricky zu Annabell, die einige Meter entfernt die Teile für ein weiteres Kleid mit Nadeln zusammensteckte, damit sie es anschließend nähen konnte. Als er dabei auf ihren forschenden Blick traf, zuckte er erschrocken zusammen und drehte sich hastig wieder der eigenen Arbeit zu.
„Alles in Ordnung, Richard?“, fragte sie prompt.
„Natürlich!“, versicherte er schnell. „Ich ... bin kurz ... um die Ecke“, fügte er gemurmelt hinzu und verzog sich erst einmal auf die Toilette. Vielleicht würde die Verschnaufpause reichen, um sich selbst zu beruhigen und Annabells misstrauischen Blick verschwinden zu lassen.
Als er zurückkam, stand jetzt jedoch Helena im Arbeitszimmer und betrachtete sein aktuelles Projekt. „Sehr schön“, bemerkte sie mit einem zufriedenen Lächeln, als er auf sie zutrat. „Aber was anderes braucht man von dir ja auch nicht zu erwarten.“
„Danke“, nuschelte Ricky verhalten. Er griff zur Nadel sowie der Dose mit Perlen, um fortzufahren.
„Deine Mutter hat mich angerufen, nachdem sie dich gestern weder daheim noch auf dem Handy erreichen konnte“ meinte sie plötzlich.
Schlagartig hielt Ricky inne, sah Helena jedoch nicht an. Dass seine Mutter ihn nicht in seiner Wohnung erreicht hatte, war klar, aber er konnte sich an keinen Anruf auf dem Handy erinnern. Irritiert zog er das Gerät aus der Hosentasche und stellte fest, dass es aus war.
„Akku alle“, meinte Ricky grinsend. Hoffentlich war das Thema damit beendet.
Helena sah das allerdings vollkommen anders. Seufzend verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah Ricky eindringlich an. „Ich liebe sowohl meine Schwester als auch dich, aber diese stille Post geht mir allmählich auf die Nerven. Also ruf sie doch bitte einfach an. Geheimnisse sind nicht sonderlich sinnvoll, wenn sie im Grund jeder erraten kann.“
Ricky zuckte zusammen. Unsicher schielte er von Annabell zu Helena, bevor er stammelnd antwortete: „Wie ... meinst du das?“
„Oh bitte. Es ist ja wohl nicht zu übersehen, dass du dich mit jemandem triffst. Und wenn das nicht nur irgendwelche Freunde sind und deine Mutter endlich hoffen darf, deshalb tu uns doch bitte allen den Gefallen und sag es ihr.“
Er schluckte und schielte erneut zu Annabell, die ihm jedoch demonstrativ den Rücken zugekehrt hatte. Vermutlich war das ein Gespräch, aus dem sie sich raushalten wollte. Um ehrlich zu sein, wäre es Ricky lieber, Helena würde das genauso handhaben. Die schien aber allmählich die Geduld zu verlieren – jedenfalls was die Anrufe seiner Mutter anging. Und fairerweise war das nur zu verständlich. Auf die konnte Ricky schließlich auch verzichten.
Nach dem Gespräch mit André am Vortag war ihm jedoch sehr klar, dass er die Beziehung zu dem nicht einfach aufgeben würde. Über kurz oder lang würde Ricky also seiner Mutter die Wahrheit sagen müssen, genauso wie dem Rest der Familie. Dabei kam ihm das Grillfest vom Samstag wieder in den Sinn. Zunächst hatte Ricky befürchtet gehabt, dass er dort ausgegrenzt oder zumindest komisch angesehen werden würde. Aber Bertie und die anderen Männer hatten ihn problemlos akzeptiert. Abgesehen von Doktor Blöd schien niemand ein Problem mit ihrer Beziehung zu haben. Traute er seiner Familie wirklich so viel weniger Toleranz zu?
„Es ist ...“, setzte Ricky an, nur um prompt wieder abzubrechen, als mit einem Mal sein Herz viel zu heftig gegen die Rippen hämmerte.
Helena zog die Augenbrauen hoch. „Was? Noch nicht ernst genug?“
Ricky wiegte den Kopf hin und her. Nach dem gestrigen Tag konnte er das eigentlich nicht mehr behaupten. Wenn ihm das mit André nicht ernst wäre, hätte er niemals über seinen Schatten springen und dem gegenüber derartig offen sein können.
Helena seufzte erneut und schüttelte den Kopf. „Ich habe mir das jetzt lange genug mit angesehen, Rick. Warum auch immer du glaubst, Tine diese Frau verheimlichen zu müssen, ich bin sicher, es ist kein Problem. So lange du mit ihr glücklich bist, wird das deiner Mutter reichen. Alles andere lässt sich finden.“
Das Messer, das sich Ricky in den Bauch bohrte, war schmerzhafter, als er erwartet hatte. Woher auch immer er die Annahme genommen hatte, dass Helena eine Ahnung hatte, was ihn betraf ... offensichtlich hatte er haushoch daneben gelegen. Erneut seufzte seine Tante und schüttelte den Kopf.
„Ich fahre zum Großhandel“, meinte sie plötzlich. „Falls ihr noch etwas braucht, sagt mir Bescheid, ansonsten gehe ich davon aus, dass wie immer alles auf den Bestelllisten steht.
Als weder Annabell noch Ricky etwas sagten, zog sie schließlich ab und ließ die beiden allein zurück. Sein Magen krampfte sich weiter zusammen, während er im Arbeitszimmer stand und auf das Kleid starrte, das er eigentlich fertigmachen müsste. Aber nicht konnte. Denn wenn er die in vor der Brust in das Hemd gekrallten Hände löste, würden sie garantiert zittern.
Annabells Stimme war überraschend leise und besorgt, als sie einige Minuten später fragte: „Alles in Ordnung, Richard?“
Er nickte, versuchte zu lächeln, nur wollte es ihm nicht gelingen. Stattdessen brannte es verräterisch hinter Rickys Augen. Die Blöße würde er sich aber garantiert nicht geben. Eben war er noch guter Stimmung gewesen, hatte sich gefragt, wo eigentlich das Problem war, seiner Familie gegenüber endlich ehrlich zu sein. Und jetzt? Nun war er wieder einmal nicht sicher, ob er das riskieren konnte. Er schluckte erneut, es half jedoch nicht, den Kloß aus dem Hals zu bekommen. André war sein perfektes Gegenstück, in jeder nur erdenklichen Hinsicht. Wenn er für ihn nicht ehrlich sein konnte, für wen dann?
Vorsichtig schielte Ricky zu seiner Kollegin. Die sah ihn weiterhin mit diesem merkwürdigen Blick an, den er nicht deuten konnte. Manchmal erinnerte Ricky der an seine eigene Mutter. Wie Annabell überhaupt die Tendenz hatte, mitunter wie sie zu klingen. Vielleicht war es das, was ihn an dem einen oder anderen Tag an seiner Kollegin störte. Andererseits ...
„Kann ich dich mal etwas fragen, Annabell?“, setzte Ricky zögerlich an.
„Natürlich“, erwiderte sie mit einem Lächeln.
„Du ... hast doch auch Kinder. Also erwachsene ... Kinder.“ Ricky runzelte über die eigenen Worte die Stirn. Das klang reichlich dämlich, aber Annabell nickte und lächelte weiter.
„Fünf.“
Richtig. Sie hatte schon einmal erwähnt, dass sie fünf Söhne hatte. Seine eigene Mutter hatte es auf einen geschafft. Mehr als die drei Kinder in Alexanders Familie hatte niemand, den er kannte. Annabell hingegen winkte lachend ab. Ricky schluckte, nicht sicher, ob es der richtige Moment, Ort oder die passende Gesprächspartnerin war, um diesen Versuch der Ehrlichkeit zu wagen. Aber wie Helena gerade eindrucksvoll bewiesen hatte, würde seine Familie es wohl nicht von alleine merken. Wieder schielte er zu Annabell, die lächelte weiterhin. Vermutlich würde seine Mutter genauso dastehen, wenn er zu ihr ging, um dieses Gespräch zu führen. Nur dass Rickys Mutter definitiv gewisse Erwartungen hatte. Und es bei Annabell am Ende des Tages egal war, was sie von ihm hielt.
„Hast du auch immer darauf gewartet, irgendwann Enkel zu haben?“
„In gewissem Sinne ... bestimmt“, gab sie mit einem kurzen Lächeln zu. Dann beugte sie sich zu ihm hinüber. „Ich hab sogar drei.“
Ricky sah sie überrascht an. Dass Annabell nicht mehr die Jüngste war, konnte man sehen, aber irgendwie hatte er sie eher Mitte bis Ende fünfzig, also im Alter seiner eigenen Mutter gesehen. Er schluckte. Selbst wenn Ricky nicht auf Männer stehen würde, hatte er mit Kindern nicht wirklich was am Hut. Also war die Hoffnung seiner Mutter, jemals Oma zu werden so oder so eine reichlich akademische. Dummerweise hatte Ricky oft genug den Eindruck, als wäre seiner Mutter das inzwischen wichtiger als vieles andere geworden.
„Ist bestimmt ... schön?“
Annabell lachte. „Ach, Richard. Wenn ich gewusst hätte, wie toll es sein kann, die eigenen Enkel zu verwöhnen, hätte ich den anstrengenden Teil mit den Kindern übersprungen“, gab sie mit einem Lachen zurück. „Leider funktioniert es so ja nicht.“
Er grinste und nickte. Das flaue Gefühl im Bauch wurde etwas besser, auch wenn es nicht verschwand. Wieder kam Ricky nicht umhin zu denken, dass seine Mutter vermutlich ähnlich ticken würde. Um genau zu sein, würde sie mit Sicherheit den gleichen erwartungsvollen Blick auf ihn legen, wie Annabell gerade.
„Wäre es sehr schlimm für dich, wenn du keine Enkel hättest?“, presste er schließlich heraus.
„Schlimm?“ Sie zog die Augenbrauen hoch.
Ricky wandte sich ab und sah wieder auf das Kleid, an dem er arbeiten sollte. Würde vermutlich mehr bei rauskommen, als bei dem Gestammel, was er ablieferte. Aber es fühlte sich weiterhin in gewisserweise so an, als würde er sich hier bei einer Trockenübung für das Gespräch mit seiner Mutter befinden.
Deshalb atmete Ricky tief ein und sah erneut zu seiner Kollegin: „Wie hättest du reagiert, wenn du wüsstest, dass du niemals Enkel haben wirst.“
Wiederum schien Annabell zunächst zu überlegen, bevor sie lächelnd mit den Schultern zuckte. „Vielleicht wäre ich am Anfang etwas enttäuscht“, gab sie schließlich ehrlich zu. Er schluckte und senkte den Blick. Das war wohl die Reaktion, mit der er rechnen musste. „Aber nicht von meinen Kindern.“
Verwundert sah Ricky wieder auf und zu Annabell, die ihn noch immer anlächelte. „Wovon dann?“
„Von mir.“
„Das verstehe ich nicht“, gab Ricky verwirrt zu.
„Ich möchte, dass meine Söhne glücklich sind. Ob da Kinder dazu gehören oder nicht, das müssen sie selbst entscheiden.“ Sie lachte kurz und fügte lächelnd hinzu: „Nun, offensichtlich mitunter auch eher ihre Partnerinnen.“
Ricky lächelte ebenfalls. Das klang gut. Allerdings wagte er nicht, zu hoffen, dass seine Mutter das genauso locker sehen würde. Erneut schielte er zu Annabell. Wobei sich das ja vielleicht auch wieder ändern würde.
„Ich weiß, dass es mir nicht zusteht, mich in eure ... Familienangelegenheiten einzumischen, Richard“, meinte Annabell plötzlich mit einem hörbaren Seufzen. „Nur, manchmal ...“ Sie lachte und zuckte mit den Schultern. „Entschuldige, wenn das anmaßend klingt, aber an manchen Tagen, habe ich das Gefühl, du bist wie einer meiner Söhne.“
Da musste Ricky grinsen. „Na ja“, meinte er mit einem eigenen Schulterzucken. „Ist vermutlich nur fair. Du erinnerst mich auch manchmal an meine Mutter.“
Sie lachten beide. Ganz allmählich löste sich der Knoten in Rickys Bauch. „Was erinnert dich an mir an deinen Sohn?“, fragte er leise, als sie sich wieder beruhigt hatten.
„Moment“, meinte Annabell und trippelte eilig zu ihrer Handtasche.
Sie kramte kurz darin, bevor sie schlussendlich ein Handy herauszog. Überrascht zog Ricky die Augenbrauen hoch, als die ältere Dame wie selbstverständlich darüber wischte. Sie schien seine Irritation zu bemerken und trat grinsend auf ihn zu.
„Du dachtest gerade, ich bin viel zu alt für so ein Ding, oder?“
Beschämt schüttelte Ricky den Kopf, aber Annabell winkte lediglich ab und widmete sich dann wieder ihrem Handy.
„So ganz klar komme ich damit nicht. Allerdings hat es mir mein Jüngster geschenkt und besteht darauf, dass ich es benutze. Und ich muss zugeben, dass es etwas für sich hat, wenn mir meine Jungs wenigstens ab und zu ein Foto aus ihrem Leben schicken.“
Ricky runzelte die Stirn. „Das klingt irgendwie ...“
„Traurig?“ Annabell wiegte den Kopf hin und her. „Nur zwei meiner Söhne leben noch hier in der Stadt. Die Zeiten, in denen sie sich alle sonntags zum Essen blicken ließen, sind lange vorbei. Also ... nein, im Grunde bin ich wohl eher froh, dass ich mit diesem Ding hier“, dabei hielt sie das Handy hoch, „Wenigstens ein Stück weit an ihrem Leben teilhaben kann. Und an dem meiner Enkel.“
Bei ihren letzten Worten kam prompt das ungute Gefühl wieder in Ricky hoch. Seine Mutter würde auch mit einem Smartphone nicht am Leben ihrer Enkel teilhaben können. Weil sie keine haben würde. Bevor er dazu kam etwas zu sagen, hatte Annabell offenbar gefunden, was sie gesucht hatte.
„Das sind meine Jungs“, meinte sie mit einem stolzen Lächeln als sie ihm ein Foto von fünf Männern, vermutlich zwischen Anfang zwanzig und Mitte dreißig zeigte. „Das Bild ist allerdings schon älter“, meinte sie kurz darauf wehmütig. „Sie waren wie gesagt länger nicht mehr alle gemeinsam zu Hause.“
„Tut mir leid“, murmelte Ricky, wiederum nicht sicher, was er sagen sollte. Oder ob es nicht besser war, überhaupt die Klappe zu halten.
Aber auch diesmal winkte Annabel wieder ab. „Das muss es nicht. Sie leben ihr Leben und jeder auf seine Weise“, erklärte sie rasch.
Ihr Lächeln beruhigte auch Ricky erneut. Trotzdem brachte ihn das alles nicht wirklich weiter. Denn das, was er seiner Mutter sagen wollte, hatte er bisher nicht einmal Annabell gegenüber zugeben können. Wenn überhaupt, war sie es, die hier eine Unterhaltung führte. Ricky fuhr sich durch die lockigen Haare. Wie sollte das werden, sobald er vor seiner Mutter stand? Würde er da auch die entscheidenden Worte wieder nicht rausbekommen?
„Annabell ...“, setzt er zögerlich an.
„Warte“, unterbrach sie ihn jedoch. „Das da ganz links ist übrigens mein Jüngster. Er ist es, an den du mich manchmal erinnerst.“
Ungläubig starrte Ricky auf das Bild. „Du verarschst mich“, rutschte ihm sofort heraus. Abgesehen davon, dass der große und kräftig gebaute Mann seinen vier Brüdern nur bedingt ähnelte, wies er zu ihm selbst mal überhaupt gar keine Ähnlichkeiten auf.
„Natürlich nicht äußerlich“, gab Annabell lachend zurück.
„Da hätte ich dir jetzt auch einen Termin beim Optiker empfohlen“, murmelte Ricky mit einem eigenen Lachen.
„Er hat aber, genau wie du, viel zu lange darüber nachgedacht, was der Rest der Familie von seinem Leben halten würde.“ Okay, das klang irgendwie, als müsste er beleidigt sein. Unsicher sah Ricky zu Annabell, doch die lächelte und rieb ihm mit der freien Hand über den Oberarm. „Nicht böse gemeint, ja?“
„Ja ...“, stammelte Ricky irritiert. Die Geste wirkte ungewohnt vertraut. Jedenfalls ... passte es nicht zu ihrem bisherigen Umgang. Dazu zählte dieses Gespräch allerdings auch. Dadurch wirkte Annabell aber nur noch stärker wie Rickys Mutter. Das hier erschien ihm mehr und mehr wie eine ziemlich dämliche Idee.
„Meine Söhne sind alle sehr unterschiedliche Charaktere. Die beiden ältesten waren schon immer sesshaft. Früh verheiratet. Sie haben beide Kinder“, erklärte Annabell weiter, während sie etwas verträumt auf das Foto blickte. „Als das Bild entstand, war die Frau von meinem Ältesten gerade zum ersten Mal schwanger.“
Ricky sah zu dem Foto. Vier der Männer wirkten in der Tat ausgelassen und gut gelaunt. Nur der ganz links, von dem Annabell gemeint hatte, dass er ihm ähnlich wäre, sah aus, als würde er sich zurückhalten. Vielleicht hatte sie ja mit ihrer Einschätzung gar nicht so unrecht.
Als sie schließlich fortfuhr, klang ihre Stimme mit einem Mal deutlich ernster, ein Stück weit womöglich verbittert: „Er steckt gerade in einer ziemlichen Schlammschlacht von Scheidung. Der Streit um die Kinder ist ... unschön. Ich hab die beiden Mädchen seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.“
Ricky schluckte. „Tut mir leid“, quälte er sich erneut ab. Weil ihm nichts Besseres einfiel.
„Das ist lieb, Richard. Aber zur Familie gehören Probleme dazu. Und irgendwann kommen hoffentlich wieder bessere Zeiten.“
Er schwieg, denn genau davor hatte er schließlich Angst. Dass er sich mit einem Geständnis mit seiner Mutter überwarf und es eben keine besseren Zeiten gab. Dass der Moment, in dem es für sie kein Problem sein würde, wenn er mit einem Mann zusammen war, niemals kommen würde. Dass seine Großmutter ihn nicht mehr sehen wollte, weil er ... anders war. Als Ricky sich entschieden hatte, Schneider zu werden, war sein Vater wenig begeistert gewesen, aber irgendwann hatte er es akzeptiert. Würde er André ebenso akzeptieren?
„Die beiden hier sind Nummer drei und vier. Sie sind übrigens nicht verheiratet und haben auch keine Kinder. Der Ältere hat sich vor drei Jahren von seiner großen Jugendliebe getrennt. Sie wollte Kinder. Er nicht. Der andere ...“ Sie seufzte, bevor sie mit verdrehten Augen und betont genervter Stimme fortfuhr. „Nun, er ist kein Single, aber manche wünschten sich, er wäre es. Und da sie keine Kinder will ...“
Das Grinsen konnte Ricky sich nicht verkneifen. „Die böse Schwiegertochter?“
„Ach, das ist so ein unschönes Wort“, meinte sie mit einem besonders theatralischen Seufzen, bei dem sie Ricky jedoch lächelnd zuzwinkerte.
„Böse?“
„Schwiegertochter.“
Erneut musste er lachen und allmählich fing die Anspannung an, völlig von ihm abzufallen. „Wäre er dann nicht der bessere Vergleich zu mir?“, wagte er sich entsprechend mutig voraus.
„Nein.“
Ihre Stimme war voller Überzeugung. Woher sie die nahm, war Ricky jedoch nicht klar. In seinen Augen würde das Gespräch mit seiner Mutter doch auf genau diesen Punkt hinauslaufen. Sie erhoffte sich eine Schwiegertochter und Enkel. Was er liefern könnte, war maximal ein Schwiegersohn. Und auch wenn Ricky nicht der zierliche, feminine Typ war, galt das für André eben schon dreimal nicht.
„Warum nicht?“
Annabell zog das Handy zu sich und scrollte noch einmal durch die Fotos, bevor sie es ihm wieder hinhielt. Das Bild, das sie diesmal hochhielt, zeigte zwei Männer. Einer war eindeutig der, den sie als ihren Jüngsten bezeichnet hatte. Allerdings war das Foto definitiv neueren Datums. Denn anstatt wie Anfang zwanzig, sah er hier eher wie an die dreißig aus. Er hatte den Arm um die Schultern des zweiten gelegt. Der dürfte ähnlich alt sein, vielleicht sogar etwas jünger. Beide lachten zufrieden in die Kamera und wirkten zu vertraut, zu ...
Rickys Kopf schnellte hoch. Prompt sah er sich Annabells stechendem Blick gegenüber. Schlagartig sprang sein Herzschlag auf hundertachtzig. Sie wusste es! Etwas in Ricky zog sich weiter zusammen. Er war nicht sicher, was er jetzt sagen sollte. Das war aber auch gar nicht notwendig, denn Annabell lächelte wissend und deutete auf das Bild.
„Mein Jüngster. Jonathan.“ Sie hob den Blick und sah Ricky erneut fest in die Augen. „Falls du dich wunderst, das da neben ihm ist sein Partner. Ein Recht verschlossener aber unheimlich netter junger Mann. Sie sind jetzt etwas über ein halbes Jahr liiert. Trotzdem reden Sie schon darüber, eventuell im Herbst zusammenzuziehen. Es ist das erste Mal, dass ich meinen Sohn so verliebt gesehen habe.“
Noch immer schwieg Ricky. Alles, was sein Hirn an Gedanken zustande brachte, war das stetig wiederkehrende: Sie weiß es!
„Sag deiner Mutter die Wahrheit, Richard.“
„Du hast noch vier andere Söhne. Und drei Enkel. Ich bin ein Einzelkind“, platzte es unverwandt aus Ricky heraus, bevor er sich stoppen konnte. Als er merkte, dass er damit bestätigte, was sie bisher nur vermuten konnte, zuckte er erschrocken über sich selbst zusammen.
„Drei Enkel, die ich nie sehe und der einzige Sohn, dem ich glaube, dass er wirklich glücklich ist, ist dieser. Er ist auch der Einzige, der mich fast jede Woche besucht. Nicht weil er muss, sondern weil er möchte. Mit seinem Partner.“
Rickys Blick wanderte erneut zu dem Foto. Die beiden wirkten in der Tat sehr glücklich. Ein bisschen, als wären sie frisch verliebt. Und vielleicht waren sie das ja auch. Das Bild erinnerte ihn an das Selfie, das André vor ein paar Wochen im Park von ihnen beiden gemacht hatte.
„Du hast Helena gerade gehört“, wisperte Ricky, weiterhin unsicher. „Ich hatte gedacht, dass sie ... Keine Ahnung. Es längst weiß. Du ... weißt es doch auch.“
Annabell lachte schnaubend. „Weil du es eben bestätigt hast.“ Ricky fuhr zusammen. „Glaubst du wirklich, deine Mutter hätte ein Problem damit, wenn du mit einem Mann glücklicher bist als mit einer Frau?“
Unsicher sah Ricky zu ihr zurück. „Ich weiß es nicht“, nuschelte er verhalten. Denn genau das war ja schließlich seit Jahren sein Problem. Er hatte keine Ahnung, wie seine Mutter reagieren würde. Alles, was Ricky wusste, war, dass sie seit gefühlten zwanzig Jahren immer wieder erzählte, wie sehr sie sich darauf freute irgendwann Großmutter zu werden.
„Jeder Idiot kann sehen, dass du verliebt bist, Richard. Schon seit Wochen.“ Weiterhin fehlten ihm die Worte, um darauf antworten zu können. „Irgendwann musst du den Schritt wagen.“
„Und wenn sie das nicht so locker sieht wie du?“
„Dann wird sie es lernen müssen“, meinte Annabell kühl. „Ich musste schließlich auch lernen, mit Marissa zu leben.“
Rickys Mundwinkel zuckten belustigt, obwohl er nicht vollständig überzeugt war. Andererseits musste er zugeben, dass Annabell recht hatte. Bevor er seiner Mutter nicht die Wahrheit sagte, würde Ricky nicht sicher wissen, wie sie reagierte. Und abgesehen von den erhofften Enkeln stellte André wohl den Wunschtraum einer jeden Schwiegermutter dar.
„Danke, Annabell.“