So also sang Lupus, und aus seinem Gesang erwuchs das erste Rudel.
https://www.deviantart.com/ifritnox/art/945857073 (Bild von Ifrit van Nox)
Seine erste Schöpfung war Canis Major. Ein großer, strahlender Wolf nach Lupus' Ebenbild, der Beta zum ersten der Alphas. Canis Major verlieh Lupus seinen Mut, auf dass der zweite Wolf es wagen möge, sich der Finsternis zu stellen. Sogleich sprang der große Verteidiger auch auf die Dunkelheit zu, trieb sie zurück, welche die Gefahr durch Lupus erkannt und den Angriff begonnen hatte.
Kein heutiger Wolf kann an Canis Major heranreichen, weder in Größe noch Stärke oder Geschwindigkeit. Er war der wildeste Krieger, bereit, sein Leben für seinen Alpha zu geben. Und so wäre es auch beinahe gekommen! Denn selbst ein so mächtiger Wolf wie Canis Major konnte die Finsternis nicht lange hinhalten.
So ersang Lupus ihm einen Bruder, Canis Minor. Der kleinere Wolf glich den beiden ersten Wölfen in Gestalt, doch seine Macht war anderer Art. Nicht weniger stark war er als sein großer Bruder, obwohl er in einem direkten Kampf stets unterliegen müsste. Canis Minor nämlich erbte nicht Lupus' Mut, sondern sein Mitgefühl und jene Kraft im Lied des Ersten Wolfes, die jedem, der es hört, neuen Mut schenkt.
Canis Minor unterstützte seinen Bruder im Kampf und deckte seinen Rücken, gab Canis Major Kraft, sich der Finsternis weiter zu stellen. Doch auch zu dritt hatten sie keine Chance, und so sang Lupus weiter:
Ursa Major war kein Wolf, sondern eine große Bärin. Ihr verlieh Lupus all seine Stärke, denn er begriff, dass Mut allein keinen Kampf gewinnen konnte.
Die Welt erbebte, als die Bärin ihr Gebrüll ausstieß und sich dem Kampf anschloss. Sie schlug eine mächtige Schneise in den Angriff der Finsternis. Doch selbst eine so große Kriegerin wie die Bärin konnte den Kampf nicht entscheiden - wenngleich ihre Schläge, unterstützt von der besonderen Fähigkeit von Canis Minor, dem Gegner der Lichtgestalten empfindliche Wunden zufügten. Doch der Pelz der Bärin drohte, sich dunkel zu verfärbten. Sie war umschlossen von Finsternis, und je mehr sie nach ihr schlug, sie biss und kratzte, sie länger sie ihr in das düstere Auge sah, desto stärker wurde ihr tiefstes Licht verdunkelt.
Lupus hatte geahnt, dass ihnen noch ein langer Kampf bevorstand, als er Canis Minor erweckt hatte, und nun sang er weiter. Auf diese Weise erblickte Ursa Minor das Licht.
Ursa Minor war auch eine Bärin, wenn auch etwas kleiner. Ihre Stärke war anderer Art, wie auch die Macht von Canis Minor anderer Art als die von Canis Major war. Ursa Minor besaß wenig Kampfeskraft, doch dafür die Fähigkeit, der Finsternis zu widerstehen. Besser noch, sie konnte auch die Herzen ihrer Freunde gegen den Einfluss der Dunkelheit stärken und noch heute wacht sie über das hellste Licht am Himmel. Während die beiden Wolfsbrüder noch immer Rücken an Rücken kämpften, schlug sich die kleine Bärin zu ihrer großen Schwester hindurch und stand ihr bei als ihr Schild in der Nacht, als ihr Licht in der Dunkelheit.
Lupus, der den Kampf beobachtete, ahnte, dass nun weder der Mut eines Vorstoßes, noch weitere Kraft benötigt war. Im direkten Kampf würde die Stärke der Finsternis stets siegen, und wenn er tausende Bären ersänge, und kein Mut der Welt könnte die Wölfe dann noch in den aussichtslosen Kampf schicken.
Deshalb schuf Lupus den fünften Titan, der gleichsam sein zweispältigstes Wesen war. Vulpecula, der listige Freund, war ein Fuchs mit einem Pelz wie Feuer. Klein war er, klein und schnell und flink, und in seine Strophe floss alle List und Tücke, die Lupus' Wesen in sich vereinte, sein Geschick und seine Schläue.
Diese List kam den Kämpfenden nun zunutze, denn Vulpecula lief von hier nach dort, brachte die Kämpfer zusammen und lehrte sie, die Finsternis zu täuschen. Ohne Unterlass wirbelte der flammende Fuchs durch das Schlachtfeld und rief den Wölfen und Bären zu, wie sie agieren sollten. So konnten sie viel Raum erkämpfen und der Sieg schien nahe, doch Lupus zweifelte noch. So sang er weiter, und dies war gut. Denn Vulpeculas Pläne waren zwar laut und effektiv, aber nur kurzsichtig, und für alle Zeit hätte es wohl nicht so weitergehen können.
Als nächstes sang Lupus Lynx herbei, den stillen Freund. Mit einem großen, lautlosen Satz sprang der Sternenluchs an die Seite des Ersten Wolfes. Er erhielt von Lupus alle Weisheit. Lange Zeit sah Lynx nur stumm auf den Kampf, bis Vulpecula schon laut rief, dass der Neuzugang wohl zu viel Furcht vor dem Kampf habe. Doch in Wahrheit hatte Lynx Zeit gebraucht, bis er sich seiner Sache sicher war. Dann befahl er, einen schützenden Ring um Lupus zu schließen, statt der Finsternis weiter nachzusetzen, und durch diesen guten Rat konnten die Titanen einem Gegenschlag ausweichen, der sonst womöglich mehrere Leben gekostet hatte. Denn auch die Finsternis kennt List und Tücke, und sie hatte viel mehr Zeit als Lupus oder Vulpecula gehabt, ihre Fähigkeiten zu verfeinern.
Auf den Rat von Lynx hin ersann Lupus auch die fünf Späher, damit sie einen Überblick über den Kampf gewinnen konnten.
Der erste der Späher war Phoenix, ein Vogel mit Feuerfedern, der direkt über Lupus' Haupt flog. Er leuchtete heller als jeder der anderen sechs Titanen, fast so hell wie Lupus selbst. Ihm verlieh Lupus das Wissen um die Hoffnung, denn Phoenix' Blick auf das Schlachtfeld sollte von Anfang an nach einem Sieg suchen, nach jenem Ziel, das sie dadurch erreichen würden.
Als zweiten Späher rief Lupus Grus herbei, den blauen Kranich, dessen Gefieder wie die Polarlichter leuchtet. Auf mächtigen Schwingen zog der Vogel in eine Richtung, und dies ward fortan Westen, wo damals auch der Frühling herrschte, denn die Welt war noch nicht vom Kampf verkehrt worden.
Grus verlieh Lupus das Wissen um Liebe und Freundschaft, welche ein Rudel zusammenhielten. Denn ihr Sieg aus dem Kampf sollte ein Sieg für alle Mitglieder des Rudels sein, ihr Ziel sich für alle lohnen.
Der dritte Späher war Aquila, der Adler mit Federn so golden wie die Sonne. Er flog in eine Richtung, die fortan Norden ward und damals das Heim des Sommers.
In Aquilas Herz pflanze Lupus das Wissen um die Gerechtigkeit, auf dass niemand im Kampfe eine unfaire Last tragen müsste. Aquila sollte beachten, dass jeder seiner Fähigkeiten entsprechend eingesetzt werde und seine Aufgabe gut erfüllen könne.
Der nächste Späher war der Rabe Corvus. Sein Gefieder war, anders als bei den Raben heute, weiß wie Sterne. Er flog gen Osten, zum Herbst, und erbte von Lupus das Wissen um Zeit und Wandel. Er konnte die Erschöpfung der Kämpfer beobachten und den Verlauf der Schlacht erspähen und war in jenen Tagen eine große Hilfe.
Der letzte Späher schließlich war Cygnus, der silberne Schwan. Er folgte einem mächtigen Fluss zum Süden, was damals das Heim des Winters war. Er lernte von Treue und Ehre. Seine klagenden Rufe schweißten die Kämpfer zusammen, dass sie auch in Müdigkeit und Verwundung niemals von der Seite der anderen weichen mögen.
Und so, unter dem Blick und Gesang der fünf Späher, kämpften die beiden Wölfe, die beiden Bärinnen und die beiden Freunde gegen die Macht der Dunkelheit, und Lupus sah, dass sie siegen würden. Doch der Sieg besagte nur, dass die Finsternis sich zurückzog. Sie besaß schon damals viele Diener, die ein Teil von ihr waren und mit ihr verschmelzen konnten, ähnlich, wie die Titanen und Lupus eins und doch getrennte Wesen sind. Um die Finsternis völlig zu vernichten - dafür war die Welt zu groß. Selbst Titanen konnten nicht jeden Winkel erleuchten, und so würde immer ein Hauch der Dunkelheit überleben. Doch auch so würde sich die Finsternis an vielen Stellen ballen können, immer außerhalb des Blicks der Titanen. Aus diesem Grund wusste Lupus, dass seine letzten beiden Strophen schnellen Boten dienen mussten, die jederzeit davon berichten könnten, wenn sich die Finsternis erneut zu erheben beginnt.
Der erste Bote war Pegasus, der Sternenhengst, ein geflügeltes Pferd, dem Lupus all die Ausdauer eines jagenden Wolfes verlieh, sodass Pegasus über Jahre laufen könnte, um eine Botschaft zu übermitteln.
Der zweite Bote und letzte Titan, Lepus, war dagegen klein, wendig und flink. Ein Hase, dem Lupus all das Geschick der letzten Momente der Hatz verlieh, wenn Jäger und Gejagter in einem schnellen Tanz über das Schicksal entscheiden. Keine Macht unter dem Firmament vermag es, Lepus zu fangen.
Nun schließlich musste Lupus verstummen. Doch der Kampf, jenes Gefecht der ersten Tage, war gewonnen. Die Finsternis floh vor der Macht der vereinten Titanen. Die Jubelschreie des Ersten Rudels hallten über die Weiten und zum ersten Mal war die Welt hell und klar, ohne einen Hauch von Dunkelheit.
Jedoch war die Welt leer. Nicht einmal Sterne gab es, kein Leben außer den Titanen, kein Land und keine Himmel. In dem Wissen, dass die Finsternis noch nicht vernichtet war, beschlossen Lupus und die Titanen, dass sie ein Heim schaffen müssten, ein geschütztes Land, in welches die Dunkelheit nie eindringen würde.