Ein Köder für die Riesen
Am nächsten Tag erwachten die Geschwister wunderbar ausgeruht. Sie fühlten sich sehr wohl im Heim des Zwergen-Häuptlings. Alles war hier erfüllt von den Düften des Waldes. Es roch nach Harz, Pilzen, Leder und Grillfeuern. Ganz ähnlich wie bei den Waldelfen. Doch die Atmosphäre bei den Zwergen war anders. Irgendwie stiller, gemächlicher. Die Geschwister empfanden dies jedoch als sehr angenehm.
Nach dem aufstehen, wartete bereits ein leckeres Frühstück auf sie. Sebius lächelte ihnen freundlich zu, als sie sich an den kleinen, quadratischen Tisch in der Wohnstube setzten. Während er ihnen frischen Kräutertee eingoss, fragte er: «Und habt ihr gut geruht, Grosse Führer?» Grosse Führer… Dieser Ausdruck befremdete die Geschwister noch immer und sie erwiderten: «Ja danke, sehr gut! Aber bitte nenn uns nicht so, wir sind nur einfache Menschenkinder, die das grosse Glück hatten, die Welt der Sagen, Märchen und Legenden zu betreten.» «Auch wenn ihr es noch nicht richtig annehmen könnt, irgendwann wird sich auch euch selbst, eure wichtige Funktion offenbaren!»
Benjamin bemühte sich das Thema zu wechseln und sprach: «Wir haben übrigens noch etwas darüber nachgedacht, was man vielleicht mit den Riesen machen könnte und hätten da vielleicht eine Idee. Ihr wohnt ja schon lange hier im Wald. Dann kennt ihr doch sicher dir verschiedensten Kräuter und Pflanzen in Gegend?» Sebius erwiderte: «Ja natürlich! Ich habe mich schon immer sehr für die Flora und Fauna in der Umgebung interessiert. Wir leben hier auch alle im Einklang mit der Natur und oft helfen uns die Geister der Bäume und Pflanzen, höchstpersönlich dabei, unser Wissen zu erweitern.» «Das ist sehr gut! Dann kennt ihr vielleicht ein gutes Kraut, das einschläfernd wirkt?» «Ja. Es gibt eine Pflanzenart, welche gemischt mit einigen weiteren Zutaten, eine ausgeprägt einschläfernde, fast narkotisierende Wirkung besitzt. Wir brauchen sie manchmal, wenn jemand eine schlimme Verletzung hat und die Behandlung zu schmerzhaft ist, um diese im Wachzustand durchzuführen.» «Könnte man genug von dieser… Arznei herstellen, um zwei Riesen einschlafen zu lassen?» «Ich glaube schon.»
«Das ist bestens!» freute sich Benjamin. «Ich glaube, wir werden diese unfreundlichen Kolosse einfach einschlafen lassen und dann… schicken wir sie wieder dorthin zurück, wo sie hergekommen sind. Wir werden sie auf ihr Boot schaffen und dem Meer übergeben. Dann fragen wir die Meeresgeister, ob sie das Schiff in die richtige Richtung lenken könnten. So dass die Riesen irgendwo einen neuen Lebensraum finden können, der sich jedoch weit weg vom Zwergen Reich befindet.» «Das ist gar keine schlechte Idee! Die Wassergeister könnten dafür sorgen, dass sie gut in ihre alte Heimat zurück gelangen. Wir sollten sie baldmöglichst fragen, ob sie uns helfen würden.» «Ich glaube das werden sie bestimmt! Sie sehen ja selbst, welche Probleme die Anwesenheit der Riesen hier, mit sich bringt. Die Nixe beim Teich, sagte das sogar selbst. Bestimmt lassen auch die Meerwesen mit sich reden. Wir werden das sofort in die Wege leiten! Such du mit deinen Leuten unterdessen die nötigen Zutaten für den Schlaftrank zusammen Sebius!» «Aber wie wollt ihr die Riesen denn dazu bringen, den Trank zu nehmen?» «Das lass mal unsere Sorge sein. Wir werden sie ablenken. In dieser Zeit kann Sturmius sich mit einigen Männern ins Haus der Riesen schleichen und den Medaillonsviertel holen. Was meinst du dazu?» «Das klingt nach einem guten Plan. Ich hoffe nur, alles läuft glatt.» «Das wird es bestimmt. Dann gehen wir also mal und sprechen mit den Meeresgeistern an der nahen Küste. Wenn ihr die Zutaten für den Trank zusammen habt, dann beginnt ihr sogleich mit seiner Herstellung. Macht ihn auf jeden Fall stark genug! Die Riesen sollten eine Weile schlafen. Bis sie dann wieder aufwachen, sind sie schon fast wieder zurück in ihrer alten Heimat.»
Benjamin und Pia stopften sich noch ein letztes Stück des leckeren Brotes in den Mund und brachen dann, Richtung Meer, auf. Dieses lag gar nicht so weit entfernt, vom Dorf der Waldkinder. Sebius trommelte einige Leute zusammen und gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach dem Wunderkraut.
Alles lief glatt und schliesslich trafen sich alle noch einmal auf dem Dorfplatz der Zwergen Siedlung. Nachdem sie nochmals ihr weiteres Vorgehen genau besprochen hatten, machten sich die Geschwister am nächsten Tag auf, zum Hause der Riesen. Den Trank trugen sie bei sich…
In den späteren Morgenstunden wurden der Riese Zyklopus und seine Frau, plötzlich von lauten Rufen, aus dem Hause gelockt. Sie gingen nach draussen und hielten neugierig Ausschau, woher das ungewohnte Getöse kam. Als sie auf dem nahegelegenen Hügel anlangten, von welchem aus ein Weg, hinunter zu ihrem Schiff führte, sahen sie einen alten Wagen, auf welchem zwei Zwerge, laut rufend, etwas anpriesen. Schon einige Leute standen um den Wagen herum (sie alle gehörten zum Volke der Waldkinder und dienten eigentlich der Tarnung). Als die Riesen ebenfalls daherkamen, wichen die Anwesenden, scheinbar ängstlich, vor ihnen zurück.
Benjamin und Pia, die sich als Händler verkleidet hatten, sahen die Kolosse zufrieden näherkommen und riefen nun doppelt so laut: «Kommt Leute, kommt und kauft unsere selbstgebrauten Arzneien! Wir haben gegen alles etwas: Gegen Krankheiten aller Art, gegen Schmerzen, Magenbeschwerden, Erkältungen und allerlei anderes. Kauft und ihr werdet es nicht bereuen! So gesund seid ihr noch nie gewesen! Kauft Leute, kauft!» Einer der bereits anwesenden Zuschauer, der ständig von Hustenkrämpfen geschüttelt wurde, trat zu den fliegenden Händlern und fragte: «Habt ihr etwa gegen meine Beschwerden?» «Aber natürlich!» rief Benjamin und holte eine Flasche aus dem Wagen. Diese reichte er dem Kunden. «Trink! Und der Husten muss gehn!» Der Zwerg trank einen Schluck und gleich darauf, hörte er auf zu husten. «Ich bin geheilt!» rief er «ich bin geheilt!» Nun trat ein anderer mit einem Taschentuch nach vorne. Er schneuzte und nieste ständig. «Ich brauche etwas gegen Schnupfen!» «Kein Problem!» rief nun Pia und holte eine weitere Flasche hervor. Als der Zwerg davon getrunken hatte, warf er sein Taschentuch von sich und jubelte: «Der Schnupfen ist tatsächlich weg! Ich bin gesund!»
Noch mehrere der Zuschauer, traten vor und alle wurden auf wundersame Weise, von den Arzneien der fliegenden Händler, geheilt. Diese Schauspiel war ein alter Trick, doch er funktionierte tatsächlich, denn die Riesen waren nicht sonderlich intelligent. Zyklopus trat hoffnungsvoll näher und fragte: «Gibt es auch etwas gegen Sodbrennen?» «Aber klar doch!» sprach Pia «ein wahres Wunderwässerchen. Nur glaube ich, dass all unsere Flaschen hier, nicht reichen werden, um euch ganz gesund zu machen. Egal, wir haben ja genug Vorrat! Und was können wir für die gnädige Frau tun?» fragte das Mädchen dann an die Riesin gewandt. Diese beugte sich etwas tiefer zu ihr herunter und frage so leise wie möglich: «Gibt es… vielleicht auch einen Trank, mit dem man… z.B. leichter abnehmen kann?» Pia antwortete: Machbar ist das natürlich… aber… es wird etwas teurer werden, da es kosmetisch ist… sie wissen schon.» «Das spielt keine Rolle!» rief die Riesin, mit vor Aufregung glühenden Wangen. «Ich zahle jeden Preis, wenn ich nur schlanker werde!» Die Geschwister unterdrückten ein Lachen und Benjamin sprach:
«Werte Dame! Wir werden euch ein Wundermittel reichen, welches die Pfunde nur so dahinschmelzen lässt. Sie werden staunen!» Die Riesin strahlte freudig und schaute erwartungsvoll zu, wie die vermeintlichen Händler mehrere Flaschen, eines grünlich gefärbten Gebräus, in eine grosse Schale kippten. Für den männlichen Riesen kippten Pia und Benjamin, ein eher gelblicher gefärbtes Gebräu, in eine andere Schale. So dass es aussah, als bekäme er etwas anderes als seine Gattin. Sie reichten nun jedem der Kolosse, eine der Schalen. Als Zyklopus fragte, was das denn alles koste, meinte Benjamin grossmütig. «Vorläufig nichts, ihr dürft das Gebräu zuerst testen. Über die Bezahlung sprechen wir später.» «Oh das ist aber nett!» freute sich der Riese und nahm arglos einen ersten, grossen Schluck, aus seiner Schale. Die Geschwister und die restlichen Anwesenden hielten kurz den Atem an und beobachteten aufgeregt, was weiter passieren würde.
«Nun?» frage Benjamin schliesslich an die Riesen gewandt, «fühlt ihr schon wie es wirkt?» Zyklopus neigte seinen Kopf leicht zur Seite und sprach: «Ja, ich habe wirklich das Gefühl, mein Sodbrennen ist etwas besser.» «Und ich fühle mich irgendwie schon etwas leichter!» freute sich seine Gemahlin. «Ich glaube, es wirkt tatsächlich!» Die Kinder und die Zwerge mussten sich zusammennehmen, damit sie nicht laut herauslachten. Doch sie beherrschten sich mit aller Macht.
«Irgendwie fühle ich mich plötzlich so… entspannt…» sprach der Riese schliesslich. «Das ist gut so!» meinte Benjamin «Setzt euch ruhig etwas hin!» «Ja… ich denke… das werde ich tun…» Zyklopus liess sich auf den Boden sinken. Kurz darauf tat seine Frau es ihm nach.
Eine lähmende Müdigkeit, brach auf einmal über die beiden herein, sie kippten zur Seite… und schliefen ein…