Tränen sind nicht nur Leid, sie sind Erinnerung.
Wenn die Tage heiß werden, so heiß, dass man sich am liebsten in seinem Wolfsbau vor Sols Blick verbergen möchte, dann, kleiner Welpe, offenbart sich uns in Lunis' Licht eines der größten Wunder. Vielleicht rührt daher Sols Zorn, da seine Gefährtin uns stets an diesem Ereignis teilhaben lässt, und sei es aus größter Ferne.
In jener Zeit der Hitze nämlich erscheinen Lupus' Tränen am nächtlichen Himmel. Wie Silbervögel jagen sie an den Sternen vorüber, hell und flink. Sie leuchten wie Neith und überstrahlen selbst die restlichen Götter, denn sie sind nicht bloß Tränen eines Titans, sie sind die Tränen des Ersten Wolfes.
Einst, als die Nacht besonders dunkel war und die Schwärze zwischen den Sternen jedes Licht zu ersticken drohte, da weinte Lupus um die Gefallenen. Voller Trauer war sein großes Herz um alle Lichter, die bereits verloren waren. Doch gerade seine Tränen und die Erinnerung an die Geliebten war es, die das Licht zurückbrachte. Denn so schmerzhaft ein Verlust auch ist, dies vernichtet nicht die Wärme der vergangenen Tage.
Erinnerung, mein kleiner Welpe, ist eine große Macht. Es ist, als könntest du in verlorene Zeiten reisen. Dort wirst du nur finden, was du mit dir bringst. Trauer kann diese kostbaren Erinnerungen verderben, doch lasse das nicht zu, und du wirst für immer einen Stern in deiner Brust tragen, ein Licht, das keine Dunkelheit zerstören kann.
Diese besondere Macht kann dich leiten, als wären jene noch bei dir, die von dir gegangen sind.
In jenen Tagen der Finsternis also trauerte Lupus um die Gefallenen und die Verbündeten entdeckten jene Macht, die Trost genannt wird. Darum gaben sie nicht auf und darum endete der Kampf nicht genau dann und dort. Niemand hat diese Tat je vergessen. Und so erscheinen sie jährlich, im Licht des warmen Mondes: Die Verbündeten der Titanen sind es, die dort am Himmel leuchten und rennen, wie es nur die Wesen der altvorderen Welt können. Sie sind so schnell, dass man sie nicht erkennen, doch sehen können wir sie als hunderte heller Blitze.
Es ist das Fest der Erinnerung. Wie du weißt, kehrt jeder Tote irgendwann wieder, doch was sie verlieren, ist die Erinnerung. Es ist Aufgabe der Lebenden, diese zu bewahren, damit die Zurückgekehrten sie wiedererhalten können. Und es ist unsere Pflicht, die Erinnerungen nicht unnötig durch Trauer zu verdüstern.
Die Menschen nennen sie Perseiden oder Laurentiustränen. Doch damit haben sie nur bedingt recht. Denn es sind die Bewohner von Andromeda, die ihre Trauer zelebrieren, die die Tränen der Erinnerung feiern. Für uns, mein Welpe, ist dies die Zeit, der Toten zu gedenken: Im warmen Monat, ehe der Herbst ins Laub einzieht, wenn die Welt reif und voll ist, dann pflege deine Erinnerungen wie eine kostbare Ernte und vergiss niemals, dass auch Trauer nur ein weiterer Ausdruck der Liebe ist.
Die von uns gegangen sind, werden nie vergessen werden. Sie sind nicht fort und nicht verloren, denn alles Leben kehrt früher oder später wieder. Bis dahin bewahre die Erinnerungen auf, um sie ihnen später wiederzugeben. Behandele sie gut, denn sie sind das Kostbarste, was wir haben.